Erschriebenes Leben
„Surfiction“ hat Federman seinen Schreibstil getauft, jenes wilde Vermischen von Fakten und Fiktion, von Autobiographie und Münchhausiade – Ein Porträt des großen amerikanischen Avantgardisten von Frank Schorneck.
Die Menge grölt, sie hupt, sie schwenkt sieges- und überhaupt trunken Fahnen. Es ist Donnerstag, der 19. Juni 2008, die Deutsche Nationalmannschaft hat tatsächlich gegen Portugal gewonnen und steht im Halbfinale der Fußball-EM. Inmitten der Deutschlandfahnen ein leicht irritierter älterer Herr, der versucht sich gemeinsam mit seiner Frau einen Weg durch die Masse zu bahnen, den Weg von einer Lesung im Bochumer Schauspielhaus zu seinem ganz in der Nähe gelegenen Hotel. Wenn man seine Geschichte kennt, könnte man glauben, dass ihm die Situation unangenehm wäre. Erst vor kurzem wurde er 80, doch in seiner eigenen Zeitrechnung feiert er erst den 66. Geburtstag. Grund ist nicht Eitelkeit: Am 16. Juli 1942 stürmen französische Miliz und Gestapo die Pariser Wohnung der Familie Federman. Der vierzehnjährige Raymond wird von seiner Mutter in den Wandschrank gestoßen, bevor sie und ihre Töchter in die Arme der Häscher fallen und die Reise in den sicheren Tod antreten. Raymond verharrt im Schrank, allein mit der Dunkelheit in der muffigen Umarmung alter Mäntel, allein mit seiner Angst, irgendwann auch seinem Hunger. Es werden die schlimmsten Stunden seines Lebens – und dennoch wurde er an diesem Tag neu geboren. Dieses Erlebnis soll ihn nie wieder loslassen, sein gesamtes literarisches Schaffen kreist – in mehr oder weniger eng gezirkelten Bahnen – um diesen Schicksalsmoment.
Als einziges Mitglied seiner Familie überlebt Raymond Federman den Holocaust. Aus Paris führt ihn sein Weg aufs Land, er kann untertauchen bei einer Bauernfamilie, die keine Fragen nach seiner Herkunft oder Religion stellt. Die Erlebnisse dieser Jahre verarbeitet Federman viele Jahre später in dem Roman Return to manure, der in Kürze auch auf Deutsch erscheinen soll. Die Überfahrt nach Amerika, die Zeit in der US-Army als Fallschirmspringer im Korea-Krieg, sein Pendeln zwischen den Sprachen, die ersten Versuche als Schriftsteller usw., all das ist ausführlich erzählt in dem umfangreichen literarischen Werk von Raymond Federman. Doch Federman ist kein Mann der bloßen Autobiographie. Er entwickelt gerade in seinen jungen Jahren einen eigenen, radikalen Erzählstil: In seinem Romandebüt Double or Nothing, als Alles oder Nichts in der „Anderen Bibliothek“ vorzüglich ediert, bringt er das Schriftbild zum Tanzen. Vorwärts, rückwärts, seitwärts rasen die Wörter über die Seiten, Gedankensprünge und Geistesblitze finden ihre visuelle Entsprechung auf dem Papier. Fragt man Federman, worum es in dem Roman gehe, so ist die knappe Antwort „Um Nudeln“ die ebenso richtige wie unzureichende Replik. Der „Nudelroman“, wie Federman das Werk nennt, ist im Kern der innere Monolog eines jungen Mannes, der sich in einem Zimmer einschließt, um einen Roman zu schreiben. Seine Gedanken kreisen um den Verlust seiner Familie, aber auch um seine Berechnungen, wie lange seine finanziellen Mittel reichen mögen, wenn er sich in der nächsten Zeit nur noch von Nudeln ernährte. Neben den ungewöhnlichen grafischen Spielereien regiert hier ein mitreißender Humor, der auch von den Verweisen auf Holocaust und Flucht nicht gebrochen wird.
Virtuos verspielte „Laughterature“
Ähnlich furios kommt Federmans zweiter großer Wurf daher, das 1998 auf Deutsch bei Rogner & Bernhard erschienene Take it or leave it (das Original stammt aus dem Jahr 1976), ein literarisches Roadmovie in einem alten Buick quer durch Amerika, durch Zeit- und Erzählebenen. Auch wenn der Roman von einem erzählt, der davon erzählt, wie jemand eine Geschichte erzählt, wirkt diese Konstruktion nie aufgesetzt, bei allen poetologisch-theoretischen Einschüben nie manieriert, sondern liest sich in einem Fluss. Innerhalb der literarischen Form eines Romans spielt Federman gekonnt mit Genres und literarischen Motiven. Nur zwischen den Zeilen, aus dem humoristischen Hinterhalt, blitzt der Schrecken des Holocaust auch hier auf.
„Surfiction“ hat Federman seinen Schreibstil getauft, jenes wilde Vermischen von Fakten und Fiktion, von Autobiographie und Münchhausiade. „Laughterature“ ist eine weitere seiner Wortschöpfungen, mit der er auf das schelmenhafte Augenzwinkern hinter dem literarischen Anspruch verweist.
Wer das Glück hat, diesen Grandseigneur der amerikanischen Avantgarde persönlich kennen zu lernen, der merkt schnell, dass diesem Mann das Flunkern im Blut liegt. „Don’t believe a single word he says“, mahnt Erica, seit fast fünfzig Jahren die Frau an seiner Seite, und rollt mit den Augen, wenn Ray von seinen Glückssträhnen in Spielcasinos oder seiner Zeit als Fallschirmspringer fabuliert. Und man sieht ein spitzbübisches Funkeln in Federmans Augen, wenn er sich dafür rechtfertigt, bei der Lesung aus seinem neuesten deutschsprachigen Buch, Mein Körper in neun Teilen, entgegen ihrem ausdrücklichen Rat ausgerechnet das Kapitel über sein Geschlechtsteil vorgetragen zu haben: „He exaggerates“, ist ihr liebevoll-resignierter Kommentar. Erica scheint sich damit abgefunden zu haben, im Werk ihres Mannes ebenfalls als literarische Figur in Erscheinung zu treten – insbesondere in Return to manure, wo Federman von der Reise des Ehepaars an jenen Ort berichtet, an dem er rund sechzig Jahre zuvor ums Überleben gearbeitet hat. Nie gewinnt man den Eindruck, Federman könnte aus reiner Imponierlust und Angeberei erzählerisch über die Stränge schlagen. Wenn er beschreibt, wie Charlie Parker mit seinem, Rays, Saxophon ein Solo spielte – ein ungemein emotional aufgeladener Moment in Take it or Leave it –, oder wenn er seine Bekanntschaft mit Beckett oder Foucault in Nebensätzen anklingen lässt, dann will er sich damit nicht wichtig machen, sondern scheint beinahe selbst über sein bewegtes Leben zu staunen. Vor allem mit Beckett, der schon mal in seinem Werk liebevoll als „Sam“ zu Wort kommt, verband Federman eine enge Freundschaft, seitdem sich die beiden erstmals 1963 in Paris trafen. Federman erzählt eindrucksvoll von seiner Begegnung mit Becketts Werk und der langjährigen Verbundenheit in The Sam Book. Da ihn mit dem großen Iren auch das beständige Wandeln zwischen der französischen und der englischen Sprache verbindet, verwundert es nicht, dass er dieses Buch unter dem Titel Le Livre de Sam schrieb und 2006 zunächst in Frankreich veröffentlichte. Der französische Buchmarkt – auch diese Erfahrung hat Federman im Laufe seines Lebens machen müssen – ist weitaus offener für diese Art der komplexen Literatur als Amerika. Ausgerechnet in seiner Wahlheimat ist es für den Altmeister immer noch schwer, ambitionierte Verleger zu finden. Die englische Übersetzung – nicht von Federman selbst, sondern von Sharon Blackie – erschien in diesem Jahr in der schottischen Two Ravens Press. The Sam Book ist sicherlich ohne zu übertreiben das persönlichste Buch zu Samuel Beckett – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Federman darin offen über seine Bewunderung spricht und mit autobiographischen Details nicht spart. Neben Anekdoten, Auszügen aus Briefwechseln und Beckett gewidmeten Gedichten findet sich hier auch ein Interview mit Godot … Mit federmantypischem Augenzwinkern wird Beckett gleichermaßen als Mensch und Freund wie auch als Übervater und Idol dargestellt. Eine deutsche Übersetzung scheint bislang nicht in Vorbereitung zu sein.
In seinem neuen Titel Mein Körper in neun Teilen sucht Raymond Federman den literarischen Zugang zu seinem Schicksal über Äußerlichkeiten. Er berichtet vom Zwiegespräch mit seinen Zehen bei der Nagelpflege, lässt seine Narben sprechen und verknüpft weltgeschichtliche Ereignisse mit dem Ausfall seiner Haare. Federman kokettiert keck mit dem Älterwerden und allzumenschlichen Schwächen.
Man sieht und merkt Raymond Federman seine 80 Jahre nicht an. Mit einer gewissen Faszination blickt er auf die jubelnde, Fahnen und Flaschen schwenkende Menge, doch nichts in seiner Mimik deutet darauf hin, dass ihn, der mit jubelnden Deutschen wenige gute Erinnerungen verbindet, der Anblick ängstigen könnte. Seine zahlreichen Lesereisen in Deutschland, die Freundschaften, die er über die Jahre auch hier knüpfen konnte, lassen solche Gefühle nicht zu. Erica und er haben nun bald ihr Hotel erreicht, das Art Hotel Tucholsky mitten im Bochumer „Bermuda3eck“, das sich in dieser Nacht im EM-Ausnahmezustand befindet. Die Nacht wird unruhig werden. Am nächsten Tag geht es weiter nach Köln – mit ein bisschen Glück ist das Hotel dort ruhiger gelegen, wenn die türkischen Fans zum Autokorso rufen …
Frank Schorneck
Eine Auswahl von Raymond Federmans Büchern:
Alles oder nichts (Double or Nothing, 1971 ). Deutsch von Peter Torberg. Die andere Bibliothek. Greno. 292 Seiten.
Take it or leave it: eine übertriebene Geschichte aus zweiter Hand, im Stehen oder Sitzen laut zu lesen. (Take it or leave it, 1976). Deutsch von Peter Torberg. Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins1998.
Mein Körper in neun Teilen (My Body in Nine Parts, 2005). Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg. Matthes & Seitz 2008. 125 Seiten. 14,80 Euro.
Raymond Federman: Return to manure. Fiction Collective 2. 2008 Seiten.
Le Livre de Sam (2006). Editions Al Dante. 177 Seiten.