Casino
– Isabel Bogdan begibt sich für CULTurMAG ins Handgemenge mit den Dingen und probiert skurrile, abseitige und ganz normale Sachen aus. Diesmal war sie spielen.
Wenn ich erzähle, was ich vorhabe, fragen alle als Erstes, was ich anziehe, ob ich überhaupt was anzuziehen habe, ob ich ein Ballkleid besitze. Ich besitze kein Ballkleid, das braucht man aber auch gar nicht. Es ist vielmehr vollkommen egal, was man anhat, vorausgesetzt, man ist eine Frau. Als Mann muss man ein Jackett tragen, notfalls kann man für fünf Euro eins ausleihen. Als wir unsere Jacken abgeben, zieht gerade jemand so ein Leihjackett an und gleich wieder aus. Ob er bitte ein anderes haben könne, dieses rieche doch zu sehr nach Angstschweiß. Die Garderobiere verdreht die Augen.
Wir bezahlen unseren Eintritt von zwei Euro und unsere Ausweise werden kontrolliert. Nein, wir sind nicht gesperrt, wir dürfen ins Casino. Wir sind zu viert: Schorsch, der gelegentlich hierher kommt und heute Abend unser Leithammel sein soll, Nicole, Inka und ich, die wir alle zum ersten Mal hier sind. Wir nehmen uns kleine Heftchen mit, in denen steht, wie Roulette und Black Jack funktionieren, und dann holen wir uns erst mal etwas zu trinken und sehen uns um.
Schorsch erklärt uns Roulette. Wir schauen parallel in das Heftchen und an die Spieltische, kapieren in groben Zügen, unterhalten uns nebenbei und lachen sogar manchmal. Das ist hier sonst eher unüblich. Die meisten scheinen allein hier zu sein, höchstens zu zweit, man redet nur das Nötigste, und uns wird schnell klar: Die sind alle nicht zum Spaß hier. Alle sind konzentriert und zutiefst ernst, bis auf einen großen, blonden Herrn, der wie eine Flipperkugel von einem Roulettetisch zum anderen flitzt und an vier Tischen gleichzeitig spielt. Man möchte gar nicht wissen, welche Drogen da noch im Spiel sind, mit Adrenalin allein dürfte das kaum zu schaffen sein.
„Dann fangen Sie doch erst mal mit zwanzig Euro an“, sagt die Dame an der Kasse, wo man Geld in Jetons umtauscht, „das genügt für den Anfang.“ Ich hatte mir zwar vorgenommen, einfach mal hundert Euro auf den Kopf zu hauen, aber gut, wenn sie meint, zwanzig reichen, dann reichen zwanzig ja. Ich bin so ekelhaft brav und vernünftig. Ein Jeton ist zwei Euro wert, wir gehen mit unseren kleinen Stäpelchen von zehn Jetons an einen Roulettetisch. Dort sitzt eine alte Dame, die akribisch alles mitschreibt. Was hat sie vor, ein System herausfinden? Wahrscheinlichkeiten errechnen?
Inka verkündet, sie hasse es übrigens zu verlieren, käme damit nicht gut zurecht, schon bei Mau-Mau nicht, und werde, falls sie verliert, umgehend schlechte Laune bekommen. Wir beschließen, dass sie gewinnen soll, sie hat schon überzeugend von ihrem Scheißtag erzählt. Ich gucke noch ein Spiel lang zu, dann setze ich todesmutig einen Jeton irgendwohin. Schorsch schiebt dem Croupier vier Jetons hin und sagt „ein Zero-Spiel bitte“, sehr professionell wirkt das, ich bin beeindruckt und frage, was das bedeutet. Der Croupier ist sehr nett und erklärt alles, währenddessen bleibt die Kugel auf irgendeiner Zahl liegen, und mein Jeton ist weg. Beim nächsten Spiel setze ich in einer Anwandlung von Tollkühnheit glatt noch einen zweiten Jeton irgendwohin, die sind dann auch beide weg. Roulette ist doof.
Inka gewinnt. Mein Häufchen wird kleiner, ihres größer, ich setze mehr Jetons, und auf einmal gewinne ich, und zwar gleich mehrere Jetons auf einmal. Ich freue mich und kann es gar nicht fassen, gewonnen!, und hüpfe ein bisschen herum, der Croupier amüsiert sich. Die alte Dame scheint uns immerhin auch freundlich gesinnt, sagt aber keinen Ton. Alle anderen verscheuchen wir früher oder später mit unserem Gekicher und Gerede und unseren dummen Fragen. Insgesamt füllt der Saal sich langsam, inzwischen rotieren mehrere Spieler durch den Raum und spielen an vier Tischen gleichzeitig. Keine Ahnung, wie sie da den Überblick behalten. Huch, schon wieder gewonnen. Inka hat schon wieder verloren. Ich entschuldige mich bei ihr. Die alte Dame schreibt mit, und ich stelle Überlegungen über Wahrscheinlichkeitsrechnung an, ich habe keine Ahnung von Mathematik, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch bei jedem neuen Spiel dieselbe, oder? Also, auch wenn schon viermal hintereinander die 17 gefallen ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass beim nächsten Spiel die 17 fällt, trotzdem wieder genauso hoch wie immer, nämlich 1:36, oder? Die ganze Mitschreiberei also Kokolores? Mir fällt Achim Reichel ein, „er setzt alles auf die siebzehn … und … siebzehn fällt!“ Wir wollen nach diesem Spiel eine Pause machen, aber erst mal setze ich, nun ja, natürlich nicht alles auf die Siebzehn, ich feiges Stück, sondern einen Jeton auf eine Ecke der Siebzehn … und … Siebzehn fällt!
Inka hat fast alles verloren. Ein herrlich dramatischer Satz, wenn „alles“ zwanzig Euro sind. Ich hingegen zähle vollkommen verdattert meine Jetons: 35 Stück. Siebzig Euro. Ich hatte doch nur zwanzig umgetauscht! Ich habe in einer Dreiviertelstunde meinen Einsatz verdreieinhalbfacht und finde Roulette eigentlich ganz cool. Nur mich selbst, mich finde ich uncool. Hätte ich mal hundert Euro umgetauscht! Dann hätte ich jetzt … äh, nee, Moment, da muss irgendwo ein Denkfehler stecken.
Wir trinken noch etwas, Schorsch und Nicole haben ein bisschen gewonnen oder verloren, Inka ist geknickt und geht noch einmal für zwanzig Euro Jetons eintauschen, und ich kann es gar nicht fassen. Glück im Spiel war doch noch nie meine Stärke. Ich stecke fünfundzwanzig Jetons in meine Handtasche, fünfzig Euro, und beschließe, sie nicht mehr anzurühren und die zweite Runde wieder mit zwanzig Euro zu beginnen.
Eine Ecke des Saals ist abgetrennt, dort sitzen finstre Männer in dunklen Anzügen um Tische. Die Pokerecke. Irgendjemand raunt, da dürfe man nur nach Voranmeldung oder sogar nur auf Einladung rein – irgendwie schwappt aus dem Teil des Raums auch so ein Mafiagefühl, dass man gar nicht näher rangehen und zugucken möchte. (Habe ich schon erwähnt, dass ich feige bin? Mal ehrlich, was soll da schon sein?)
In der zweiten Runde wollen wir Black Jack spielen, das kann Schorsch auch nicht, keiner von uns kann es. Ein Tisch ist voll, am anderen sitzt nur eine Koreanerin, Schorsch und ich setzen uns dazu und fragen höflich an, ob wir zugucken dürften. Auch dieser Croupier ist sehr nett und klärt uns als Erstes auf, dass hier gar nicht Black Jack gespielt wird, sondern Ultimate Texas Hold’em. Das ist eine Art Poker gegen die Bank, er erklärt uns alles genau, redet aber dermaßen wirr, dass wir kein Wort verstehen. Irgendwann haben wir immerhin begriffen, ob die Koreanerin oder die Bank gewonnen hat, aber was sie wann wie setzt und warum sie wann wie viel gewinnt, ist uns vollkommen schleierhaft. Wir kehren daher an den Roulettetisch zurück, wo Inka schon wieder verliert und die alte Dame immer noch mitschreibt. Einige neue Leute spielen mit unglaublichen Mengen an Jetons in allen möglichen Farben und Wertigkeiten. Ich lege ein paar Jetons irgendwohin und passe gar nicht richtig auf, was mit ihnen passiert, weil ich stattdessen fasziniert zuschaue, wie Leute innerhalb kürzester Zeit hunderte von Euro verspielen und nicht mal mit der Wimper zucken.
Und ratzfatz habe ich auch verspielt, nämlich meine zweiten zwanzig Euro. Den letzten Jeton lege ich noch einmal auf die Siebzehn, diesmal wirklich drauf, hoho! Verwegen! Es kommt irgendeine andere Zahl und nichts geht mehr, meine zweite Runde Spielgeld ist alle. Ich tausche die fünfzig Euro ein, die ich noch in Jetons in der Handtasche habe und die am Anfang des Abends noch zwanzig Euro waren. Insgesamt habe ich meinen Einsatz verzweieinhalbfacht, prozentual ist das natürlich super, in ganzen Zahlen macht es einen Gewinn von dreißig Euro. Nun ja, immerhin. Inka hat vierzig Euro verspielt, Schorsch hat ein bisschen verloren, Nicole ein bisschen gewonnen, beide nicht viel. Inka bleibt tapfer, wir merken nicht, dass sie etwa schlecht gelaunt wäre. Dazu war der Abend auch insgesamt zu nett, wir haben reichlich gelacht, meist auf Kosten der anderen Spieler, die offenbar keinen netten Abend hatten. Und für die Zukunft nehme ich mir vor, nicht immer so artig und vernünftig zu sein und bei nächster Gelegenheit mal was zu riskieren. Wenn auch nicht unbedingt im Casino.
Isabel Bogdan
Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u. a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zur Webseite von Isabel Bogdan.