
Verbundenheit in reinster Form
Kapitel Zehn: Schlaf – aus Nan Shepherds Klassiker „Der lebende Berg“
Erst kurz vor ihrem Tod veröffentlichte die schottische Schriftstellerin Nan (Anna) Shepherd, 1893 in Peterculter geboren und 1981 in Aberdeen gestorben, im Jahr 1977 ihr vielleicht wichtiges Buch: das Kondensat jahrzehntelanger Berggänge in die schottischen Cairngorm Mountains – Titel: „Der lebende Berg“ -, bereits während des Zweiten Weltkriegs geschrieben und eines der schönsten und aufwühlendesten Bücher, das es über die Berge gibt. Hier ein Auszug:
Nun, ich habe mein Gebirge erkundet – sein Wetter, seine Luft und sein Licht, seine singenden Bäche, seine verwunschenen Täler, seine Felsspitzen und Bergseen, seine Vögel und Blumen, seinen Schnee, seine blauen Weiten. Jahr für Jahr wurden mir alle diese Dinge immer vertrauter. Doch wenn es darum geht, ihre ganze Wahrheit zu verkünden, so wie ich sie erfahren habe, dann muss ich mich miteinbeziehen. Ich selbst war das Instrument meiner Entdeckungen, und die Register des Instrumentes zu beherrschen, muss man ebenfalls lernen. Somit müssen die Sinne geübt und diszipliniert werden, das Auge zu schauen, das Ohr zu hören, der Körper muss trainiert werden, sich harmonisch zu bewegen. Ich kann meinem Körper viele Fertigkeiten beibringen, mit denen sich das Wesen des Berges erfahren lässt. Eine der unabdingbarsten ist die Fähigkeit, zur Ruhe zu kommen.
Niemand kennt die Berge völlig, der nicht auf ihnen geschlafen hat. Wenn man in den Schlaf hinübergleitet, wird der Geist durchsichtig wie Wasser, der Körper löst sich auf, nur die Sinneswahrnehmung bleibt noch. Man denkt nicht, man empfindet kein Verlangen noch erinnert man sich, sondern weilt in reiner Verbundenheit mit der greifbaren Welt.
Diese Augenblicke stillen Wahrnehmens kurz vor dem Einschlafen zählen zu den lohnendsten des Tages. Ich bin nicht länger mit anderem beschäftigt, nichts legt sich zwischen mich und die Erde und den Himmel. Um die Sommersonnenwende herum leuchtet der Nordhimmel noch lange nach Mitternacht hell. Ich schaue zu, wie das Licht sich um die Ränder der Formen ergießt, die vor dem Himmel stehen, und sie schärft, bis die schmaleren von ihnen wie von leuchtender Substanzlosigkeit wirken, als ob sie selbst nichts als Licht wären. Oben auf dem Plateau hält sich das Licht bis unglaublich weit in die Nacht hinein, noch lange, nachdem es den Rest der Welt schon verlassen hat. Es anzuschauen, lässt den Geist erglühen, und sein Leuchten brennt zu tiefem und ruhigem Schlaf nieder.
Auch am Tag zu schlafen tut gut. Nach frühem Aufbruch in der Hitze des Tages bei voller Helligkeit auf den Gipfeln zu liegen und vor sich hin zu dösen, gehört zu den süßesten Annehmlichkeiten des Lebens. Denn auf den Bergen einzuschlafen zieht als köstliche Folge das Aufwachen nach sich. Aus der Leere des Schlafes aufzutauchen, seine Augen zu öffnen und verwundert Fels und Schlucht zu erblicken, weil man vergessen hatte, wo man ist, bedeutet, ein ursprüngliches Erstaunen zurückzugewinnen, das man nicht oft genießen kann. Ich weiß nicht, ob das eine allgemeine Erfahrung ist (in meinem normalen Schlaf mache ich sie kaum), aber wenn ich draußen einschlafe, vielleicht weil der Schlaf unter freiem Himmel tiefer als sonst ist, erwache ich mit einem leeren Geist. Das Bewusstsein, wo ich bin, kehrt schnell zurück, doch einen erschreckten Moment lang habe ich auf einen vertrauten Ort geblickt, als hätte ich ihn nie zuvor gesehen.
Ein solcher Schlaf mag nur ein paar Minuten dauern, ja selbst eine einzige Minute erfüllt diesen Zweck der geistigen Entkopplung. Es wäre nicht mehr als reine Phantasie, anzunehmen, dass irgendein Geist oder eine Ausstrahlung des Berges die Absicht hätte, mein Bewusstsein solcherart von mir abzuziehen, um sich selbst einem nackten Auffassungsvermögen offenbaren zu können, das auf andere Weise schwer zu erreichen ist. Ich schreibe dem Berg kein Empfinden zu, und trotzdem bin ich zu keinem anderen Augenblick so tief in sein Leben versunken. Ich muss mich selbst loslassen. Diese Erfahrung ist besonders kostbar, weil sie unmöglich willkürlich herbeigeführt werden kann.

Ein Aufbruch um 4 Uhr morgens lässt einem viel Zeit für diese Stunden der Ruhe, und vielleicht des Schlafs, auf den Gipfeln. Der Körper wird geschmeidig vom fortgesetzten Rhythmus des Aufsteigens und entspannt sich im Wohlgefühl, das dem Essen folgt. Man ist so ruhig wie die Steine, tief verwurzelt in der eigenen Unbeweglichkeit. Der Boden ist nicht länger Teil der Erde. Wenn der Schlaf in einem solchen Moment kommt, ist sein Eintreten eine so natürliche Bewegung wie der Tageslauf. Und danach – verlässt man wieder das Dasein eines Steins, das des Erdbodens, und öffnet zu menschlicher Erkenntnis fähige Augen, blickt auf das, von dem man eben noch so sehr Teil war. Das ist alles. Man war dort.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes & Seitz aus:
- Nan Shepherd: Der lebende Berg. Eine Huldigung der Cairngorms. Mit einer Einführung von Robert Macfarlane (The Living Mountain – A Celebration of the Cairngorm Mountains of Scotland, 1977). Aus dem Englischen von Judith Zander. Reihe Naturkunden, Band 37. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 184 Seiten, Broschur, 20 Euro.