Ein Comic wie ein Schoßgebet
– „Eine zu 95% wahre Lebensgeschichte“ ist der Untertitel zu „Irgendwie Dazwischen“ von Tracy White. Die Graphic Novel erzählt die Geschichte der Depression der 17-jährigen Stacy Black, von ihrem Zusammenbruch und dem Aufenthalt in einer Klinik. Von Tom Thelen.
Der Komplex des Authentischen ist für Rezipienten ästhetischer Produkte immer schwer zu bewältigen. Die vermeintlich direkte Abbildung des Lebens der Künstler hat höchst ambivalente Folgen: Es entsteht Voyeurismus, der gleichzeitig Lust und Peinlichkeit zur Folge hat. Es wird womöglich Bewunderung evoziert, ob der Kraft oder des außergewöhnlichen Schicksals. Andererseits vielleicht auch Ablehnung, weil man Exhibitionismus mit Exzentrik gleichsetzt. Rein subjektiv manchmal gar Verdammung, weil man so sozialisiert wurde, dass man Rock-Opas, denen der Begriff „authentisch“ zu einem Fetisch wurde, um wahre und gute handgemachte Musik zum Gipfel künstlerischen Ausdrucks zu erheben, immer schon für stark kurzsichtig und etwas starrsinnig hielt.
Aus all diesen Gründen sorgen Kunstwerke, bei denen das Attribut „authentisch“ mitschwingt, gerne für Debatten, für Skandale, für Aufsehen. Ob es sich dabei um Schoßgebete, Krebskrankheitsberichte, Lebensbeichten oder Körperperformances ging.
Whites Comic ist nach allem, was man wissen kann, was in knapper Zeit recherchierbar ist, eine wahre Geschichte. Ihr souveränes Wissen um die Ambivalenz des Begriffs drückt sich aus in eben jenen 5 Prozent aus, die – laut Untertitel – zur 100-prozentigen Wahrheit fehlen.
Was das Buch aber definitiv ist: ihre Geschichte. Und sie ist grandios umgesetzt. In kargen schwarz-weiß Zeichnungen erschafft sie die Welt ihres Protagonisten-Ichs mit dem sprechenden Namen Stacy Black, lässt Krankenakten in emotionslos-medizinischem Vokabular zu Wort kommen und erlaubt Freundinnen regelmäßig eine Art Außensicht auf Stacy zu liefern. Das hat Struktur, das gibt dem Werk Form.
Selbstironie als Therapieform
Ihr Strich dagegen ist äußerst fragil, überraschend rund, besondere zeichnerische Virtuosität wird keine ausgestellt. Wenige Details und die ausdrucksstarke Mimik ihrer Figuren reichen. Statt Detailfülle setzt sie auf Beobachtungen und Humor. Dieser Humor, durchsetzt mit viel Selbstironie, macht auf einer anderen Lektüreebene deutlich, dass die Arbeit an dieser Geschichte auch Therapie bedeutet haben muss. Denn die Erzählerin White ist stets einen kleinen Schritt weiter, als das von ihr geschaffene „kranke“ Mädchen Black.
„Irgendwie Dazwischen“ erlaubt somit dem Leser einen Blick auf, eine Annäherung an psychische Erkrankungen zwischen Magersucht und Borderline und an die vielförmigen Formen des Leidens daran. Einen Blick, der – und das ist die Leistung von White – fast nichts verlangt vom Leser. Eine Geschichte, die nicht um Mitleid heischt, nicht sagt: „seht her“, sondern schlicht schildert, was es bedeutet, „krank“ zu sein und nicht zu wissen, warum.
Tracy White und Stacy Black sind Herausforderungen begegnet, die den meisten Menschen in dieser Drastik zum Glück nicht widerfahren. Diese Graphic Novel erzählt davon unaufgeregt, was aber nicht bedeutet, dass die visuelle Umsetzung nicht aufregend wäre. Da gelingen hübsche miteinander verbundene Panels, interessante Perspektiven und überhaupt ein souveräner Umgang mit den Möglichkeiten des Genres.
Der schon im März erschienene Band kann durchaus auch parallel zu Charlotte Roches „Schoßgebete“ (siehe CULTurMag-Rezension vom 17.8.11) gelesen werden. Zwei Therapien, zwei Frauen, zwei sehr individuell umgesetzte Geschichten vom Umgang mit Gespenstern im Kopf.
Tom Thelen
Tracy White: Irgendwie Dazwischen. Eine zu 95 Prozent wahre Lebensgeschichte. Aus dem Englischen von Marion Hertle. Wald + Grafe 2011. 152 Seiten. Gebunden. 18,95 Euro. Mehr Informationen zum Buch, Leseprobe etc finden Sie hier und zur lustigen Homepage der Autorin geht es hier.