Geschrieben am 8. Dezember 2018 von für Litmag, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

Viet Thanh Nguyen „Die Geflüchteten“

Die Gefluechteten von Viet Thanh Nguyen

»Mein Name ist Sa. Ich bin deine Frau.« 

Der September kam und ging. Der Oktober ging, und die Santa-Ana-Winde kamen. Sie rauschten mit der Wucht der Autos auf dem Freeway in östlicher Richtung von den Bergen herunter und knickten die Halme des Papyrus um, den Mrs. Khanh in Keramiktöpfe neben dem Spalier gepflanzt hatte. Sie erlaubte dem Professor jetzt nicht mehr, seine nachmittäglichen Spaziergänge alleine zu unternehmen. Stattdessen folgte sie ihm diskret im Abstand von fünf, sechs Metern, wobei sie sich wegen des Windes den Hut auf den Kopf drückte. Wenn der Santa Ana sich gelegt hatte, saßen sie zusammen auf der Veranda und lasen. In den letzten Monaten hatte es sich der Professor angewöhnt, langsam und laut zu lesen. Es kam ihr vor, als lese er mit jedem Tag lauter und langsamer. Dann, eines Nachmittags im November, hielt er mitten im Satz so lange inne, dass die Stille Mrs. Khanh aus der Lektüre des neuesten Liebesromans von Quynh Dao riss.
»Was ist?«, fragte sie und klappte ihr Buch zu.
»Ich versuche seit fünf Minuten, diesen Satz zu lesen«, sagte der Professor und starrte auf die Seite. Als er aufschaute, sah sie Tränen in seinen Augen. »Ich verliere den Verstand, oder?«
Von da an las sie ihm vor, wann immer sie Zeit hatte, aus Büchern zu wissenschaftlichen Themen, die sie nicht im Geringsten interessierten. Sie hörte auf zu lesen, wenn er sich an etwas erinnerte und zu erzählen begann – von seiner Angst beim ersten Treffen mit ihrem Vater, während sie in der Küche darauf wartete, ihm vorgestellt zu werden; von ihrem Hochzeitstag, als er wegen der Hitze und der engen Krawatte fast ohnmächtig geworden wäre; oder von dem Tag vor drei Jahren, als sie nach Saigon gereist waren, um ihr altes Haus in der Straße Phan Thanh Gian zu besuchen, die sie zunächst nicht hatten finden können, weil die Straße in Dien Bien Phu umbenannt worden war. Mit den neuen Herrschern hatte auch Saigon einen neuen Namen bekommen, aber der Professor und Mrs. Khanh konnten sich nicht überwinden, es Ho-Chi-Minh-Stadt zu nennen. Dem Taxifahrer, der sie vom Hotel zu ihrem alten Haus fuhr, erging es genauso, obwohl er zu jung war, um sich noch an die Zeit zu erinnern, als die Stadt offiziell Saigon geheißen hatte.

Sie parkten zwei Häuser vor ihrem alten Haus und blieben im Taxi sitzen, um nicht den revolutionären Kadern aus dem Norden zu begegnen, die nach der kommunistischen Machtübernahme dort eingezogen waren. Sie wurden von Trauer und Zorn fast überwältigt und fragten sich, wer diese Fremden waren, die ihr Haus so verwahrlosen ließen. Die einzige Laterne in der Gasse beleuchtete die Rostschlieren an den Wänden, die der Monsunregen vom Eisengitter der Veranda heruntergespült hatte. Die Wischerblätter des Taxis quietschten über die Windschutzscheibe, und ein Masseur, der zu einem späten Hausbesuch unterwegs war, fuhr auf dem Fahrrad vorbei und tat seine Profession kund, indem er eine mit Kieselsteinen gefüllte Glasflasche schüttelte.
»Das ist das einsamste Geräusch auf der Welt«, sagte der Professor. »Hast du mal zu mir gesagt.«
Bevor er anfing zu reden, hatte sie ihm aus einer Charles- de-Gaulle-Biografie vorgelesen, und ihr Finger lag immer noch auf dem Wort, das sie als letztes gelesen hatte. Sie dachte nicht gern über ihr verlorenes Zuhause nach, und sie konnte sich nicht erinnern, etwas in der Art geäußert zu haben. »Die Scheibenwischer oder die Glasflasche?«, fragte sie.
»Die Flasche.«
»Das kam mir eben damals so vor«, log sie. »Ich hatte dieses Geräusch seit Jahren nicht mehr gehört.«
»Wir haben es oft gehört. In Da Lat.« Der Professor nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Taschentuch. Er war einmal allein zu einer Konferenz in einem Ferienort in den Bergen von Da Lat gefahren. Sie war schwanger gewesen und in Saigon geblieben. »Abends wolltest du deine Eiscreme immer im Freien essen«, fuhr der Professor fort. »Ist aber ziemlich schwierig, in den Tropen Eis zu essen, Yen. Es bleibt einem keine Zeit, es zu genießen. Außer man hat eine Klima- anlage und bleibt im Haus.«
»Von Milchprodukten bekommst du Verdauungsstörungen.«
»Wenn man Eis aus einer Schale isst, zerfließt es schnell zu Suppe. Und aus der Waffel läuft einem das Eis über die Hand.« Als er sich lächelnd zu ihr umdrehte, entdeckte sie gallertartige Schleimpfropfen in seinen Augenwinkeln. »Du hast sie geliebt, diese braunen Zuckerwaffeln, Yen. Du hast darauf bestanden, dass ich deine Waffel halte, damit deine Hand nicht klebrig wird.«
Eine Brise strich durch die Bougainvilleen. Möglicherweise ein erstes Anzeichen für den wieder auffrischenden Santa-Ana-Wind. Sie erschrak vor dem Klang ihrer eigenen Stimme genauso wie vor dem Anblick des Professors, der sie mit offenem Mund anstarrte, als sie sagte: »Das ist nicht mein Name. Wer auch immer sie ist, ich bin nicht diese Frau. Falls sie überhaupt existiert.«
»Oh?« Der Professor schloss langsam den Mund und setzte sich die Brille wieder auf. »Du heißt nicht Yen?«
»Nein«, sagte sie.
»Wie dann?«
Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte bloß Angst davor gehabt, von ihm mit dem falschen Namen angesprochen zu werden. Sie benutzten nur selten ihre richtigen Namen und zogen Zärtlichkeiten wie Anh für ihn oder Em für sie vor, und wenn sie vor den Kindern miteinander sprachen, dann sagten sie Ba und Ma. Normalerweise hörte sie ihren Vornamen nur aus dem Mund von Freunden, Verwandten oder Beamten oder wenn sie sich jemand Fremden vorstellte – was sie in gewissem Sinn ja jetzt auch tat.

»Mein Name ist Sa«, sagte sie. »Ich bin deine Frau.« 
»Richtig.« Der Professor leckte sich die Lippen und zog sein Notizbuch hervor.
An jenem Abend im Bett wartete sie, bis er gleichmäßig atmete, knipste dann die Nachttischlampe an und griff über seinen Körper hinweg zu dem Notizbuch, das neben dem Wecker lag. Seine Handschrift war zu einem solchen Gekritzel verkümmert, dass sie sich zweimal durch die gezackten, spitzen Buchstaben lesen musste, bis sie schließlich am eselsohrigen Seitenende das Folgende entzifferte: Lage verschlimmert sich. Hat heute behauptet, dass ich sie mit einem anderen Namen anspreche. Muss sie genauer im Auge behalten – an dieser Stelle leckte sie sich den Finger und blätterte um – möglicherweise weiß sie nicht mehr weiß, wer sie ist. Sie schlug das Buch unvermittelt zu, aber der zusammengerollt auf der Seite liegende Professor rührte sich nicht. Schweiß- und Schwefelgeruch drangen unter der Bettdecke hervor. Wären nicht der ruhige Atem und die Wärme seines Körpers gewesen, hätte er auch tot sein können. Einen Augenblick lang, so flüchtig wie ein Déjà-vu-Erlebnis, wünschte sie, er wäre es wirklich.

 

Auszug aus der Erzählung „I’d love you to want me“ – mit freundlicher Erlaubnis von Verlag und Autor.

Viet Thanh Nguyen: Die Geflüchteten (The Refugees, 2017). Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller. Blessing Verlag, München 2018. 224 Seiten, 22 Euro. Internetpräsenz des

Der Sympathisant von Viet Thanh NguyenCrimeMag-Lesern ist Viet Thanh Nguyen kein Unbekannter. Seine Texte erschienen bei uns bereits bevor seine Bücher übersetzt wurden. Viet Thanh Nguyen, 1971 in Südvietnam geboren, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California in Los Angeles. Für sein Romandebüt, den internationalen Bestseller Der Sympathisant (Blessing 2017, exklusiver CulturMag-Textauszug hier), erhielt er 2016 den Pulitzer-Preis und den Edgar Award. Seine Texte bei uns hier. Über sich selbst als Flüchtling, der eine Heimat verlor und eine neue fand, die er sich wieder und wieder erarbeitet – hierzu auch sein Buch „Nothing Ever Dies. Vietnam and the Memory of War“ – schrieb er bei uns in „I am a refugee“. Seine informative und vielgestaltige Internetpräsenz hier.

Viet-Thanh-Nguyen-9780802126399„Ich habe dieses Buch für die Geister geschrieben, die, weil sie außerhalb der Zeit stehen, die Einzigen sind, die Zeit haben“, zitiert das Motto Roberto Bolano. „Die Geflüchteten“ versammelt acht Erzählungen, angesiedelt in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Sie handeln von Menschen, die in den Monaten und Jahren nach dem Fall von Saigon aus Vietnam geflüchtet sind und versuchen, in den USA eine neue Heimat zu finden. In der Erzählung „I’d love you to want me“ beginnt ein Physikprofessor mit Demenz im Frühstadium, seine Frau mit einer Geliebten aus der alten Heimat zu verwechseln. In einer anderen besucht eine junge Frau ihre Halbgeschwister in Ho-Chi-Minh-Stadt und gibt vor im Einwanderungsland Amerika erfolgreicher zu sein, als sie eigentlich ist. Ein junger vietnamesischer Geflüchteter gerät in den späten Siebzigerjahren in eine Schwulen-WG in San Francisco und erleidet einen profunden Kulturschock. Die stilistisch brillanten und scharfkantigen Erzählungen leuchten die Sehnsüchte jener aus, die ihr Herkunftsland verlassen müssen, um woanders neu anzufangen. Sie alle haben Verlust(e) erlitten, sie leben zwischen zwei Welten, erfahren Hoffnungen und Härten, wünschen sich Heimat und Selbstverwirklichung. Es sind acht Erzählungen der universellen Erfahrung von Verlust, Flucht, Vertreibung und der Suche nach der eigenen Identität. – d.Red.

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