Geschrieben am 28. Januar 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Wolfram Schüttes Petits riens (VIII)

homesmanPetits riens (VIII)

–Wolfram Schütte über den außergewöhnlichen Autor & Mensch Fritz Rudolf Fries; Tommy Lee Jones‘ Film „Homesman“, der der Western-Mythologie einige bisher nicht gesehene Szenen hinzufügt; die hohe Zahl der bei Drohnentötungen mit in den Tod gerissenen Unschuldigen (und die Reaktionen der deutschen Presse auf dieses offensichtliche und skandalöse Missverhältnis); und über die winzigen Alltags-Metaphysiken, die bei einem ersten Klassentreffen nach Jahrzehnten zu erleben sind.

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Der große Unbekannte – Fritz Rudolf Fries, der kürzlich im Alter von 79 Jahren gestorben ist, war ein außergewöhnlicher Mensch & Autor. Extrem kleinwüchsig, machte der als Sohn einer spanischen Mutter 1935 in Bilbao Geborene öffentlich nichts von sich her. Mied er die Öffentlichkeit, weil er dem näher war, was man früher „Liliputaner“ genannt hatte? Ich habe ihn nie persönlich gesehen oder gar kennengelernt, so viele Ex-DDR-Autoren ich auch als Literaturkritiker im Laufe der Jahre getroffen habe. FRF aber kannte & schätzte ich nur durch seine Bücher & die gemeinsame Liebe zu dem großen Argentinier Julio Cortázar, dessen grandiosen Roman „Rayuela“ (neben anderen Erzählungen) Fritz Rudolf Fries übersetzt hatte.

Mit dem in Brüssel geborenen, in Buenos Aires aufgewachsenen, mit dem Beginn des Peronismus nach Paris emigrierten argentinischen Autor (der physisch so übergroß wie Fries überklein war) verband ihn literarisch-geistig Vieles. Vor allem der Jazz, die Lust am literarischen Spiel & dessen Humor oder die Mehrsprachigkeit. FRF war unter den deutschsprachigen Autoren ein Singulär; nicht nur in der DDR-Literatur ein „Exot“, der (anfänglich als Sekretär der DDR-Akademie der Wissenschaften) mehr mit der Aufklärung & dem klandestinen Witz der Subversiven zu tun hatte als mit der realistischen Realitätsreproduktionsprosa, an der sich die DDR-Autoren abarbeiteten. Von allen DDR-Autoren hat er jedoch den höchsten Preis dafür bezahlt, dass sein großes literarisches Debüt –der autobiographisch unterfütterte Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ – 1966 in der BRD bei Suhrkamp erschien, obgleich er im letzten Moment den westdeutschen Verlag gebeten hatte, das Erscheinen zu stornieren, weil er keine Druckerlaubnis von den DDR-Behörden erhalten hatte. Weil Suhrkamp-Cheflektor Walther Boehlich dem verzweifelten Wunsch des DDR-Autors nicht entsprach, verlor FRF seinen Arbeitsplatz bei der Akademie. Der Meister-Schüler von Werner Kraus & Hans Mayer hielt sich erst einmal mit Übersetzungen & Kinderbüchern finanziell über Wasser.

Natürlich stand er danach unter verschärften Überwachung durch die Stasi. Ich erinnere mich noch gut, wie dann seine sowohl in der DDR wie der BRD erschienene Erzählungen „Der Fernsehkrieg“ von der westdeutschen Kritik triumphalistisch als Zeugnis seiner Unterwerfung verrissen wurden. Dabei ist dem kleinen Menschen, der ein großer Schriftsteller war, dann doch das Kunststück gelungen, mit seinen reifen Romanen („Alexanders neue Welten“ & „Verlegung eins mittleren Reiches“) unter den Augen der Stasi die freieste, raffinierteste, phantasievollste & artifiziell-subversivste Romanprosa der gesamten DDR-Literatur zu schreiben & zu publizieren!

Ich erinnere noch, dass deren Rezension einen vor schwerwiegende Probleme stellte. Wie sollte man sowohl dem westdeutschen Leser wie dem tollkühnen Autor signalisieren, dass man ihn & seine Kritik „verstanden“ hatte, ohne ihm automatisch die natürlich in der „Westpresse“ mitlesende Stasi auf den Hals zu hetzen? Ein Problem, das bei der Rezension mancher DDR-Literatur auftrat, aber nie so nachhaltig Besorgnis erregend wie bei Fries. Der war aber so geschickt & virtuos, mit der Stasi in einem modus vivendi zu leben, sie gewissermaßen im Haus zu haben & sie dadurch zu überlisten. Natürlich wusste glücklicherweise keiner von der listigen Camouflage des FRF.

Fries & die sinnenfrohe „emanzipatorische Trobadora“ Irmtraud Morgner waren die weltläufigen Phantasten der DDR-Prosa. Während die Morgner von ihrem zweiten Ehemann, dem Lyriker Paul Wiens, erkennungsdienstlich im Stasi-Auftrag überwacht wurde, hatte Fries sich zu einer Stasi-Mitarbeit verpflichtet, um ins geliebte Ausland reisen zu dürfen, worüber er dann seinem Führungsoffizier Bericht erstatten musste. Das wurde ihm derart von der westdeutschen Literaturkritik als skandalös vorgehalten, dass sich seine Reputation nicht mehr davon bis über seinen Tod hinaus erholt hat. Und das, obwohl FRF als IM keinem seiner DDR-Kollegen übel mitgespielt & er als einziger von sich aus seine IM-Tätigkeit offenbart hatte. Er tat es, weil er in diesem Geschäft mit der diktatorischen Staatsmacht nichts Unehrenhaftes sah, weil ihm dadurch Reisefreiheit gewährt worden war & seine erpressten Auslands-Berichte nichts Nachteiliges für DDR-Personen zur Folge hatten. Schofler aber als dieser herausragende Autor in der DDR – die er offenbar trotz allem schätzte – ist kein Künstler der DDR nach deren Verschwinden von der bundesdeutschen Kritik inquisitorisch behandelt, mehr noch: zu Unrecht niedergemacht worden.

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Bäuerliche Cinematographie – Einem Interview der SZ v. 23.12.14 entnehme ich, dass Tommy Lee Jones – der 68jährige Schauspieler & Regisseur, dessen jüngster Film „Homesman“ derzeit in unseren Kinos läuft – sich vornehmlich als Texaner sieht, dem „das Land nahe“ ist. Seine Familie „verstehe sich auf das Rinder- & Pferdegeschäft“, sie hätten Ranches & eine Farm, auf der er z.B. Heu mache. „Wir haben auch Grundbesitz in New Mexico (…) Wir haben ein Haus in Palm Beach County in Florida und wir haben ein Haus etwa 25 Meilen außerhalb von Lobos, in der Provinz Buenos Aires in Argentinien. Dennoch bin ich oft auf der Ranch in Texas, um alles zu organisieren. (…) Man muss auch wirklich selbst anpacken auf so einer Ranch“.

Es kommt nicht oft im usamerikanischen Film vor, dass sich einer der Hollywoodgrößen heute noch primär als Mann vom Land, bzw. als real praktizierender Cowboy versteht. Dieser „Bodenhaftung“ verdankt aber wohl sein historischer Western „Homesman“ einige Szenen, wie man sie noch nie in einem „Western“ gesehen, gehört oder vernommen hat. Die deutsche Filmkritik, die sich vergeblich den Kopf darüber zerbrach, ob es sich bei „Homesman“ wirklich um einen Western handele & unisono konstatierte, dass der Film in seiner Mitte erzählerisch gewissermaßen „die Pferde wechsele“, hat keine Augen & Ohren für das wahrhaft Einzigartige dieser Arbeit, deren ungeschlachte Montage an den Werner Herzog mit seinen deutschen Filmen erinnert. Ich meine mit meiner Behauptung gar nicht den singulären Fokus, den der Film auf die drei verrückten Siedlerfrauen & deren Vorgeschichten richtet oder ihren Transport in der mobilen Zelle; auch nicht, dass eine mutige, selbstbewusste Frau, deren emanzipative Existenz avant la lettre sie zur Ehelosigkeit verdammt, weil die in Frage kommenden Männer sie wie eine teuflische Hexe ängstlich meiden, sobald sie den Wunsch äußert, geheiratet zu werden. Sondern ich denke vornehmlich an eine Szene, bei der die Kamera wenig über dem Boden sowohl den Gras rupfenden Pferdekopf als auch die völlig ausgehungerte Frau, die sich auf gleicher Ebene mit dem Pferd das von ihr ausgerupfte vertrocknete Gras in den Mund stopft, gleichzeitig uns optisch & akustisch vor Augen & Ohren holt. Derartig drastische Bilder für wahnsinnigen Hunger habe ich noch nie im Kino gesehen – auch nicht in Bunuels frühem Dokumentarfilm „Las Hurdes“.

Dann gibt es noch zwei Szenen des Films, die ebenfalls Unikate in der gesamten Western-Geschichte & -Mythologie sind: zum einen jene Szene, in der der Mann & die Frau die drei Frauen zum Notdurft-Machen in der Landschaft führen. Allein schon, dass das Thema überhaupt angesprochen wird! Und schließlich jene grandiose Szene, in der die erneut als Ehe-Frau Verschmähte den Mann abends am Lagerfeuer, unter den Augen der drei Verrückten, bittet, sie „um ihrer Ehre willen“ sexuell zu initiieren. (Am nächsten Morgen findet ihr Beischläfer sie erhängt & sieht sich daraufhin moralisch gezwungen, sich nun allein um die drei verrückten Frauen zu kümmern, bis er sie in die Obhut einer Pfarrerin geben & endlich seinen Weg ziehen kann.)

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Verschwundene Nachricht – Ich kann mich noch genau an den Vormittag erinnern. Ich saß wartend im Auto & hörte im DLF-Radio eine Meldung. Sie hatte den Inhalt, dass die Drohnentötungen der US-Army neben den ins Auge gefassten Getöteten eine unfassbar hohe Zahl von Unschuldigen mit in den Tod gerissen haben. Das Verhältnis war derart erschreckend, dass ich zuhörend assoziierte, es sei in seinen Ausmaßen vergleichbar einem beliebigen Selbstmordattentat. Als Nebennachricht wurde erwähnt, dass die Bundeswehr in Afghanistan der US-Army mehrfach Zielopfer genannt habe, also indirekt mitschuldig sei.

Weil ich aber annahm, die einen – wie ich finde – „staatsterroristischen“ Skandal benennende Meldung werde schon am nächsten Tag in der Printpresse „schwarz auf weiß“ vorgelegt, habe ich mir das zum Himmel schreiende Missverhältnis zwischen solchen angeblichen „chirurgischen Eingriffen“ & ihren menschlichen „Kollateralschäden“ nicht genauer gemerkt. Da hatte ich mich aber gründlich geirrt. Was ich am nächsten Tag von dieser bloß einmal gehörten Meldung in FR & SZ zum Lesen fand, war die Skandalisierung der Bundeswehr, weil sie für die US-Drohnen menschliche Ziele markiert habe. Das ist ein längst bekanntes Faktum, das umgehend aufs Fadenscheinigste von der Bundeswehr kleingeredet, bzw. dementiert wurde. Der Hauptinhalt der gehörten Meldung – das Missverhältnis der bewusst Getöteten & der dabei in Kauf genommenen unschuldigen Opfer – aber war getilgt; geblieben allein der Bezug zur Bundeswehr während ihres Afghanistan-Einsatzes.

Was ist da geschehen? Wenn ich annehme, dass die Printjournalisten die ursprünglich Meldung nur unterm Blick auf die deutschen Bezüge angesehen & weiter verwendet haben, müsste ich ihnen journalistische Dummheit unterstellen, weil sie den umfassenderen Skandal – der immensen „Kollateraltötungen“ bzw. Ermordungen bei den US-Drohnenangriffen in Afghanistan – zugunsten einer innerdeutschen Problematik verdrängt haben. Oder soll ich annehmen, dass die ursprüngliche Meldung – eben die, die ich gehört aber nie gesehen hatte – zurückgezogen wurde? Warum? Jedenfalls ist ein Rätsel in der Sache.

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Der letzte macht das Licht aus – Ein guter Indikator für das selbst erreichte Alter sind Beerdigungen von zeitweisen Freunden oder Bekannten, bei denen der einzige, den man (noch) kennt, der Tote im Sarg ist. – Dagegen hatten betriebliche Weihnachtsfeiern unter Pensionären, wenn man sie zum ersten Mal als Pensionär besuchte, die Anmutung einer Ankunft auf den Elyseeischen Feldern – um nicht vom christlichen Himmel zu sprechen (in dem ja nur „die Guten“ sein sollten, während man ja unter den Pensionären auch „den Bösen“ des vergangenen Berufsalltags wieder begegnete).

Plötzlich waren da viele wieder in Leib & Leben da, die einem im Laufe der Jahre aus den Augen & aus dem Alltag der fortgesetzten beruflichen Arbeit nach & nach entschwunden waren. Ein einzigartiger Lebens-Augenblick, noch schockierender als ein erstes Klassentreffen nach Jahrzehnten. Da erlebte man – wie einst der Fotograf das Entstehen seiner Bilder im Entwicklungsbad –, wie sich die heutige Ansicht der befremdlich gewordenen Klassenkameraden nun langsam optisch, gestisch, akustisch in das einst vertraute Bild aus der Schulzeit changierte. Winzige Alltags-Metaphysiken.

Wolfram Schütte

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