Federman ohne Worte
Am 6. Oktober ist der amerikanische Avantgarde-Autor Raymond Federman im Alter von 81 Jahren im kalifornischen San Diego gestorben. Macondo-Herausgeber Frank Schorneck nimmt Abschied.
Lieber Ray,
es war Dein Verleger Stefan Weidle, der mir als erster von Deinem Tod berichtete. Ich war darauf gefasst, ich hatte eine solche Nachricht erwartet – und dennoch traf mich der Schock tief.
Im letzten Sommer, kurz nach Deinem 80. Geburtstag, warst Du unser Gast in Bochum, stelltest Deinen Prosaband Mein Körper in neun Teilen vor. Obwohl die Abhandlungen über Deine Körperteile nicht das Älterwerden und Gebrechen verschweigen, war nicht absehbar, dass dies unser letztes Treffen werden sollte. Erst einige Tage später teiltest Du mir in einer Mail mit, dass da etwas in Deinen Nieren sei, dass es möglicherweise ein Tumor sein könne und dass eine Biopsie gemacht werde. „We’ll see – could be a false alarm“ schriebst Du und wechseltest das Thema. Eine Deiner Nieren wurde entfernt, ich glaubte Dich gesund, wollte Dich gesund glauben. Wir haben uns lange nicht geschrieben, man hat sein eigenes Leben, seine eigenen Projekte. Vielleicht war es auch unbewusst das Gefühl, dass keine Nachricht auf keinen Fall eine schlechte Nachricht sein kann.
In diesem Sommer habe ich dann erfahren, dass es Dir alles andere als gut ging. In Deinem Weblog war ein seltsamer Text zu finden: ein fiktiver Dialog zwischen Dir und Deiner Tochter beim Versuch, einen Nachruf zu schreiben. Das war typisch für Dich: Du wolltest der erste sein, der einen Nekrolog auf Raymond Federman verfasst und Du tatest es mit dem Dir eigenen Augenzwinkern, verspielt, selbstironisch und dennoch zu Herzen gehend. „He isn’t dead yet silly“ ist einer der letzten Sätze dieses Dialogs, hinter dessen Leichtigkeit man dennoch die Ängste ahnen kann, die im Hintergrund lauerten.
Du schriebst mir, dass Du es ablehntest, Dich einer Chemotherapie zu unterziehen. Die Metastasen hatten sich bereits in der Lunge festgesetzt und Dein Arzt machte Dir keine Hoffnung mehr. Du wolltest bei klarem Verstand bleiben, nicht unter Medikamenteneinfluss sterben. Dass Dir die Energie zum Schreiben fehlte, war ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Welt Dich bald verlieren würde. Federman ohne Worte, das war für mich undenkbar. Jener Federman, der sich so viele Versionen seines Lebens erschrieben hat, dessen Leben derart untrennbar mit Literatur verknüpft ist, der mit und in der Literatur überlebt hat und immer weiter überleben soll. Doch ich merkte in den Versuchen, die Konversation aufrecht zu halten, dass auch mir die Worte fehlten. Ich schob es auf meinen letztlich doch begrenzten englischen Sprachschatz, doch wenn ich ehrlich zu Dir und zu mir selbst bin, bietet selbst mein deutscher Sprachschatz mir nicht die Sicherheit, in dem schwierigen Gelände zwischen Anteilnahme, Trost und Ermutigung.
Ich war also darauf gefasst, ich hatte die Nachricht erwartet – und dennoch traf mich der Schock.
Wer kennt nicht das Gefühl, das einen packt, wenn ein Idol stirbt, ein Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, den man bewunderte? Doch was mich in diesem Moment erfasste, war mehr, es war wie der Verlust eines engen Freundes, eines Verwandten. Dabei sind wir uns nur zweimal persönlich begegnet, schrieben wir uns nur sporadisch E-Mails. Dennoch: Durch die Lektüre Deiner Bücher glaubte ich mich ungemein vertraut mit Dir und Deinem Leben. Ich habe mit Dir gelitten, als Deine Familie damals, am 16. Juli 1942, im Morgengrauen verhaftet wurde, als Deine Mutter Dich, als einzigen, in den Schrank schubste, als Du, mit Deinen knapp 14 Jahren halbnackt zwischen alten Mänteln kauertest, voller Angst.
Wieder und wieder habe ich diese Szene gelesen; wieder und wieder hast Du diese Erinnerung heraufbeschworen, mit Prosa und Lyrik umkreist, jenen Moment Deiner zweiten Geburt. Ich weiß, wie Dir damals die Flucht gelang. Ich weiß, wie sehr Dich Deine reichen Verwandten verletzt haben. Ich weiß, wie du nach Amerika gekommen bist. Ich weiß, was Du als Fallschirmspringer erlebt hast. Ich weiß, wie Du Dich fühltest, als Charly Parker auf Deinem Saxophon spielte. Ich weiß von Deiner Bewunderung für Becket. Ich weiß, wie Du Dein Leben lang zwischen der französischen und englischen Sprache wandertest. Ich weiß auch von Deinen Frauen.
1986 hat mich zum ersten Mal eines Deiner Bücher gefunden. Alles oder Nichts erschien damals in der wunderbaren „Anderen Bibliothek“. Nur auf den ersten Blick ein Roman über Nudeln, lässt dieses Buch die Buchstaben tanzen. Eine Herausforderung für Setzer und Über-Setzer gleichermaßen muss dieses Werk gewesen sein, das mich, den Arno Schmidt-Bewunderer, sofort in seinen Bann zog. Auf den ersten Blick so wild wie dieses „Nudelbuch“ sollte später nur noch Take it or leave it sein, dessen deutsche Übersetzung von Peter Torberg erst 1998 erscheinen sollte und das ich mir 1993 in den USA kaufte. Ich erinnere mich noch gut, wie ich, als wir vom Flughafen Buffalo aus mit dem Leihwagen Richtung Niagara-Fälle fuhren, zu meiner damaligen Freundin und jetzigen Frau sagte, dass hier, in Buffalo, Raymond Federman an der University of New York lehre. Ich stellte mir vor, wie es wäre, Dich zu besuchen. Ich konnte damals nicht ahnen, dass Deine Tür sich für uns geöffnet hätte. „Why didn’t you stop by?“, fragtest Du später verwundert.
Irgendwann stieß ich im Internet auf Deine Homepage (als bloggen und Myspace noch Fremdworte waren) und fand dort eine aol-Adresse. Aus einer Laune heraus, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen, schrieb ich Dir eine kurze E-Mail. Deine Antwort kam schnell – erst recht, wenn man die Zeitverschiebung bedachte – und der Grundstock für eine Korrespondenz war gelegt. Du hast uns Texte für Macondo zur Verfügung gestellt, bezeichnetest Dich als „young author of a certain age“. Du vertrautest mir in manchen Fällen die Übersetzung der Texte an und wir diskutierten über verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Die Kindergeschichte The lost flower kam in meiner Übersetzung auch beim Internationalen Literaturfestival Berlin zum Vortrag. Ich freue mich bereits darauf, meiner Tochter Emma – Du kennst sie nur von Fotos – in ein paar Jahren diese Geschichte vorzulesen, die kindgerecht für Toleranz und Lust auf Neues wirbt.
Ich hatte die Nachricht erwartet, ich war auf sie gefasst – und dennoch hätte ich nicht unvorbereiteter sein können.
Deine Tochter Simone übernahm die Aufgabe, per Mail und auch über Deinen Blog die Nachricht von Deinem Tod zu verbreiten. Am 6. Oktober um 6.15 Uhr ging Dein Leben zu Ende. Simone schildert, wie sie Dir in Deinen letzten Stunden ein letztes Mal Die Stimme im Schrank vorgelesen hat, atemlos, diesen einen Satz, der im Englischen über 74 Seiten geht, und wie Ihr beide am Ende weintet. Du wurdest eingeäschert, wie Du es Dir gewünscht hattest – und es ist ein letztes Zeugnis für Deinen Humor, dass Du in diesem Wunsch Bezug nimmst auf das Schicksal Deiner Eltern und Schwestern, die vor vielen Jahren in viel größeren Öfen ihr Ende fanden. Du hast für diese, Deine Familie, in Deinem Werk so häufig die Platzhalter X-X-X-X gewählt, dass es beinahe naheliegend wäre, dieser Chiffre für Dich nun ein weiteres Kreuz hinzuzufügen. Doch dem ist nicht so: Durch Dein Werk wurden Deine Verwandten der Anonymität des industriellen Todes entrissen, durch Dein Schreiben wurden diese lebendig. Was auch immer nach dem Tod mit uns wirklich passiert: Um Deinetwillen möchte ich mir wünschen, dass es auf irgendeine Weise zu einem Wiedersehen kommen wird, dass Du nach so vielen Jahren Deine Mutter, Deinen Vater und Deine Schwestern wieder in die Arme schließen kannst.
Ich hatte die Nachricht erwartet, ich war auf sie gefasst – und ich wusste, dass sie zu früh kommen würde.
Wir hatten uns noch geschrieben, es ging um einen Beitrag zu unserem neuen Macondo-Thema. Du schlugst zwei Gedichte vor. Eines davon, „Final Escape“ hatten wir bereits in unserer „Flucht“-Ausgabe veröffentlicht. Das Gedicht führt zurück in jenen Kleiderschrank und schlägt den Bogen ins Jenseits, thematisiert den Tod. In diesem besonderen Fall wollten wir eine Ausnahme machen und den Text ein zweites Mal drucken. Im Dezember hättest Du Dein Belegexemplar in San Diego in den Händen halten sollen. Du bist nun früher aufgebrochen, Du kennst nun die Antworten auf die Fragen, die Du in Deinem Gedicht stellst. Du wirst nun wissen, ob die Albträume der Vergangenheit Dich nun in Ruhe lassen, Du wirst wissen, wie süß der Zucker schmeckt und Du wirst wissen, ob der Mond, der für Dich auch im Englischen immer weiblich war, Dir weiterhin scheint. „will there be words /left to describe what / is taking place“ fragst Du gegen Ende des Gedichtes und ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass die Worte immer um Dich herum und Du immer in den Worten sein wirst.
Farewell, au revoir, auf Wiedersehen!
Frank
FINAL ESCAPE
how will it happen
the final exitus
will it be violent
will it hurt
or will it be quiet
full of silence
will the sordid images
that have haunted us
be suddenly erased
or will they be replayed
endlessly replayed
in virtual reality
will we fall
or will we rise
or simply pass through
as one goes through
an open door
to enter a room
perhaps it will be
an escape
another escape
from the little box
where it all started
among empty skins
but this time it will be
the final escape
from the great cunt
of existence
and this time
without any gurgling
will the stolen sugar be
as sweet as the first time
and what of the moon
tiptoeing on the roof
will she smile upon us
or remain indifferent
will there be words
left to describe what
is taking place
words and silences
or will there be only
cries and whispers
LETZTE FLUCHT
Wie wird er sich ereignen
der endgültige Exitus
wird er mit Gewalt kommen
wird er schmerzen
oder wird er friedlich sein
von Stille erfüllt
Werden die schäbigen Bilder
die uns verfolgt haben
plötzlich ausgelöscht sein
oder werden sie wiederholt
unaufhörlich wiederholt
in virtueller Realität
Werden wir stürzen
oder werden wir aufsteigen
oder einfach hinüberschreiten
wie jemand durch
eine offene Tür geht
um einen Raum zu betreten
Vielleicht wird es
eine Flucht sein
eine weitere Flucht
aus der kleinen Kiste
in der alles begann
inmitten leerer Häute
Doch diesmal wird es
die letzte Flucht sein
vor der großen Fotze
des Seins
und dieses Mal
ohne ein Glucksen
Wird der gestohlene Zucker
so süß sein wie beim ersten Mal
und was ist mit Luna
auf Zehenspitzen auf dem Dach
wird sie uns hold sein
oder gleichgültig bleiben
Werden uns Worte bleiben
um zu beschreiben was
geschieht
Worte und Schweigen
oder bleiben nur
Tränen und Flüstern
Raymond Federman / Übersetzung Frank Schorneck
Frank Schorneck