Täter, Opfer, Zuschauer
Wir, die nach Kriegs- und Faschismusende Geborenen, verdanken den Arbeiten des amerikanischen Historikers Raul Hilberg sehr viel. Von C.W. Macke
Als im Jahr 1950 die von den Nationalsozialisten aus Deutschland in die Vereinigten Staaten vertriebene Philosophin Hannah Arendt zum ersten Mal nach dem Krieg wieder mit Europa, ihrer alten Heimat konfrontiert wurde, notierte sie in ihr Reisetagebuch: „Nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, daß es keine Reaktion auf das Geschehene gibt. Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen.“
Die Generation ’nach Hitler‘, der Hannah Arendt hier zum ersten Mal begegnete, hatte offensichtlich weder das Bewußtsein, noch eine Sprache, um das zu artikulieren, geschweige denn zu begreifen, was ihr in den Jahren zuvor geschah, was sie geschehen ließ und was sie anderen an Leid angetan hat. Es waren Herren wie Globke, Filbinger, Oberländer oder Kiesinger, die schon gleich nach Kriegsende wieder in Politik, Verwaltung und Wissenschaft der Bundesrepublik reüssierten. Und wie schwer hatten es statt dessen die ‚anderen‘ Juristen, Mediziner, Wissenschaftler, Intellektuelle und Politiker eine Reputation in der neuen Demokratie zu erhalten. Die ‚fünfziger Jahre‘, heute wieder verklärt als Wohlstandsjahre der Westdeutschen, waren auch die „Epoche der Restauration“ (Walter Dirks), eine Zeit des schnellen Vergessens und Vergebens.
Nichts oder nur tropfenweise erfuhr die Generation der Nachgeborenen jahrzehntelang von den Massenverbrechen, die die Nazis im deutschen Namen in den Jahren von 1933 bis 1945 verübt haben. Wenn man in den fünfziger, sechziger Jahren als Kind von Eltern aufwuchs, die während der Nazi-Zeit nicht im Widerstand gestanden haben, also als ein Kind der großen zu den Verbrechen nur schweigenden, sie duldenden oder sie gar aktiv unterstützenden Mehrheit, hatte man nur stammelnde, hilflose, unwissende Immer-schon-Demokraten als Gegenüber. Gegen Hitler waren sie alle, aber gegen den Nazi als Nachbarn hatten sie nichts einzuwenden. Was habt Ihr von den Greueltaten der Nazis gewußt, von Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen, Dachau? Wie oft prallte diese Frage, die alles beherrschende Frage der Nach-Kriegszeit an der Ignoranz der älteren Generation ab?! Daß die heute, in der tagesaktuellen Restaurationszeit wieder so viel gescholtene Generation der Jugendlichen, Schüler und Studenten von ’68 diese Frage penetrant ihren Eltern und Lehrern stellte, gehört jedoch zu ihren bleibenden Verdiensten. Sie haben – allen Etikettenschwindel in der ehemaligen DDR zum Trotz – den reflektierten Antifaschismus in die politische Kultur der Deutschen eingeführt. Aber auch das Wissen dieser die ganze Wahrheit über das Nazi-System einklagenden kritischen Generation der Nachgeborenen war oft gering und lückenhaft. Man berief sich auf Erinnerungen von Überlebenden, auf erste systematischere Untersuchungen wie z.B. Eugen Kogons „SS-Staat“, auf das Zeugnis weniger Kinofilme aus den USA, England und Frankreich. Hilflos, noch wenig unterstützt durch eine interessierte Öffentlichkeit, aber von großer Neugierde getrieben, bastelte man sich so nach und nach ein eigenes Bild von den Nazi-Jahren zusammen. Mit jeder neuen Information wuchs immer mehr die Fassungslosigkeit.
Lange verdrängte Wahrheiten
Typisch für diese in Deutschland zögerliche, oft verhinderte und unterdrückte Aufklärung über die wahre Dimension des nationalsozialistischen Terrors war der Umgang mit den Studien des 1939 von Wien in die Vereinigten Staaten emigrierten Politikwissenschaftlers Raul Hilberg. Bereits 1961 war Hilbergs detaillierte Studie über die „Vernichtung der europäischen Juden“ in den USA erschienen. Zwanzig Jahre (!) dauerte es, bis nach vielen fadenscheinigen Ablehnungen deutscher Verlage diese so bedeutsame Untersuchung auch der deutschen Öffentlichkeit durch eine Übersetzung zugänglich wurde. Daran sollte man, by the way, auch immer den S.Fischer-Verlag erinnern, der dann später zum deutschen Verlag der Arbeiten von Raul Hilberg wurde. Ein kleiner linker Verlag (Olle und Wolter) war es, der mit größtem unternehmerischem Risiko die Edition des Opus Magnum von Raul Hilberg übernahm.
Was unterschied Hilbergs Untersuchungen von anderen, die doch auch in Deutschland bereits bekannt waren? Jenseits von der entlastenden These einer kriminellen Schuld Einzelner und der ebenso fragwürdigen These von der Kollektivschuld aller, legten die Recherchen Hilbergs hingegen ein tragendes Gerüst der Massenvernichtung offen. Man kann sich einem Verständnis des Holocaust nur nähern, so insistierte Hilberg unentwegt, wenn man die innere Logik einer systematisch geplanten und bürokratisch durchgeführten Massenvernichtung erfaßt. Die Eiseskälte, mit der Figuren wie Eichmann, Mengele, Himmler oder Höß und mit ihnen Hunderttausende von Tätern den Genozid durchführten, kann nur mit einer ähnlich präzisen, einer in den Methoden ähnlich nüchternen Untersuchung in ihrer ganzen Inhumanität erfaßt werden. „Die Reichsbahn“, so Raul Hilberg in einem Gespräch über die Voraussetzungen des Holocaust, „transportierte etwa drei Millionen Menschen in den Tod und bekam überhaupt keinen Befehl dazu. Es war nur ein Anruf: Können Sie diese Juden transportieren? Ja, furchtbar einfach, wird gemacht…Die Sache mit der Furcht und der Drohung des Vorgesetzten ist eben die Einschätzung der ganzen Kultur. In Deutschland war das Verhängnisvolle, daß sich jeder sagte: Wenn ich es nicht mache, dann macht es der andere.“ Hilbergs Lebenswerk, niedergeschlagen in vielen einzelnen Untersuchungen und zusammengefaßt in der „Vernichtung der europäischen Juden“, ist ein bleibendes Denkmal der Erinnerung an die Opfer, der Anklage gegen die Täter und vor allem aber gegen ein System von Befehl und Unterordnung, das diese Barbarei erst ermöglichte.
„Unerbetene Erinnerung“
Über den jahrzehntelange vollständig in die Recherche eingetauchten Menschen und Wissenschaftler Raul Hilberg informiert er die Leser mit seiner Biographie „Unerbetene Erinnerung“. Wir erfuhren hier von Hilbergs Kindheit in Wien, seiner Emigration über Kuba in die USA, seine Studienzeit in New York und dem mühsamen Weg bis zur Publizierung seiner Studien. Hilberg hatte das Glück, in dem ebenfalls aus Deutschland vertriebenen Rechtswissenschaftler Franz Neumann einen der besten Kenner des nationalsozialistischen Systems als Lehrer zu haben. Dessen Studie „Behemoth“, jenes bis heute unübertroffene Standardwerk über die den Nationalsozialismus stützenden Machtgruppen (Staatsapparat, Armee, Industrie, Partei) war auch für Hilberg ein Schlüsseltext, um seine unendlich vielen Detailinformationen in eine Theorie einzuordnen. Für den, der Hilbergs wissenschaftliche Arbeiten gelesen hat, bietet die Autobiographie eine Reihe interessanter Details aus dem Leben eines Holocaust-Forschers. Dem, aber der diese wichtige und mühsame Durchdringung der Untersuchungen noch nicht geleistet hat, erscheinen viele biographische Ausführungen von Hilberg wahrscheinlich allzu trocken und manchmal unverständlich. Wie böse er zum Beispiel ausgerechnet mit Hannah Arendt ins Gericht geht („dieses Machwerk“) registriert man bei der Lektüre nur mit einigem Kopfschütteln. Gewiß sind diese Kontroversen wichtig, aber sie führen auch ein wenig ab von den aus deutscher Sicht zentralen Befunden über das System der Massenvernichtung.
Wer vor der Lektüre des monumentalen Werks „Die Vernichtung der europäischen Juden“ zurückschreckt, dem sei die 1992 erschienene Studie „Täter, Opfer, Zuschauer“ empfohlen. Hier lenkt er seinen sezierenden Blick weg vom System der Massenvernichtung hin zu den Menschen, die ihm dienten, die sich ihm verweigerten und die, die glaubten, durch Zuschauen unschuldig zu bleiben. „Mein Leben lang war ich ganz von der Verwaltung eingenommen, hatte Organisationspläne angelegt, Entscheidungsgänge eingetragen. Jetzt blickte ich auf Menschen: Einzelne und Gruppen“. Wir, die nach Kriegs- und Faschismusende Geborenen, verdanken den Arbeiten eines Raul Hilberg sehr viel. Er hat uns nicht mit der deutschen Geschichte versöhnt – das geht nicht bei dieser Dimension der Verbrechen der Nazis und ihrer offenen wie heimlichen Unterstützer. Sein Buch „Täter, Opfer und Zuschauer“ hat Hilberg dem Berliner Domprobst Bernhard Lichtenberg gewidmet, der auf dem Transport in KZ Dachau gestorben ist. Man kann, so wiederholte es Raul Hilberg in seinen öffentlichen Auftritten immer wieder, sich um den reibungslosen Zugverkehr in die Vernichtungslager kümmern oder die Züge an ihrer Abfahrt zu hindern versuchen….
Carl Wilhelm Macke