Theatermusik
(TM) Kann man sich kaum vorstellen: man reist nach Thailand und verbringt dann seine Tage damit, Tolstois „Krieg und Frieden“ zu lesen und sich Musik dazu auszudenken. Genau so ist es aber entstanden, das neue Werk von Sascha Ring aka Apparat. Für den Theaterregisseur Sebastian Hartmann und sein Theaterprojekt für die Ruhrfestspiele in Recklinghausen, für das Ring die Musik beisteuern sollte, sollte sich dieser mit dem Klassiker auseinandersetzen und eigene Ideen entwickeln, denn ein Drehbuch gibt es beim dem eher unkonventionell arbeitenden Hartmann nicht.
Nun ist Sascha Ring in der deutschen Elektronikszene ja durchaus für pathetische Stücke bekannt. Dennoch kam Apparat mit Stücken nach Hause, die für ihn ungewöhnlich sind, die sich an der Klassik orientieren, manchmal sogar nur wenig mehr als Klavier und Streicher kennen („K & F Thema [Pizzicato]“). Ring konzentriert sich mehr auf Flächen, baut diese kontinuierlich aus und nimmt sich dafür sehr viel Zeit („44“, auch in der „44 Noise Version“). Ausnahmen bestätigen die Regel, z. B. das Herzstück „PV“, das mit seinem Einsatz von Rhythmus noch am ehesten an konventionelle Elektrostücke erinnert. Eingespielt wurden die zehn Stücke, die den Geist der Liveaufführugen noch einmal neu einfangen, in einer einwöchigen Session mit der Apparat-Band.
(JA) Yo, Tina, so kann man unparteiisch Fakten liefern, ohne sich zu „Krieg und Frieden“ als Album an sich zu positionieren. Hätte ich auch gerne getan. „The Devil’s Walk“ (2011), auf dem sich Apparat neu erfand, ist ein Überalbum, das mein pathetisches kleines Herz vor Freude hüpfen lässt. Entsprechend groß waren meine Erwartungen an „Krieg und Frieden“. Tolstoi, hallo!, hier kann das Pathos sogar noch gesteigert werden. Jedenfalls in meinen kühnsten Träumen. Großes russisches Drama, in dem die schwere Melancholie ihren Höhepunkt findet. In dieser Hinsicht ist Sascha Rings aka Apparat Umsetzung des Stoffes mau ausgefallen.
Es stellt sich natürlich die Frage, ob meine Wunschvorstellungen a) eine adäquate Umsetzung von Musik im zeitgenössischen Theater darstellen können und b) nicht eher etwas mit einer Blockbuster-Produktion gemein hätten. Nach langem In-mich-gehen bin ich der festen Überzeugung, dass die Umsetzung von „Krieg und Frieden“ als Theatermusik absolut gelungen ist: elektronische Sequenzen, dichte, sphärische Klangteppiche, zermürbendes Fiebgeräusch, spärlicher Einsatz von Gesang – die Schauspieler haben schließlich auch noch Text – und eine angemessene Dunkelheit, die dem Stoff geschuldet ist, sich jedoch nicht in Heulorgien des bürgerlichen Theaters verliert. Zuweilen, wie bei „K&F Thema“, klingt das auch äußerst optimistisch, so im Ansatz. Das sind die unerwarteten Momente des Albums.
Hey, das ist Tolstois „Krieg und Frieden“, eines der ganz großen Historiendramen der Weltliteratur. Taschentücher gibt’s quasi beim Buchkauf gratis dazu. In diesem Sinne verweist Rings Bearbeitung auf ein modernes Theater, das sich gerne mit Popmusikern schmückt, die handwerklich etwas drauf haben. Kante an der Berliner Schaubühne sind ein bekanntes Beispiel. Hier entstanden in den letzten Jahren fruchtbare Kooperationen, die den Musikern die Möglichkeit der Umsetzung eigener Ideen mit vielen kreativen Freiräumen und staatlichen Subventionen ermöglichen und die Inszenierungen um die Ebene des Klangs auf progressiver, professioneller Ebene ermöglichen. Live mit Orchester und extra für dieses Stück geschriebene Musik ist allemal besser als Popsongs aus der Konserve. Ich gebe zu, ich steh auf beides. Für mich ist der Aspekt der Musik wichtig in einem Theaterstück. Bei reinen Sprechakten schlafe ich ein.
„Krieg und Frieden“ ist, wen wundert’s, Theatermusik. Sogar sehr gute, da sie der Inszenierung Raum lässt und nicht mit Konzertanwandlungen erdrückt. Das im Hinterkopf: Daumen hoch! Das muss mit 30-köpfigem Orchester auf der Bühne ein Traum gewesen sein. Was aber die Stärke von guter Theatermusik ist, die das Stück unterstützt, ohne dabei die Bühne in einen Konzertsaal zu verwandeln, funktioniert nicht als Popalbum, kann nicht als solches funktionieren und will es sicherlich auch nicht. „Krieg und Frieden“ ist Scoremusik. Bestens geeignet, um dabei ein Buch zu lesen. (Vielleicht ja „Krieg und Frieden“.) Ich würde mir auch wahnsinnig gerne Hartmanns Projekt mit eben dieser Musik ansehen. Aber mit dem Album als solchem, ohne damit einen persönlichen Theaterabend zu verbinden, kann ich recht wenig anfangen. Sorry.
Apparat: Krieg und Frieden – Music For Theatre. Mute Artists Ltd (Goodtogo). Zur Homepage.