Geschrieben am 30. Oktober 2013 von für Musikmag

Arcade Fire: Reflektor

arcadefire_reflektorReflexion und Rückschau

– Die ganze Stadt ist tapeziert mit ihren Plakaten, seit Wochen fiebern die Fans der neuen Platte von Arcade Fire entgegen. Das Warten hat sich voll und ganz gelohnt. Von Tina Manske.

Der Opener „Reflektor“ ist ein astreiner James-Murphy-Song und könnte 1:1 so auch von LCD Soundsystem stammen. Kein Wunder, denn Murphy, seit Anbeginn ein großer Fan von Arcade Fire (und umgekehrt), hat das Album produziert. Das Video dazu spukt seit Wochen im Internet herum, und es ist tatsächlich spooky, wenn man darin die Band ausgestattet mit riesigen gruseligen Pappmaché-Köpfen herumlaufen sieht. „Reflektor“ ist einer dieser Songs, die man schon beim ersten Hören als einen künftigen modernen Klassiker erkennt – eingängig, wuchtig, klug arrangiert. Vollständig aufzuzählen, auf welchen Ebene dieser Songs das Reflektieren reflektiert, ist schwierig. Da sind natürlich die Echos der Stimmen von Win Butler und Régine Chassagne, der Hall unter den Instrumenten, das Aufnehmen poppiger 80er-Jahre-Beats, Basslinien, die sich auf mehreren Ebenen gegenseitig ergänzen. Und dann, kurz vor dem Schluss, kommt auch noch David Bowie als Gastsänger ins Spiel und macht die Phalanx aus unzähligen Layern verschiedener Stimmen komplett.

Reflexion ist aber auch sonst das beherrschende Thema des Albums. „Reflektor“ (wo kommt eigentlich das K her?) macht eine wilde Fahrt durch die gesamte Popgeschichte und lässt möglichst wenig aus. Der Basslauf von „We Exist“ nimmt Motive von Michael Jacksons „Beat It“ auf, „Flashbulb Eyes“ klingt nach dem Postpunk von The Clash. Symptomatisch für das gesamte Album ist „Here Comes The Night Time“, das mit einem komplett hysterischen brasilianisch-karnevalistischen Beat anhebt, um sich dann innerhalb etwas mehr als sechs Minuten ungefähr fünfmal komplett zu ändern, zum mit dem fettesten Bass der Welt stolpernden karibischen Weltmusikhit (das wie die erwähnten Pappköpfe ein Einfluss der haitianischen Heimat von Chassagne) zum Standardpopsong mit Jazzklavier zum Speedafrobeat mitsamt Bläsern zurück zum Popstandard… „Normal Person“ zeigt Arcade Fire dann als staubtrockene Wüstenrockband („Do you like Rock’n’Roll?“), das können sie nämlich auch immer noch. „You Already Know“ nimmt dann Motive des Vorgängeralbums „The Suburbs“ auf, all die Lyricfetzen wie „You can’t sleep at night“, „Why you feel so sad?“, „It’s already past“ etc. tauchen hier wieder auf – Rückschau auch hier. „Joan Of Arc“ beginnt als Punkhymne, um über den Classic Rock zum Kathedralenpop inklusive mittelalterlichen Gesängen zu finden.

Obwohl die 13 Songs auch auf eine CD gepasst hätten, haben Arcade Fire ein Doppelalbum daraus gemacht. Der zweite Teil beginnt – nach der Karusellfahrt des ersten Teils – vergleichsweise harmlos mit „Here Comes The Night Time Part II“ und dem getragenen „Awful Sound (Oh Eurydice)“. Ja, im zweiten Teil steht eine weitere Erzählung im Rampendiskolicht, nämlich der Mythos um Orpheus und Eurydike – wieder eine Geschichte, bei der (diesmal die verbotene) Rückschau im Mittelpunk steht. Und die dann wieder so ein Popmonster gebiert: „It’s Never Over (Hey Orpheus)“. Die Höllenfahrt endet mit „Supersymmetry“, über elf Minuten, von denen die letzten in einer leisen tonalen Abfahrt geradezu Danteschen Ausmaßes auslaufen.

Man sagt sowas ja immer leicht dahin, daher mal als Frage formuliert: Was denn sonst als dieses grandiose „Reflektor“ soll denn bitte Album des Jahres werden?

Tina Manske

Arcade Fire: Reflektor. Vertigo (Universal).

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