Präzise und glühend
– Seine Europa-Tournee trägt Keith Jarrett, 71, diesmal über Wien, Rom und Budapest auch nach München. Betrachtungen über einen hypersensiblen Giganten und Wolfgang Sandners einfühlsame Jarrett-Biographie. Von Peter Münder
Als Keith Jarrett im letzten Jahr in der New Yorker Carnegie Hall ein Solo Konzert gab, beschrieb die New York Times seine Improvisationskunst in einer Kritik als „präzise und glühend“. Diese enorme Bandbreite zwischen kühler Präzision und leidenschaftlicher Intensität macht sicher die ungeheure Faszination des genialen Pianisten aus, der sich bei seinen Performances auch mal stehend mit heftig schüttelndem Kopf, ganz in Trance versunken, an den Tasten betätigt. Der mit der Hand dann schon mal den Takt auf den Flügel klopft, aber auch beim ersten Hustenanfall eines Zuhörers oder beim Klicken einer Kamera seinen Auftritt unterbricht und beinah oberlehrerhaft einen Exkurs über die allgemeine mangelnde Konzentrationsfähigkeit in diesen bewegten Zeiten absondert. Ohne Frage kann er das Publikum aber dermaßen begeistern, dass Alex Rühle in der SZ nach dem letzten deutschen Solokonzert in München im Juli 2013 schrieb: „Die Gesichter der über 2000 Menschen, die aus dem Gasteig strömten, schienen von innen zu leuchten“.
Im Unterschied zum empfindsamen Glenn Gould verzichtete Jarrett nicht auf öffentliche Konzertauftritte und zog sich auch nicht ins abgeschirmte Studio zurück, sondern er verausgabte sich trotz extremer Burn Out-Phasen weiterhin in öffentlichen Konzerten, wobei die Sessions mit Art Blakey, Charles Lloyd und Miles Davis ihn stark beflügelten und prägten. Und er versuchte auch, in seinem Repertoire die Balance zwischen Klassik (vor allem Bach, Bartok, Mozart) und Modern Jazz zu halten. Aus der Präzision des „Wohltemperierten Klaviers“, so beschreibt es Jarrett selbst im Beiheft zur CD „Paris/London/ Testament“, hatte er schon als sechsjähriges, von seiner alleinerziehenden Mutter gefördertes „Wunderkind“ bei Privatkonzerten im Allentown Women´s Club den Schwung für seine eigenen improvisierten Pirouetten gefunden.
Wenn Jarrett jetzt auf seiner Europa-Tournee wieder in München gastiert, dann liegt das natürlich auch daran, dass sein Produzent Manfred Eicher und dessen Firma ECM dort angesiedelt sind. Die German Connection hat für Jarrett jedenfalls einen hohen Stellenwert: Das legendäre „Köln Concert“ von 1975, rund vier Millionen mal verkauft und damit die weltweit bestverkaufte Solo-Jazz-Einspielung überhaupt, hat längst Klassik-Status erreicht. Auch vom Hamburger NDR-Jazz-Workshop-Konzert mit Charlie Haden und Paul Motian im Juni 1972 (Radio-Produzent: Michael Naura) gibt es eine tolle CD mit der Live-Aufnahme und Jarrett erinnert sich bei Rückblicken auf seine ersten großen internationalen Erfolge auch gern an Auftritte in Heidelberg.
Wunderbar detailliert, mit enormem analytischem Tiefgang und großem Einfühlungsvermögen tastet sich der Musikwissenschaftler, FAZ-Kritiker und Miles-Davis-Biograph (2010) Wolfgang Sandner in seiner großen Jarrett-Biographie an diese bemerkenswerten Auftritte und vor allem an die magische Intensität von Jarrets Improvisationskunst heran. Ein Highlight liefert seine Darstellung der Rahmenbedingungen des Kölner Konzerts: Die kann er so intensiv und lebendig evozieren, dass wir bei der Lektüre eigentlich einen faszinierenden Live-Auftritt miterleben. Überraschend ist etwa, wie energisch sich Jarrett anfangs weigerte, den Kölner Flügel für sein großes „Köln Konzert“ überhaupt anzufassen. Denn der schien ihm eher für den Sperrmüll geeignet als für ein Konzert. Alle Umstände im Kölner Opernhaus waren im Januar 1975 jedenfalls so grotesk/unterirdisch, dass sich aus späteren Beschreibungen hierüber ein regelrechter Mythos entwickelte.
Produzent Eicher hatte Jarrett in seinem kleinen Renault R4 während der Europa-Tournee von Kronach/Oberfranken zu insgesamt elf Stationen gefahren; sie waren aus Lausanne abends übermüdet in der Kölner Oper angekommen. Wie Sandner berichtet, begann dort alles mit einer unglücklichen Verwechslung:
„Statt des vereinbarten Konzertflügels Bösendorfer 290 Imperial, der im Keller des Hauses bereitstand, hatten die Bühnenarbeiter einen Stutzflügel derselben Marke aus einer Garderobe auf die Bühne gebracht, ein strapaziertes Instrument, das sonst nur für Chorproben verwendet wurde, schlecht intoniert war, keine brauchbaren Höhen mehr hatte und dessen rechtes Pedal und einige Tasten nicht einwandfrei funktionierten… Keith Jarrett sah sich zunächst nicht imstande, auf dem miserablen Instrument ein Konzert zu geben. Erst nach langen Diskussionen und Abwägung aller Fakten erklärte er sich schließlich dazu bereit. Dass er dann noch, erschöpft wie er war und mit den notorischen Rückenschmerzen, in einem miserablen italienischen Restaurant in aller Hast etwas hinunterwürgen musste, passte zu der allgemeinen Stimmung, die nichts Gutes für den Ausgang des Konzerts erwarten ließ“.
Wie wir heute wissen, kam es anders: Jarrett war hochkonzentriert und beschränkte sich auf bestimmte Lagen des Flügels, er improvisierte, wie Sandner berichtet „mit einer Inbrunst, als säße eine Muse im Auditorium, die von ihm Besitz ergriffen hätte und ihm den schmalen Grat wies, der die Höhen idealer melodischer Schönheit vom Abgrund trivialer Rührseligkeit trennt“.
Ostinati und Obsessionen, Adorno oder Werfel: Die Wiederbelebung der Dreiklangharmonie
Wer sich fragt, was die besondere Kunst Jarretts ausmacht, wird von Sandner zwar auch mit einigen trockenen Fachausrücken traktiert – aber dann trifft er doch den Nagel auf den Kopf, wenn er über die Anfangspassagen des Köln Concert auf die „Ostinati“ – also die in der linken Hand ständig wiederholten Bassthemen – eingeht, die dann streckenweise fortissimo mit Reprisen, Variationen und rassigen Rondoformen in wunderbar-subtilen Arabesken ausgeschmückt und hochgejazzt werden.
Sandners Exkurs über Adornos Ablehnung der Dreiklangharmonie („keine starre, infantile Wiederholung schöner Stellen!“) und Franz Werfels Ansichten über den Stellenwert von „Gassenhauern“ (Werfel: „Was ist die Neunte gegen einen Gassenhauer, den ein Leierkasten und eine Erinnerung spielen“) ist erhellend, wie auch seine Interpretation der filigranen Kunst des Pianisten: „Jarretts Improvisationen sind nicht strophisch, sie sind gewissermaßen wie die seismologische Richterskala nach oben offen“.
Sander erwähnt noch einen anderen entscheidenden Aspekt, nämlich das tiefe Eintauchen in eine Trance-Sphäre, den eine „Rolling Stone“-Kritik zum Köln Concert hervorhob, in der Robert Palmer schrieb: „Das ist das Erstaunliche an Jarrett: Egal, was er schreibt oder spielt, er tut es mit Klarheit und Respekt vor der Tradition. Er klingt nie avantgardistisch oder fremd, aber immer wie neu – und er scheint auf dem besten Wege zu sein, Kategorien vollständig hinter sich zu lassen und dabei ein populärer Künstler im wahrsten Sinne des Wortes zu werden“.
Wer wollte da widersprechen? So begeisternd und glühend wie im Köln Concert war Jarrett zwar nicht immer – in der Paris/London/Testament-CD von 2008 etwa gibt es doch etliche ermüdende Stellen, an denen lau angerührter Brei wie subkutan verabreichter Schlaftrunk serviert wird. Doch dann ranken sich einzelne Akkorde, harmonisch arrangierte flotte Passagen wieder zu lichten Höhen empor, wo sie flugs in ekstatische Zonen driften. Allerdings sollten Konzertbesucher sich auch damit abfinden, dass Jarrett ihnen klare Verhaltensregeln vorgibt: Nicht zu spät kommen, nicht husten, nicht fotografieren! Darin drückt sich ja nicht, wie die „Welt“ 2009 nach Jarretts Berliner Solokonzert monierte, ein kapriziöses Diva-Verhalten „mit immer absurderen Allüren“ aus, sondern nur die nachvollziehbare Bitte, Rücksicht auf einen genialen, sensiblen Künstler zu nehmen.
Der auf einem Küchenstuhl mit abgesägten Beinen spielende Glenn Gould hatte damals übrigens wegen der penetranten Husterei im Publikum während seiner letzten Jahre alle Konzertauftritte abgesagt. Solange wir noch die Möglichkeit haben, beglückende Momente der magischen Intensität Jarretts auskosten zu dürfen, sollten wir ihm das jedenfalls ohne Hustenanfälle und störende Knipserei ermöglichen – sofern wir überhaupt noch ein Ticket ergattern können.
Peter Münder
Wolfgang Sandner: Keith Jarrett. Eine Biographie. Illustriert. Rowohlt Berlin, Oktober 2015. 357 Seiten. 22,95 Euro.
Keith Jarrett-TOURNEE-INFO:
6.7. Bordeaux: L´Auditorium 20 Uhr
9.7. Wien: Musikverein 19.45 Uhr
12.7. Rom: Parco Della Musica 19 Uhr
16.7. München: Philharmonie Gasteig 19 Uhr