Neue Platten von und mit Chilly Gonzales, Max Richter, Robag Wruhme, Swans, Max Herre, Marting Tingvall, Punch Brothers, Karthago, Brigitte und Locrian, gehört von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Filzhausschuhe, Morgenmantel
(TM) Ich habe mir gerade mal wieder Chilly Gonzales‚ tolles Album „Ivory Tower“ angehört, und man muss schon sagen: dagegen wirkt das, was der Crooner hier allein am Piano zusammenspielt, reichlich altbacken. Einflüsse sind wieder einmal Debussy und Chopin, auch das nichts Neues (s. „Solo Piano“, 2004). Alle Alleinstellungsmerkmale, die Gonzo im Hip-Hop und auch im idiosynkratischen Pop so anbetungswürdig machen, greifen hier nicht.
Aber habe ich altbacken gesagt? Auch Altbackenheit ja immer im Auge des Betrachters, also: Wer darauf steht, nicht überrascht, überwältigt, überrannt zu werden, der sollte sich dieses Album einmal anhören. Es könnte sein, dass er danach noch entspannter ist als vorher schon.
Was Gonzales im Hip-Hop versucht, nämlich ihm neue Facetten abzugewinnen (z. B. mit seiner letzten orchestralen Platte „The Unspeakble Chilly Gonzales“), versucht er hier eben nicht. Und auch das ist aller Ehren wert, auch wenn man beim Hören nicht vor Freude juchzen wird. Empfohlenes Outfit: Filzhausschuhe, Morgenmantel.
Chilly Gonzales: Solo Piano II. Gentle Threat (Indigo). Zur Homepage.
Deutlicher Respekt
(RK) In der Reihe „Recomposed“ bearbeiteten bisher Elektronik-/Techno-Protagonisten wie Matthew Herbert und Carl Craig Material, das das Archiv der Deutschen Grammophon bereitstellte. Max Richter, der sich als Filmkomponist (u. a. „Waltz with Bashkir“) einen Namen machte, sorgte für ein Novum innerhalb der Reihe: Seine Partitur setzte das Kammerorchester des Konzerthauses Berlin mit Star-Violinist Daniel Hope unter musikalischer Leitung von André de Ridder um.
Die Wahl der „Vier Jahreszeiten“ erscheint zunächst ungewöhnlich, da es sich um das populärste Werk des italienischen Barock-Workaholics handelt. Aufgrund der Eingängigkeit erleben die vier mit einander verbundenen Violinkonzerte, die jeweils eine Jahreszeit symbolisieren, eine hohe Verbreitung in Warteschleifen und Shopping-Malls. Neben diesem Aspekt trieb Richter auch ein persönlicher an: Das Werk begleitet ihn seit jüngsten Tagen.
Und dieser Respekt wird deutlich. Statt einer radikalen Neukomposition agiert Richter dezenter. Beim ersten Durchlauf klingt die CD deutlich nach Vivaldi, erst langsam begreift man die analogen Synthesizer als eigenständige Komponente, die aber stark im Hintergrund bleibt. Ein bisschen mehr Mut, eigene Akzente zu setzen, wäre wünschenswert gewesen. So stellt die Rekomposition eine solide Arbeit dar, die mit Sicherheit goutiert wird. Wer aber mit Richters Werken vertraut ist, kann eine leichte Enttäuschung nicht verbergen.
Max Richter: Vivaldi’s Four Seasons. Recomposed by Max Richter. Deutsche Grammophon (Universal). Zur Homepage.
Nachtdigital-Glückwunschplatte
(MO) Man muss sich Gabor Schablitzki alias Robag Wruhme als freundlichen Typen vorstellen: der DJ und Producer aus Jena veröffentlicht Platten mit ulkigen Titeln wie „Metawuffmischfelge“ oder „Wuppdeckmischmampflow“, sein eigenes Label heißt Freude am Tanzen und er selbst hat großen Spaß an Pseudonymen: neben Robag Wruhme ist er noch Wighnomy Brothers (gemeinsam mit Sören Bodner, aber auch allein), Rolf Oksen, Themroc und Die Dubrolle.
Seine Mixe hingegen sind zum Glück keine Tischfeuerwerke der guten Laune, sondern einzigartig harmonische, warmherzige, zurückhaltende und gleichzeitig unverwechselbare Bearbeitungen, die jeden Club zum Wohnzimmer machen und jedes Wohnzimmer zum Club. Oder zur nächtlichen Grillparty: das aktuelle Wruhme-Album „Olgamikks“ wird anlässlich des 15. Nachtdigital Festivals im Spreewaldörtchen – Achtung! – Olganitz veröffentlicht.
Auf „Olgamikks“ befinden sich zwölf Remixe, die Wruhme in den letzten Jahren für Leute wie Fenin, Romboy, Guy Boratto, Dntel, Modeselektor featuring Thom Yorke (!) gemacht hat, plus zwei bisher unveröffentlichter eigener Tracks. „Olgamikks“ ist also Wruhme-Best-of und Nachtdigital-Glückwunschplatte, und selten konnte man mehrere Fliegen besser mit einer Klappe erwischen.
Robag Wruhme: Olgamikks. Pampa Records. Zur Homepage.
Anmutige Hölle
(RK) Der Bandname Swans sei gewählt worden, weil Schwäne am besten die Musik repräsentierten, ließ Frontmann, Gitarrist und Komponist Michael Gira einst verlauten. Mit entsprechender Eleganz sagte die Band 1996 adieu, verkroch sich ins Schilf und ward lange Zeit nicht gesehen.
2010 erfolgte das Comeback, es gab ein neues Album und Konzerte, bei denen die Theatersäle in Schutt und Asche gelegt wurden. Was soll darauf folgen, fragte man sich dereinst. Die Antwort kommt in Form einer Doppel-CD resp. einer 3-LP. „The Seer“ toppt all das Dagewesene noch einmal mit leichter Hand und schweren, schleppenden Rhythmen. Bereits der Opener „Lunacy“ markiert die Richtung: ein finsteres Mantra, nihilistisch und beklemmend.
Jedoch handelt es sich bei der ersten CD noch um ein Vorspiel, denn der zweite Silberling, der Songs mit bis zu 25 Minuten Länge enthält, lässt keine Chance mehr, sich dem Zerstörungswillen zu entziehen. Solopsistische Texte, untermalt von langsam bohrenden Riffs und nachhaltiger Percussion. So anmutig kann die Hölle sein. Ein akustisches Manifest des schwarzen Schwans!
Swans: The Seer. Young God Records. Zur Homepage.
Die gute alte Zeit
(TM) Joy Denalane ist zurück, Max Herre hat seine Lieblingmuse wieder. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb Herre nun auch wieder rappt. Das klingt ähnlich gut wie auf dem Durchbruchsalbum „Esperanto“ seiner Band Freundeskreis. Und auch inhaltlich fühlt man sich an die gute alte Zeit erinnert, denn Herre ist wieder politisch.
Verteilungsungerechtigkeit in Deutschland, Freiheitskämpfe in Ägypten und Syrien, Entfremdung der Arbeit, Wutbürger, hier findet alles seinen Platz. Ein bisschen selbstbeschaulich darf’s auch sein, beim Duett mit Philipp Poisel bei „Wolke 7“. Der allseits umtriebige und nicht zu umgehende Samy Deluxe unterstützt beim schön pumpenden „Einstürzen Neubauen“. Ein Album, das die Ahnen Gill Scott Heron und Curtis Mayfield, aber auch die gute alte Hip-Hop-Zeit von Acts wie Eins Zwo im Rücken hat und vom ersten Ton an Spaß macht.
Max Herre: Hallo Welt! Universal. Zur Homepage.
Urlaubstag im Sommer
(RK) Der Schwede Martin Tingvall komponierte u. a. die Musik zum Film „Zweiohrküken” und für einen „Tatort” und spielt mit dem Tingvall-Trio fluffigen, melodiösen Jazz. Insofern mag Udo Lindenbergs Vergleich, Tingvall verfüge über ein ähnliches Potenzial wie der norwegische Klassik-Komponist Grieg, verwundern. Die Solo-Scheibe des 35-Jährigen offenbart, was Panik-Udo offenbar bereits kannte: Fragile Klavierkompositionen, die der Spätromantik ebenso nah stehen wie dem Pop.
Die Songtitel verweisen auf die musikalischen Motive, die sich um einen Tag drehen, an dem das Spiel mit den Kindern, plagende Mücken, das Hissen der Flagge am Nationalfeiertag und ein Gewitter eine Rolle spielen. 14 Songs, die zwar für sich stehen können, die aber als durchgängige Komposition einen ähnlich beschwingten Eindruck wie ein Urlaubstag im Sommer hinterlassen.
Martin Tingvall: En ny dag. Skip Records (Soulfood). Ein Interview in Hamburg.
Verschenktes Potenzial
(RK) 2006 überraschten die Amerikaner Punch Brothers mit ihrem Debüt „How To Grow A Woman From The Ground“, das sich als lupenreiner Bluegrass mit einer progressiven Note erwies. Angeblich nach einer weinseligen Nacht mit Gesprächen über zerbrochene Beziehungen entstanden, klang das Quartett frisch und unverbraucht.
Nach dem Zweitwerk „Antifogmatik“ (2010) ist von der Unbedarftheit nicht mehr viel geblieben. „Who’s Feeling Young Now?“ klingt routiniert und abgeklärt. Das Banjo und die Violine stellen noch immer integrale Bestandteile des Bandgefüges dar. Aber die Kompositionen plätschern ohne Höhepunkte daher.
Die Punch Brothers mögen damit ebenso Nerd- wie Mainstream-kompatibel sein (was erklärt, warum ihre Songs plötzlich Hollywood-Blockbuster untermalen), man könnte dies aber auch für Beliebigkeit halten. Letztlich verneint die Band mit ihrer Musik die Frage des Albumtitels. Definitiv verschenktes Potenzial.
Punch Brothers: Who’s Feeling Young Now? Nonesuch (Warner).
Saftiger Rock
(TM) Eine der einflussreichsten deutschen Bands der 70er-Jahre wird jetzt dank des Labels MiG (steht für Made in Germany) neu entdeckt. Karthago spielten eine ingeniöse Mischung aus Psychedelic, Samba und Progrock. Der Opener „String Rambler“ beispielsweise erinnert stark an die frühen Stücke von Fleetwood Mac oder Santana.
Bei Songs wie „I Don‘t Live Tomorrow“ zeigt sich dann wieder ganz deutlich der Hang der Band zum saftigen Rock. Mit dem selbstbetitelten Album hatten sie 1971 ihren Durchbruch. Jahrelang war die Platte vergriffen, jetzt kann man wieder zugreifen und sollte es auch. Große Innovationen sucht man bei Karthago zwar vergebens, doch wie souverän sie die Stiefel runterspielen und wie fett sie die Gitarren jaulen lassen, das ist schon ein großer Spaß.
Besonders zu loben ist auch das fantasievolle Artwork, das beim Re-Release gleich mit übernommen wurde – das Digipak stellt einen 14-seitigem ausfaltbaren Prospekt dar, mit Ausstanzungen und Gucklöchern, richtig filigran wirkt das.
Karthago: dito. MiG. Zur Homepage.
Unwiderstehlich
(MO) “Und Sie, liebst du mich?” Aurélie Saada und Sylvie Hoarau gehen forsch und grammatikalisch unkorrekt zur Sache und stellen eine eher rhetorische Frage, die nur mit „oui bien sûr!“ beantwortet werden kann – die beiden französischen Musikerinnen benannten sich nach all den berühmten und weniger berühmten Brigittes: Brigitte Bardot, Brigitte Fontaine, aber auch Brigitte, die Blumenhändlerin oder Brigitte, das leichte Mädchen. Das Duo Brigitte ist in Frankreich irre beliebt, die beiden sind ständig in TV-Shows zu sehen und touren sich den Hintern ab.
Die beiden haben viel Spaß an der Inszenierung, treten in Goldlamée-Kleidern und streng verteilten Rollen auf: Aurélie verkörpert mit ihrer riesigen Brille die introvertierte Hipsterin, Sylvie gibt die glamouröse Discodiva. Brigittes Debütalbum erschien vor einem Jahr in Frankreich und ist jetzt endlich auch bei uns zu haben: Aurélie und Sylvie verpacken gemeine und teilweise ziemlich versaute Texte in verführerische Popsongs mit Sechzigerjahre-Chanson-Appeal oder elektronifizierte Hip-Hop-Beats, die klingen, als hätten CocoRosie auf dem Montmartre ein Spontankonzert gegeben.
„Battez vous“ oder „Coeur de Chewing Gum“ sind umwerfend eingängig, „Ma Benz“ eine coole Replik auf Janis Joplins „Mercedes Benz“; „Jesus Sexsymbol“ und „Oh La La“ wirken wie eine Melange aus Lio und Les Rita Mitsouko. Sehr lustig, frivol und unwiderstehlich.
Brigitte: Et vous tu m’aimes? 3em Bureau/Wagram (Indigo). Brigitte auf Facebook.
Drone-Art
(RK) In der mittelalterlichen Kirchenmusik wurde relativ spät der lokrische Modus eingeführt, um das System zyklisch verwandter Skalen zu vervollständigen. Heutzutage spielt die Skala nur noch eine untergeordnete Rolle, kommt bestenfalls in den kaum miteinander verwandten Stilen Klezmer, Jazz und Metal vor. Den Namen der Band Locrian verstehen somit nur Eingeweihte. André Foisy (Gitarre, Bass, Bandmaschine) und Terrence Hannum (Tasteninstrumente) zogen vor etlichen Jahren aus dem Norden resp. Süden der USA nach Chicago, um dort zu studieren.
Als Ausgleich zu drögen Vorlesungen und endlosen Sessions in den Universitätsbibliotheken begannen sie wieder zu musizieren. Beide wurden durch Hardcore sozialisiert, doch ihre privaten Vorlieben reichen von Neuer Musik über King Crimson und Yes bis hin zu Throbbing Gristle und Whitehouse. Zusammen mit Drummer Steven Hess spielen sie eine eigentümliche Drone-Art, die mal nach elegischen 70s klingt, um dann über die Richtung des bedrohlichen Dark Ambients den Weg zum Post Rock einzuschlagen. Seit 2005 aktiv, veröffentlicht das Trio seit drei Jahren konstant und viel.
Mit dem Wechsel zur Plattenfirma Relapse kommt es zur Wiederveröffentlichung zweier Werke, die mühelos als Doppel-Album durchgehen. In Überlänge daherkommend, schließen die Songs thematisch wunderbar aneinander an. Ein spannendes Hörerlebnis, das geschickt unterschiedliche Stile miteinander kombiniert.
Locrian: The Clearing & The Final Epoch. Relapse. Zur Homepage.