Neue Platten von und mit Comaduster, Telonius, Frida Hyvönen, Factory Floor, Chelsea Wolfe und Havnatt, gehört von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Stimme als Instrument
(RK) Das Debüt der Nine Inch Nails, „Pretty Hate Machine“ (1989), setzt sich aus fiebriger Elektronik und einer zwischen Verzweiflung und Wahnsinn oszillierenden Stimmung zusammen. Auf den späteren Alben verdeckten Gitarreneinsätze und Alternative-Flirts die Magie des Frühwerks. Der Nachfolger kommt 24 Jahre später in Form des Debütalbums des kanadischen Projekts Comaduster.
Nach der ersten EP vor vier Jahren, „Slip Through“, und dem Soundtrack für ein Videospiel liegt nunmehr die erste Langspielplatte vor, die spielerisch Grenzen aufbricht. Der Beat verweigert sich den klaren Mustern und Strukturen. Mal knarzend, später treibender, entzieht er sich der klaren Kategorisierung. Hie und da blicken Elemente aus Dubstep, Glitch oder IDM durch. Stile, die nicht unbedingt miteinander in Verbindung gebracht werden, harmonieren auf „Hollow Worlds“ perfekt. Ähnlich wie die DJ-Sets des ebenfalls aus Vancouver stammenden und in Berlin lebenden DJs Konrad Black (Wagon Repair) besticht Comaduster durch eine fesselnde Beat-Dramaturgie in Verbindung einer beklemmenden Atmosphäre, die gemeinhin die Kollegen aus dem Dark-Ambient-Bereich kreieren.
Bemerkenswert ist der Einsatz der Stimme – es handelt sich mitnichten um ein Instrumental-Album: So ist der Gesang den restlichen Klangelementen lediglich nebengeordnet. Ganz im Sinne des Theater-Revolutionärs Antonin Artaud wird die Stimme als Instrument und nicht als übergeordnete Instanz eingesetzt.
Comaduster: Hollow Worlds. Tympanik.
Schwungvoll
(MO) This is the Happy House! Das erste Soloalbum von Jonas Imbery alias Telonius hat allerdings nichts mit dem alten Siouxsie-Song gemeinsam: mit „Inter Face“ präsentiert sich Mathias Modicas Buddy (die beiden Münchner gründeten das Label Gomma und waren zusammen das Elektro-Duo Munk) als Groovemaster par excellence. Bei „Inter Face“ stehen die Tracks im Mittelpunkt, jeder Song ist ein sicherer Dancefloor-Filler, kein aufgepropftes Konzept stört den Genuss.
Fröhlich mixt Telonius Oldschool-House mit Disco, Funk, Elektropop und kleinen Prisen Acid und Dub, melodisch wie die Junior Boys, geschmeidig und geschmackvoll wie einst Munk. Der Bass pumpt tief und treffsicher, Streicher und Bläser sorgen für euphorische Momente in The House of Telonius.
Typisch house-ig ist auch der Einsatz von GastsängerInnen: die Vocals von Elizabeth Wight, Kokutekeleza Musebeni und Isis Salam bringen souligen Touch in Songs wie „Kiss Your Face“ und „I Make You Man“, Faberyayo von der niederländischen Band Lele singt auf „Swimsuit (shopping with you)“ so knödelig-cheesy, dass die verspiegelte Piloten-Sonnenbrille buchstäblich vor Augen erscheint.
Und das ist auch der einzige Minuspunkt dieses ansonsten so schwungvollen und optimistisch stimmenden Albums: es ist manchmal ein bisschen zu happy. Aber meine Güte, man kann schlimmere Probleme haben, nicht wahr?
Telonius: Inter Face. Gomma.
Pop-affine Melancholie
(RK) Hierzulande gilt sie noch immer als Geheimtipp. In ihrer schwedischen Heimat veröffentlichte die 30-jährige Frida Hyvönen bereits mehrere, zuletzt auch in den Charts platzierte Langspielplatten, die den Akzent vor allem auf Gesang und ihr Piano-Spiel legen.
Das aktuelle Werk verlässt bisweilen die bekannten Pfade und präsentiert sich deutlich pop-affiner. Die Melancholie blieb jedoch erhalten und wird programmatisch im ersten Song „Gas Station“ deutlich, dessen Lyrics einen verlassenen Ort beschreiben, an dem die Geburt des Rock’n’Roll erinnert und gleichzeitig die eigene Heimatlosigkeit reflektiert wird: „But where do we belong / do we belong, do we belong? / I’m looking at 2 giant cheese slicers / leaning against each underneath / an empty sky!“ Jedoch verzaubert der Song nicht nur wegen der Stimmung und seiner Poesie, sondern entpuppt sich als lupenreiner Ohrwurm.
Heutzutage gibt es die Möglichkeit, einzelne Tracks eines Album über die bekannten Plattformen im Netz zu erwerben. In analogen Zeiten kaufte man Platten bereitwillig wegen eines oder zweier darauf befindlicher Lieder. „Gas Station“ besitzt dieses Kaliber. Jedoch müssen sich die restlichen Tracks dahinter nicht verstecken.
Mit „Gold“ verbirgt sich eine außergewöhnliche Komposition auf dem hinteren Teil der CD. Die weiteren zehn Tracks changieren zwischen Dream-Pop, fragilem Indie und ABBA-esken Anleihen. Erstaunlich vielfältig und stets auf hohem Niveau präsentiert sich Hyvönen auf ihrem neuen Album, das in den Jahresrankings ganz oben mitspielen dürfte.
Frida Hyvönen: To The Soul. RMV Grammophon/Snowhite.
Postapokalyptisch
(TM) Bereits jetzt schon legendär sind die Liveshows des Londoner Trios Factory Floor, das jetzt sein Debütalbum bei James Murphys DFA veröffentlicht. Ihr Entdecker Jonathan Gilka vergleicht die Livepräsenz der Band mit augenöffnenden Shows von z. B. My Bloody Valentine. Der kraftvolle, dunkle Elektro-Sound von Gabriel Gurnsey, Dominic Butler und Nic Colk Void zielt zwar ganz eindeutig auf den Dancefloor, aber nicht nur DJs wie Thomas Meinecke hören Housekracher auf der heimischen Anlage – wir auch! „Factory Floor“ schafft es, gleichzeitig progressiv, dunkel, avantgardistisch und repetitiv zu klingen.
Allein das Equipment, mit dem es aufgenommen wurde, lässt einen kreischen, denn Dave Stewart hat auf ebenjenem Mischpult in den 80ern Eurythmics-Hits produziert. Tracks wie „Fall Back“ (das auch bereits als Single veröffentlicht wurde) haben tatsächlich eine rohe Energie zwischen Dance und Rock, wie sie z. B. fürs LCD Soundsystem typisch ist. Die düsteren Vocals von Colk wirke dabei eher als weiteres Instrument als zur textlichen Ergänzung der auf harten Drumbeats basierenden Tracks. Unbedingt auf dem Zettel behalten für den postapokalyptischen Tanztee!
Factory Floor: dito. DFA/PIAS/Cooperative Music (Rough Trade).
Drama, Baby!
(MO) Es ist nicht ganz einfach, die Musik von Chelsea Wolfe zu beschreiben: Hypnagogic Pop wurde schon ins Feld geführt, auch Dark Ambient, Gothic-oder Doom-Folk sollen dazu dienen, die dunklen Phantasien der aus Sacramento, Kalifornien stammenden Singer/Songwriterin (noch so ein Begriff…) in Worte zu fassen. Sie selbst sagt, dass sie „basically casio-based gothy R&B songs” machen und gern wie Kurt Cobain singen würde.
Wie dem auch sei, Wolfe veröffentlicht seit 2006 regelmäßig Platten, doch erst jetzt beziehungsweise seit 2012 scheint die Zeit reif für ihre Kunst: als sie im vergangenen Herbst ankündigte, nach dem Akustik-Album „Unknown Rooms“ eine eher elektronisch ausgerichtete Platte machen zu wollen, machte der Buzz im Netz und anderswo sofort die Runde.
Wolfes neue Songs zelebrieren – siehe Albumtitel – die Schönheit des Schmerzes, düster-elegische Balladen wie „Ancestors, the Ancients“ und „They´ll Clap When You´re Gone“ herrschen vor und gemahnen an die Vergänglichkeit des Lebens. Besonders interessant wird es, wenn Chelsea Wolfe den getragenen Duktus aufbricht und elektronifizierte Beats ins Spiel bringt wie beim fast schon tanzbaren „Desctruction Makes the World Burn Brighter“, das weniger morbid klingt als der Titel es vermuten lässt.
Die Songs sind von erhabener Schönheit und werden all denen gefallen, die Zola Jesus, Soap and Skin und Esben and the Witch mögen – Chelsea Wolfe kann übrigens auch Mark Lanegan zu ihren Fans zählen, der einen ihrer Songs auf sein neues Album gepackt hat.
Chelsea Wolfe: Pain Is Beauty. Sargent House (Cargo). Zur Homepage der Band.
Fließende Grenzen
(RK) Die norwegische Theaterwissenschaftlerin Kari Bremnes, die seit 30 Jahren Musik schreibt und aufnimmt, schwärmt von der rohe Intensität des nordischen Black Metals. Enslaved, Protagonisten dieser Szene, wiederum vertonen den Theater-Autoren Ibsen und der in Berlin lebende Regisseur Vegard Vinge, der ausschließlich Ibsen inszeniert, erklärt seinen Schauspielern in den Pausen norwegische Musik, von Pop bis Black Metal.
Die Grenzen zwischen Hoch- und Subkultur sind in Skandinavien fließender (denn wohl kaum würden in Deutschland Schiller-Texte im Metal-Bereich vertont werden, und ein Barde vom Format eines Klaus Hoffmann würde mitnichten rohen Black Metal goutieren). Unter diesen Voraussetzungen stellt die Beschäftigung junger Musiker mit der Lyrik von Tormod Skagestad (1920-1997) keine wirkliche Überraschung dar. Der Theaterintendant, Stücke-Schreiber und Dichter wurde von Cecilie Langlie (Gesang) und Tom Simonsen (Gitarre) aka Havnatt bereits auf deren Debüt-EP „Havdogn“ (2006) vertont, die im letzten Jahr noch einmal remastered veröffentlicht wurde.
Ursprünglich sollte es sich um eine einmalige Angelegenheit handeln, jedoch liegt nun ein Werk in Albumlänge vor, das sowohl den Literaturaffinen wie auch Anhängern von The 3rd and the Mortal pure Freudentränen in die Augen treibt! Kammermusikähnliche Arrangements treffen auf Langlies glockenklar vorgetragene Interpretationen der Skagestad-Gedichte. Das Duo nähert sich dem Text mit Respekt und gebührlicher Ernsthaftigkeit, verfällt jedoch nicht in die Lyrik-Illustration, sondern behält ebenso die klangliche Gewichtung im Auge: ein Meisterwerk!
Havnatt: Etterlatte. Secret Quarters.
Babyshambles
Wikipedia: Babyshambles are an English indie rock band established in London. →