Neue Platten von und mit Gazelle Twin, Bonnie ‚Prince‘ Billy und Perfume Genius, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Gazelle Twin: Unflesh
(MO) Elizabeth Bernholz kommt aus dem britischen Badeort Brighton, aber das, was die Elektrokünstlerin unter ihrem Alias Gazelle Twin fabriziert, klingt weder beschaulich-erholsam noch nach Mods-vs.-Rocker-Hymnen à la The Who. Ihr erstes Album „The Entire City“ (2011) und die Vorliebe für aufsehenerregende Kostümierungen brachten ihr Vergleiche mit Fever Ray/Karin Dreijer Andersson ein, die düstere, dystopische Atmosphäre erinnerte manche an John Carpenters Soundtrack zum Film „Die Klapperschlange“. Auf „Unflesh“ wird die Musik nicht gefälliger, die Themen nicht bequemer, schon auf dem Cover zeigt sich das: Unter blauem Hoody zeigt Gazelle Twin kein Gesicht, sondern ein rohes Stück Fleisch mit gefletschten Zähnen – Grusel auf den zweiten Blick, Spiel mit den Erwartungen: so funktioniert auch Gazelle Twins Musik, die sich nur schwer in Kategorien packen lässt.
Bernholz arbeitet am Liebsten mit antiken Synthesizern wie dem Moog Modular, produziert also durchaus warme, organische Sounds, aber auch wenn ab und zu Beats wummern, sind Tracks wie „Belly Of The Beast“ oder „Human Touch“ nicht zum Tanzen gedacht. Gazelle Twin spielt mit Hall und Echo, mit geschredderten Melodiefetzen und geisterhaften Stimmen: ein kubistisches Klanggefüge, faszinierend und furchteinflößend zugleich. Die Texte tun ein Übriges: das trügerisch sanfte, wie ein Wiegenlied beginnende „Premonition“ handelt von einer Fehlgeburt, in „Good Death“ geht es um Euthanasie, „I Feel Blood“ thematisiert Kolonialisierung. Traumata, Tod und Grauen überall – dennoch ist „Unflesh“ auf seltsame Weise zugänglich und mit der Fokussierung explizit körperlicher issues ein Gegenpol zur allgegenwärtigen Fleischbeschau im Pop.
Gazelle Twin: Unflesh (Anti Ghost/Moonray). Zur Webseite der Band.
Bonnie ‚Prince‘ Billy: Singer’s Grave A Sea Of Tongues
(TM) Mit „Wolfroy Goes To Down“ veröffentlichte Will Oldham alias Bonnie ‚Prince‘ Billy im Jahr 2011 ein Album, das als eines seiner minimalsten in die Geschichte eingehen wird. Mehr als eine akustische Gitarre begleitete den Großmeister des amerikanischen Geschichtenerzählens dabei nicht. Vielleicht lag es auch daran, dass die Platte relativ unbeachtet blieb. Oldham wird bemerkt haben, dass viele der auf „Wolfroy Goes Down“ vorgestellten Songs eine Neubearbeitung verdient hatten, und so kommt jetzt „Singer’s Grave A Sea Of Tongues“ in die Läden.
Darauf gönnt er sich und uns eine veritable Band inklusive Streichern, Gitarren und Backgroundsängerinnen – aus Lo-Fi wird hier eine somnambule Stimmung wie auf den besten Lambchop-Platten. Kein Wunder, ist doch Produzent Mark Nevers, mit dem Oldham das Album in Nashville (!) aufnahm, auch schon für Kurt Wagner & Co. tätig gewesen. Songs wie „We Are Unhappy“ oder das wunderbar arrangierte „No Match“ werden in Zukunft als Teil der vielen Leuchttürme in Oldhams Schaffen gehandelt werden. Apropos: „Singer’s Grave A Sea Of Tongues“ ist geradezu ein Lehrstück an gelungenen Arrangements und also in aller Stille eine wahre Freude.
Bonnie ‚Prince‘ Billy: Singer’s Grave A Sea Of Tongues. Drag City/Domino (Rough Trade).
Perfume Genius: Too Bright
(MO) Dass “Too Bright” Mike Hadreas’ wütendstes und zornigstes Album unter seinem Künstlernamen Perfume Genius sein soll, verwundert zunächst angesichts der fragilen Klänge des Titelsongs. Mit sanfter Art-Garfunkel-Stimme sinniert der 30-Jährige zu zartem Klavierspiel über das Ende einer Liebe – und doch, wenn man genau hinhört, spürt man den Umschwung: Nach zwei Platten („Learning“/2012, „Put Your Back N 2 It“/2012) voller schüchterner, selbstzweiflerischer Songs zeigt sich Hadreas jetzt stark und selbstbewusst: Ein Satz wie „I don´t need you anymore“ mag ein fester Topos im Pop-Repertoire sein, von Perfume Genius gesungen/gehaucht wird er zum emanzipatorischen Statement.
Perfume Genius schüttelt auf „Too Bright“ alles Hadern mit seiner Person ab: Keine Scham mehr wegen seines Schwulseins, kein schlechtes Gewissen wegen vieler (überstandener) Süchte: Auf dem Cover präsentiert er sich androgyn und sexy, in einigen Songs wie der Single „Queen“ experimentiert er mit Beats, eingängigen Melodien und opulenten Arrangements – ermuntert und unterstützt von PJ Harveys kongenialem Producer John Parish und Adrian Utley von Portishead. Der „neue“ Perfume Genius schwelgt noch immer am liebsten in porzellanenen Klavierballaden wie „I Decline“, „No Good“ und „All Along“, doch das neue Selbstbewusstsein steht ihm äußerst gut.
Perfume Genius: Too Bright. Matador/Beggars. Die Band bei Facebook.