Neue Platten von und mit Matthew E. White, Esben and the Witch, Miles Davis Quintet, The Soft Hills und Eels, gehört von Janine Andert (JA), Tina Manske (TM) und Tina Karolina Stauner (TKS).
Hippie-Image
(JA) Es ist fast so, als wären Bill Callahan oder Morphines Saxophon mit einer Zeitmaschine in die 70er-Jahre gereist und hätten sich dort eine ganz fiese Frisur zugelegt. Das ist durchaus hörenswert, nur bekommt man Augenkrebs. „Big Inner“ ist ein gelungenes Album, dessen Cover dringend ignoriert werden sollte, um sich auf das Wesentliche, die Musik, konzentrieren zu können.
So haarig wie sich der Amerikaner Matthew E. White dort nämlich präsentiert, poppen sofort „Jesus Christ Superstar“-Gedenkalben im Kopf auf. Die sieben Songs verweisen zwar auf den Country-Soul der frühen 70er, aber hey, Schwamm drüber! Ein bisschen zeitgemäß aufgebrezelt ist dieses Debüt schon. Entspannter LOFI trifft auf Bläsersätze, Streicher-Arrangements und Backgroundchor. Wenn White in die Pianotasten haut, schimmert durch, dass er nebenbei noch Kopf einer Avantgarde-Jazz-Band ist. Rat fürs Album holte sich White zudem bei Randy Newman.
Und ganz nebenbei nahm der 29-jährige „Big Inner“ auf seinem eigenen Label Spacebombs auf. „Big Inner“ ist ein Kleinod, das sich den kleinen großen Dingen wie Liebe, Tod, Freundschaft und der Kraft der Musik widmet. Ein Kleinod, bis der evangelische Missionarssohn durchbricht.
Matthew E. White – „Will You Love Me“ von domino
Und dann wären wir doch genau bei dem, was uns das Cover verheißt. Textzeilen wie „Jesus Christ is our love/ Jesus Christ is your friend” erinnern unangenehm an den protestantischen Jesus-Zirkel. Religion in der Popmusik taugt einfach nur, wenn sie alttestamentarisch ist, d. h. irgendwas mit Rache und Blutbad vorkommt.
Wenn es dann schon unbedingt zu den Evangelien kommen muss, dann bitte zum Johannes-Evangelium – Apokalypse für alle! Aber doch nicht ‚Jesus liebt dich‘. Und damit ist dann leider das Hippie-Image perfekt. Nicht nur äußerlich, sondern auch textlich wird hier Jesus Christ Superstar gefeiert. Aber immerhin mit guter Musik und im weißen Anzug.
Matthew E. White: Big Inner. Domino Records (Goodtogo). Zur Homepage und Facebook. Reinhören bei Soundcloud.
Die Gruftie-Party ist vorbei
(JA) Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach ihrem Debütalbum „Violet Cries“ treten Esben and the Witch den Beweis an, dass die Weiterentwicklung in gefälligere Musikgefilde durchaus positiv sein kann. Das Debüt strotzte noch von Anleihen bei Siouxie & the Banshees auf halber Geschwindigkeit. Das Brightoner Trio hat nun die 80er Gruftie-Party hinter sich gelassen.
Auf „Wash The Sins Not Only The Face“ wird am Tempo gedreht und Noise-Gitarren werden rausgeholt. Sängerin Rachel Davies kämpft mit ihrer Stimme gegen Daniel Copemans und Thomas Fishers Gitarrenspiel an. Der Bass pulsiert im Hintergrund. Das bringt gehörig Spannung in die Angelegenheit und emanzipiert die Band von ihrem narkotisierenden Image. „Nightmare Pop“ – wie sich die Band einst selbst einordnete – ist das immer noch.
Esben And The Witch – Despair on MUZU.TV.
Aber die Nebelschwaden lichten sich … ein bisschen. Es ist als hätten Esben and the Witch in den vergangenen zwei Jahren viel A Place To Bury Strangers gehört. Auch das Songwriting verzichtet auf die inflationäre Nutzung der Wörter „blackness“, „light“, „darkness“, „strange“ und „lost“.
Der Track „The Fall Of Glorieta Mountain“ zeigt mit seiner zarten Melancholie am besten, was Esben and the Witch jenseits von schwarzen Plattitüden können: Ein unter die Haut gehender Song, der in Richtung The XX verweist und gleichzeitig Eigenständigkeit offenbart. „Wash The Sins Not Only The Face“ ist ein großer Schritt nach vorne für die Band. Direkter. Ein düsteres Album mit viel Charme; meilenweit von Pop entfernt, dabei aber ein absoluter Tipp für Freunde dunkler Klänge.
Esben and the Witch: Wash The Sins Not Only The Face. Matador/Beggars Group (Indigo). Zur Homepage und Facebook. Reinhören bei Soundcloud.
Energie und Schaffenskraft
(TM) Mit diesem Package wird eine Lücke in der Diskographie der Jazzikone Miles Davis geschlossen. Denn Studioalben des sogenannten Miles Davis Quintets, bestehend aus Davis (t), Wayne Shorter (sax), Chick Corea (p), Dave Holland (b) und Jack DeJohnette (d), existieren nicht – man nannte sie auch the lost band. Daher ist diese Veröffentlichung eine wirkliche editorische Sensation. Die Bootleg-Serie wurde während Auftritten des Quintets in La Pinède, Stockholm und Berlin im Jahr 1969 aufgenommen.
Die erste Ausgabe der Bootleg-Serie präsentierte Aufnahmen von Miles Davis zusammen mit Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter and Tony Williams, aufgenommen 1967. Seitdem hatte sich also die gesamte Rhythmussektion komplett geändert.
Wir begegnen Miles Davis und seinen Mitstreitern 1969 also in einer Phase der Umorientierung, und dementsprechend wild und chaotisch ist sind auch diese Aufnahmen. Was nichts Schlechtes ist, im Gegenteil: mehr Energie und Schaffenskraft, als sie sich hier zwischen den Akteuren entwickeln, wird man sich kaum wünschen können. Ergänzt wird das Ganze mit den Höhepunkten, gebannt auf DVD. Das Mastering ist exquisit und erlaubt es, auch die Unreinheiten, die Rauheiten des Spiels zu goutieren.
Miles Davis Quintet: Live In Europe 1969. 3 CD + DVD. Columbia/Legacy (Sony).
Schillernd-düster Traumhaftes
(TKS) Wenn man die ersten Stücke der CD „Chromatisms“ von The Soft Hills überspringt, gerät man von da an mit „Dear Mr. Moonlight“ in das Schöne, das die Soft Hills dann doch einigermaßen hörenswert und individuell macht: somnambulen Post-Rock schwer zum Pop tendierend mit Ambienthaftem.
Viel Hall im Gesang,und je schleppender das Schlagzeug, je träger die Saiteninstrumente, je atmosphärischer der Moog-Synthesizer, desto besser. Von den dunkleren Bereichen des Sonischen und Lyrischen wird berichtet: Da gibt es zeitreisende Vogelmenschen, einen aus dem Paradies vertriebenen Schizophrenen, ozeanische Traumtherapie, einen Brief an den Mond und dergleichen mehr.
The Soft Hills wurden 2007 in Seattle von dem Singer-Songwriter Garrett Hobba gegründet und haben mit „Chromatisms“ nun ihre zweite CD veröffentlicht. Mit Stücken wie „The Gifts You Hide“ oder „Mighty River“ prägen sie sich ein und können manchmal ganz gut als Backing Sound passen. Es gibt aber doch die einen oder anderen Untiefen, über die man bei der CD hinweggehen muss.
The Soft Hills: Chromatisms. Tapete Records (Indigo). Zur Homepage und Facebook. Reinhören bei Soundcloud.
Vom Trauerkloß zum Neuanfang
(JA) Erwähnten wir eigentlich schon, was für ein extrem großartiges Musikjahr 2013 ist? Ein weiterer Beweis Ist „Wonderful, Glorious“ von Eels. Mastermind Mark Oliver Everett (aka E) veröffentlicht nach drei Jahren sein zehntes Studioalbum, das alle Erwartungen einlöst und sogar noch darüber hinausgeht.
Die 2009/10er-Triologie „Hombro Lobo“, „End Times“ und „Tomorrow Morning“ war nett, konnte aber nicht an Alben wie „Beautiful Freak“ (1996), „Electro-Shock Blues“ (1998), „Daisies Of The Galaxy“ (2000) und „SHOOTENANNY!“ (2003) anknüpfen. Verzwickte Situation – die Genialität dieser Alben rekrutierte sicherlich aus der Verarbeitung persönlicher Schicksalsschläge wie dem Suizid seiner Schwester und dem Krebstod seiner Mutter.
Everett widmete sich in den letzten Jahren vermehrt Seitenprojekten. Er schrieb seine Autobiographie „Things The Grandchildren Should Know“ und arbeitete zusammen mit der BBC an einer Dokumentation über sich, „Parallel Worlds, Parallel Lives“. Immerhin ist er der Sohn des rennumierten Quantenphysikers Hugh Everett III. Das Buch wurde ein Bestseller, die Dokumentation gewann eine Menge Preise. Da könnte er sich drauf ausruhen. Doch Everett stellte fest: „Every time I branch out and try something else, I think it will be some kind of relief to take a break from music. But I always come back with my tail between my legs, because there’s nothing I enjoy more than making music. The other projects have been great experiences for me, but this is what I love to do.“
Diese Liebe zur Musik ist es, was durch das gesamte Werk „Wonderful, Glorious“ durchscheint und Eels‘ Stärke des Songwritings manifestiert. Nicht umsonst werden seine Tracks seit Jahren in unzähligen Filmen und Serien verwandt. Sie verdichten eine Filmszene und vermitteln etwas über Dialog und Bild hinaus.
Eels – „Peach Blossom“ from stereogum on Vimeo.
Aufgenommen in Everetts neuem Studio in LA wird der Hörer auf „Wonderful, Glorious“ eines neuen Esprits gewahr. E bezog seine Band in den Entstehungsprozess des Albums ein und konstatiert: „The only rule I had was ‘let’s try it,’ if anyone in the room had an idea, I’d say ‘let’s try it.’“ In „Peach Blossom“ wummern die Gitarren. Die Stimme klingt wie durch ein Megaphon gebrüllt. Da ist plötzlich Wut, die sich in positive Energie transformiert. Die Melancholie früherer Alben ist gewichen. Stattdessen liebäugelt Eels mit Tom Waits‘ Polka-Beats und Blues-Rock. Zwischenzeitlich schimmert immer wieder die Schwere alter Tage durch. Die Dramaturgie von „Wonderful, Glorious“ ist perfekt. Als Abschluss setzt der Titeltrack „Wonderful, Glorious“ neue Maßstäbe. Höre ich da richtig? Da groovt Disco-Sound mit.
Kurz vor dem 50sten Geburtstag, 20 Jahre nach dem ersten Album scheint Everett Frieden mit der Welt geschlossen zu haben und schreibt bessere Songs als je zuvor. „Wonderful, Glorious“ ist wieder eines dieser starken Eels-Alben, zu denen man heulend durch Großstadtstraßen im Nieselregen irren will und sich dabei glücklich fühlt. Vom eigenwilligen Beat durch die Häuserschluchten getrieben wird und befreit und zufrieden morgens in der Wohnung ankommt. Vom Trauerkloß zum Neuanfang auf einem Album durch die Nacht. „Wonderful, Glorious“!
Eels: Wonderful, Glorious. Cooperative Music (Universal). Zur Homepage und Facebook. Reinhören bei Soundcloud.
CULTurMAG nimmt am Amazon-Partnerprogramm teil: