Neue Platten von und mit Maya Jane Coles, The Blue Project, Slut, The Proclaimers, Colloquio und AlunaGeorge, gehört von Ronald Klein (RK), Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Britisch und düster
(MO) Die 25-jährige Londoner Produzentin und Elektromusikerin Maya Jane Coles macht zurzeit eine rasante Entwicklung vom Geheimtipp zu Everybody´s Darling durch – allerdings nur in ihrer jetzigen Erscheinungsform unter ihrem bürgerlichen Namen. Seit einigen Jahren ist Coles mit ihren Dubstep- und Electro-Dub-Projekten She Is Danger und Nocturnal Sunshine aktiv, ist überdies eine begehrte Remixerin; ihre ersten eigenen Tracks programmierte sie bereits als Teenager.
Spätestens 2011 war es Zeit für Maya Jane Coles in Reinkultur: ihre Deep-House-Gigs begeisterten Dancecrowds dies- und jenseits des Ärmelkanals, etliche Awards belegen ihren Ruhm, die von ihr kompilierte DJ-Kicks-Compilation wurde umgehend zum Klassiker. Endlich, endlich ist ihr Album „Comfort“ draußen, und die Wartezeit hat sich vollends gelohnt: Obwohl spektakuläre GastsängerInnen wie Tricky, Karin Park, Kim Ann Foxman oder Nadine Shah zu hören sind, trägt jeder einzelne der zwölf Tracks Mayas prägnante Handschrift.
Sehr britischer, düsterer Dubstep/Trip-Hop bildet die Basis für House- und Disco-Flows; unüberhörbar ist Maya Jane Coles Jugend in den Neunzigern: R’n’B- und Hip-Hop-Einsprengsel sorgen auf „Comfort“ für spannende Details, die aber glücklicherweise nicht als cheesy Retro-Attitüde rüberkommen. Coles sieht sich zwar in erster Linie als Produzentin, trotzdem ist ihr Talent als Komponistin unverkennbar. Dass sie ihre Tracks vergleichsweise konventionell mit Bass oder Gitarre aufnimmt und hinterher elektronisch bearbeitet, ist ganz offensichtlich ein Erfolgsrezept.
Maya Jane Coles: Comfort. I/Am/Me/Kobalt (Rough Trade). Zur Homepage.
Vereinnahmend
(RK) In David Lynchs meisterhaft in Szene gesetzten Fantasy-Krimi-Serie „Twin Peaks“ stellt „Project Blue“ einen FBI-Code für einen Einsatz dar, der ebenso geheimnisvolle wie auch streng geheime Elemente enthält. Den Soundtrack für die 28-teilige Serie besorgte Angelo Badalamenti, ein amerikanischer Komponist italienischer Abstammung.
Er hätte aber auch ebenso gut von The Blue Project stammen können. Die italienische Formation kombiniert beklemmende, zum Teil verstörende Ambient-Klänge mit dem fragilen Gesang Maria Cristina Anzolas. Letztere wirkte bereits bei der Wave-Combo The Bel Am, die jedoch 1993 nach einer herausragenden EP wieder verschwand. Insofern scheint The Blue Project als Bandname hervorragend gewählt.
Wie aus dem Nichts taucht Anzolas auf und füllt mit „Adrift“ eine Lücke, die mit dem Verschwinden der norwegischen Avantgarde-Goth-TripHop-Formation The 3rd And The Mortal entstand, deren letztes Lebenszeichen übrigens „Project Bluebook“ (2003) hieß. Ob Zufall oder nicht, The Blue Project lassen vieles möglich erscheinen, so vereinnahmend klingt „Adrift“, das sich schnell als Meisterwerk mit minimalen Mitteln erweist.
The Blue Project: Adrift. Eibon.
Atmosphärisch
(TM) Versuchen wir mal über den „Versuch“ hinwegzusehen, mit dem uns Julie Zeh im Waschzettel belästigt und sich dabei Sätze abringt, die Worte wie „Polyvalenz“ und „Opulenz“ möglichst kunstvoll verbinden (und dabei noch ein berühmtes Frank-Zappa-Zitat verfälscht und vergewaltigt). Kommen wir gleich zum Wesentlichen, nämlich dass die Ingolstädter Band Slut nach langer Pause – in der sie andere Dinge im Kopf hatten, wie zum Beispiel die Dreigroschenoper zu vertonen oder mit ebenjener Julie Zeh auf Lesereise zu gehen – ein neues Album herausbringt, das sie auf der Höhe ihrer Schaffenskraft zeigt.
12 Jahre nach dem fulminanten Erfolg des Konzeptalbums „Lookbook“, dessen Ohrwürmer wie „Andy“ (was für ein unglaublich schöner, unglaublich trauriger Popsong!) man heute noch im Kopf hat, weigern sich Slut wieder einmal, ein schlechtes Album zu machen. Kaum erhebt Chris Neuburger seine Stimme, fühlt man sich wieder zuhause. Zwar sind die offensichtlichen Hits (wie z. B. „Easy To Love“ vom Album „Nothing Will Go Wrong“) dieses Mal nicht dabei. Gerade im Vergleich aber zu diesen beiden erfolgreichsten Alben der Band zeigt sich, dass ihre Stärke mittlerweile besonders im Aufbau von Atmosphäre besteht.
„Silk Road Blues“ ist das schönste Beispiel dafür, noch dazu durchströmt von sehr östlichen Harmonien. Natürlich sind aber auch die bekannten Anklänge an Bands wie Joy Division oder Radiohead offensichtlich. Mit einem bewundernswerten Gleichmut macht sich diese Band langsam unsterblich. Produziert wurde „Alienation“ übrigens von einem Team bestehend aus allen Produzenten, mit denen Slut bisher zusammenarbeiteten: Tobias Levin, Olaf O.P.A.L., Tobias Siebert, Mario Thaler und Oliver Zülch.
Slut: Alienation. Cargo Records.
Zeitlos
(MO) Das schottische Duo The Proclaimers kam mir immer wie die etwas hölzerne, weniger schlaue Variante von They Might Be Giants – ebenfalls zu zweit – aus New York vor, was möglicherweise daran lag, dass ich als junges Mädchen eine Cassette besaß (und sehr liebte), auf deren A-Seite TMBGs Album „Lincoln“ kopiert war, auf der B-Seite „Sunshine On Leith“ von den Proclaimers mit dem Riesenhit „(I´m Gonna Be) 500 Miles“.
Ausgeliehen hatte ich beide Platten von einem Schulfreund, der mit seiner eigenen Band versuchte, den skurrilen Humor der zwei Johns (Flansburgh & Linnell) von TMBG mit dem retroiden Buddy-Holly-Style plus Satzgesang der Reid-Zwillinge (Craig & Charlie) zu verbinden. Das klappte nur bedingt gut und betonte die Unterschiede zwischen den Proclaimers und They Might Be Giants: Die Erstgenannten klangen trotz des Punk-Backgrounds der Reids sehr mainstreamkompatibel, ihre country- und celtic-beeinflussten Popsongs regten auch Oma und Opa nicht auf; Letztere waren eher die Band für Nerds (hier positiv besetzt) mit Distinktionswunsch. Heute, viele Jahre später, gibt es TMBG und die Proclaimers noch immer.
Die Stücke beider Duos laufen in TV-Serien, Kinofilmen und werden für Werbung benutzt, beide Bands geben gern und oft Konzerte, die Proclaimers waren unlängst mit den B-52´s auf Tour. Auch mein ehemaliger Mitschüler macht noch nebenher Musik und ist hauptberuflich IT-Berater, wie das Leben eben so spielt. Hört man die Proclaimers heute, muss man zugeben, dass Craig und Charlie alles richtig gemacht haben: direkt jugendlich klangen sie auch 1987 nicht, was ihnen den Vorteil absoluter Zeitlosigkeit verschafft; dank ihrer altmodischen Hornbrillen gehen sie heute sogar als Hipster-Vorbilder durch. Und Hits wie „King Of The Road“ oder „Letter From America“ sind einfach unkaputtbar – nachzuhören auf dem von den Reids selbst kompilierten Best-Of-Album „The Very Best Of 25 Years“.
The Proclaimers: The Very Best Of 25 Years 1987 – 2012. Doppel-CD, EMI Catalogue. Zur Homepage.
Erahnte Räume
(RK) Das italienische Duo Colloquio, bestehend aus Gianni Pedretti (Vocals, Piano, Synthesizer) und Sergio Calzoni (Synthesizer, Sound-Design) feiert in diesem Jahr den 20. Geburtstag. Auf „L’entrata – L’uscita“ gelingt der Spagat, eine unüberhörbare Reife, die sich vor allem durch Pedrettis Sprechgesang und seiner sonoren Stimme auszeichnet, mit ebenso aufregenden wie modernen Elektronik-Sprengseln zu kombinieren. Sämtliche Songs bewegen sich im Downtempo-Bereich mit schleppenden Beats, knarzenden Geräuschen und dezenten Saxofon-Einsätzen. Nicht nur durch das Blasinstrument, sondern durch die Arrangements wird eine Jazz-Affinität offenbar.
Jedoch transformieren beide Musiker ihre Vorliebe in ein Soundgewand, das nicht auf bereits Bekanntes setzt, sondern den Hörer auf eine Reise in unbekannte, wenngleich auch erahnte Räume mitnimmt. Natürlich intensiviert ein Album wie „L’entrata – L’uscita“ synästhetische Begabungen. Das Hören triggert visuelle Eindrücke, sodass man ohnehin glaubt, es handele sich um den Soundtrack eines Film Noirs. Dem ist aber nicht so. „L’entrata – L’uscita“ genügt sich selbst.
Colloquio: L’entrata – L’uscita. Eibon.
Für Cocktailbars und Shoppingcenter
(MO) Nichts an „Body Music“, Debütalbum des Londoner Duos AlunaGeorge klingt wirklich neu – und es gibt noch weitere Kritikpunkte, die es leicht machen, dieses „Produkt“ zu verachten. Z. B., dass bei AlunaGeorge die Rollen klassisch-traditionell verteilt sind: die schöne Aluna Francis singt, der nerdige George Reid programmiert, produziert und bastelt die Beats. Auch, dass AlunaGeorge seit Ende letzten Jahres wegen ihrer Hitsingles „Attracting Flies“, „You Know You Like It“ und „Your Drums“ als der Hype schlechthin gefeiert werden, sich für ein komplettes Album aber ewig lange Zeit nahmen, kann die geneigte Hörerin ungehalten werden lassen.
Aber: „Body Music“ ist so ein tolles Popalbum geworden, dass alles Herumnörgeln irgendwie deplatziert wirkt. Reid und Francis haben – zumindest in diesem Sommer – den Bogen raus, alles passt perfekt: die eingängigen Hooklines, der soulige Gesang, die knackigen, aber nicht überpräsenten Beats, die stilsichere Wiederbelebung von R’n’B à la Destiny´s Child und Aaliyah, gewagte, trotzdem noch mainstreamkompatible Avant-Elektro-Elemente wie im Opener „Outlines“, das angesagte Splintern und Schreddern der Vocals und die liebevolle Coverversion von Montell Jordans „This Is How We Do It“, undsoweiter.
„Body Music“ macht total viel Spaß, auch wenn man weiß, dass die vierzehn Stücke (so viele sind es jedenfalls auf der Special-Deluxe-Version des Albums) klinisch sauberer, abwaschbarer Retorten-Pop sind, direkt für Cocktailbars und Shoppingcenter hergestellt. Aber Schluss jetzt mit dem Wenn und Aber, Einerseits und Andererseits: shake your hips and party – und das geht im Moment am Besten mit AlunaGeorge!
AlunaGeorge: Body Music. Island (Universal). Zur Homepage.