Neue Platten von und mit Mogwai, Camerata Medialonese, Love?, Lisbeth Quartett, Lydia Lunch & Philippe Petit und Atrium Carceri, gehört von Ronald Klein (RK) und Tina Manske (TM).
Intensiv
(TM) Die alten Haudegen des Postrock sind zurück mit einem neuen Album, dem achten in 18 (!) Jahren, und wer sich vom Titel „Rave Tapes“ erstmal befremdet fühlt, der kann beruhigt werden. Mogwai verlegen sich nicht aufs Pillen-Einwerfen und Abhotten, sondern machen schön weiter ihre wundervolle entschleunigte und intensive Rockmusik.
In den letzten Jahren hervorgetreten mit Soundtracks zu Zombieserien („Les revenants“) und Dokus über Fußballstars („Zidane: A 21st Century Portrait “) besinnen sich die Schotten auch auf der neuen Platte auf das, was sie am besten und nach all den Jahren noch wie im Schlaf können: laut und leise so kombinieren, dass einem vor Glück die Ohren wegfliegen. Tracks wie „Simon Ferocious“ (krautiger denn je) ziehen sofort in den Bann. In „Repelish“ kommt dann auch ein wenig Selbstironie ins Spiel, wenn das Rückwärtsspielen alter Rockklassiker empfohlen wird, die dann satanische Botschaften aussenden.
Übrigens: Man kann zu „Rave Tapes“ ganz herrlich in gruseligen Büchern schmökern und danach Alpträumen frönen, wie man sie selten hatte – und das ist ganz und gar als Kompliment gemeint! Intensive Platte.
Mogwai: Rave Tapes. Rock Action/PIAS (Rough Trade).
Keine Epigonen
(RK) Der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304 bis 1374) gilt nicht nur als einer der wichtigsten Literaten des Hochmittelalters, dessen Sonette und Madrigale die Zeit überdauerten. Seine Gedichte, die häufig auf antike Motive zurückgreifen, bestimmen humanistische Ideen und rücken den Menschen in den Mittelpunkt des Geschehens, analog zum Diktum des griechischen Sophisten Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“.
Die 1994 gegründete Formation Camerata Medialonese, die an der Schnittstelle von Kammermusik und Dark-Wave agiert, vertonte 12 Poeme Petrarcas. Während der erste Teil des Album von der sonoren Stimme des Sängers sowie rhythmischen Elementen geprägt ist, gewinnt ab „Tremo et taccio“ Daniela Bedeski an Dominanz: Die prägnantesten Momente sind die ruhigen Passagen, die aus Sopran, Streichern und Piano bestehen. Camerata Medialonese kommen zum Glück gar nicht erst in die Versuchung, den Klang des Hochmittelalters in Szene zu setzen, sondern interpretieren die Gedichte mit ihren Mitteln, was einerseits den organischen Klang hervorbringt und andererseits verhindert, wie die tausendsten Dead-Can-Dance-Epigonen zu klingen.
Camerata Medialonese: Vertute, Honor, Bellezza. Prophecy Productions.
Heftigstes 80s-Flair
(RK) Trends kommen und gehen. Blickt man aber innerhalb der letzten 30 Jahre zurück, welche Musikstile in Deutschland nach wie vor – auch außerhalb der medialen Öffentlichkeit – eine große Fanbasis besitzen, spielen vor allem Heavy Metal und Synthie-Pop eine Rolle. Im letzten Bereich lag der Output an ästhetischen Neuerungen mit Relevanz so hoch wie die der industrielle Output im Emsland.
Rezensenten öffnen meist mit zittrigen Fingern CD-Hüllen und fallen in längst überwundene Verhaltensmuster – beispielsweise ins Selbstgespräch – zurück: Wie schlimm wird es diesmal? Aber bekanntlich ist nicht alles vorhersehbar, denn sonst könnten Rezensenten die Hände in den Schoß legen und die Kneipe stiefeln und dort mit Kollegen Wurstrezepte austauschen. Die berühmte Ausnahme der Regel heißt Love? (sprich: Love Questionmark).
Unbestritten hat der Opener „This City“ heftigstes 80er-Flair, in den Synthies klingen Kraftwerk ebenso wie auch Duran Duran an. Trotz des treibendes Beats und der fluffigen Synthies entsteht die ästhetische Spannung in der Antithese zum Text, der zutiefst beklemmend vom Stillstand in der Satellitenstadt erzählt. Mit „I Walk Alone“ schrieben LOVE? den besten Depeche-Mode-Song seit langem. Allein für die beiden Songs lohnt der Kauf des Albums, das aber eben noch so viel mehr zu bieten hat. Trotz (oder vielleicht auch wegen der konsequenten) 80er-Jahre-Anleihen setzen LOVE? die Messlatte genreintern enorm hoch.
Love?: Electronically Yours. Emmo Biz Records.
Jungbrunnen
(TM) Das Lisbeth Quartett unter der Führung der Altsaxofonistin Charlotte Greve macht seinem Ruf als Speerspitze des neuen deutschen Jazz alle Ehre – auch und insbesondere mit ihrem dritten Album „Framed Frequencies“. So elaboriert und dennoch so entspannt klingt wohl kaum eine anderen junge Jazzformation in diesem Land. Die vier Musiker entstammen alle dem Berliner Jazz-Institut und haben schon mit den beiden Vorgängeralben allenthalben großes Lob eingefangen.
Das Nebeneinander von vertrackter Rhythmik und Komposition sowie scheinbar leichter Zugänglichkeit ist eines der Hauptmerkmale des Quartetts. Die Musiker spielen bereits seit 5 Jahren zusammen, da kennt man sich gut und kann sich fast blind auf den anderen verlassen – zumal, wenn man sich bei häufigen Liveauftritten für die Studioaufnahme vorbereitet. „Framed Frequencies“ vereint zehn Stücke, kaum eines davon dauert unter sechs Minuten: Zeit ist eine wichtige Komponente in der Philosophie dieser Musiker. Daher wundert es nicht, dass man sich nach dem Hören der Platte irgendwie verjüngt fühlt. Und der Jazz ist in diesen 66 Minuten auch noch ein wenig gegenwärtiger geworden.
Lisbeth Quartett: Framed Frequencies. Traumton (Indigo).
Prozesshaft
(RK) Fast 20 Jahre war es sehr ruhig um die New Yorker No-Wave-Legende Lydia Lunch, die Ende der 70er-Jahre die Grenzen von Rockmusik und Avantgarde enorm dehnte, und neben ihrer gesanglichen Performance auch in Underground-Filmen wirkte und als Spoken-Word-Interpretin auftrat. Hier knüpft sie in ihrer zweiten Zusammenarbeit (nach „Twist Our Fate“, 2010) mit Philippe Petit an.
Petit, der sich selbst nicht als Musiker bezeichnet, arbeitet mit Klangflächen, Drones und Disharmonien. Insgesamt befinden sich vier Tracks mit jeweils über 20 Minuten Länge auf den zwei CDs. Jedoch, obwohl beide Meisters ihres Fachs sind finden Lunch und Petit nur selten zueinander. Sie schrieben und nahmen die jeweiligen Spuren gesondert auf, was dem Endprodukt anzuhören ist. Zu beliebig klingt das selten inszenierte Spannungsfeld aus Text und Klang. Vielmehr wirkt es wie der erste Versuch, die Sprachperformance zu unterlegen. Da Lunch auch mit sehr flüchtigen Motiven arbeitet („Freedom Is A Hallucination“), funktioniert es bisweilen.
Nichtsdestotrotz bleibt unter dem Strich die Frage, warum so wenig Aufwand in einen passenden End-Mix investiert wurde. So bleibt der Eindruck, etwas Prozesshaftes in den Händen zu halten, das man kurzzeitig interessiert hört, um es dann für immer in den Schrank zu stellen.
Lydia Lunch & Philippe Petit: Taste Our Voodoo. Rustblade. 2CD.
Genre-Hit
(RK) Bereits sieben Alben veröffentlichte der Schwede Simon Heath aka Atrium Carceri seit 2003. Das neue Werk fügt sich hervorragend in das bisherige Oeuvre, das im Dark Ambient-Bereich verortet werden kann. Erneut sind Sprachsamples äußerst sparsam eingesetzt worden, die Atmosphäre wird durch mäandernde Rhythmen erzeugt, deren Geschwindigkeit sich sich dem Nullpunkt annähert. Beschwörendes Flüstern („A Flickering Hope“) trifft auf knarzende Klänge und dem vermeintlichen Empfang von Funksignalen.
Dezent eingesetzte Pianoklänge („Comfort Of The Night Mother“) verdichten die Atmosphäre umso mehr. Das Unausgesprochene – um auf den Titel des Albums Bezug zu nehmen – vereint sich mit dem Unterbewussten zu einem imaginären Schreckensszenario. Bitte keine Details! Atrium Carceri hebt sich wohltuend von den schier unzähligen Acts des Dark-Ambient-Genres ab, weniger ist bei dem schwedischen Projekt mehr. Die Wirkung wird sehr subtil, aber umso nachhaltiger erzeugt. Definitiv eine der herausragenden Genre-Veröffentlichungen des Jahres 2013!
Atrium Carceri: The Untold. Tesco.