Neue Platten von und mit Steve Bug („Gunslingers and Greenhorns“), Reece („Gagarin Returns“), The Impellers („This Is Not A Drill“) und Nehl Aelin („Le Monde Saha“), gehört von Ronald Klein (RK).
Homogener Sampler
(RK) Es ist weit über zehn Jahre her, dass im „Haus des Reisens“ am Alexanderplatz, zwar mitten im Zentrum gelegen, aber damals in der totalen Ödnis, wenn es ums Ausgehen ging, das „Sternradio“ eröffnete. In dem Club, benannt nach einem DDR-Radiogeräte-Hersteller, zeichnete sich Steve Bug für einige Partyreihen verantwortlich, die schon damals andeuteten, wofür der gebürtige Bremer später gefeiert wurde: Als maßgeblicher Vertreter des Minimal House. Dieser Musikstil stellt die Essenz der Chicagoer Variante dar: Rhythmus, Soul und Stille. Was zuerst monoton empfunden wird, entpuppt sich schnell als hypnotisch, als purer Kern des House. Bereits 1998 gründete Steve Bug das Label Poker Flat. Der aktuelle Sampler verschafft einen Überblick der vertretenen Künstler und Acts, u.a. Adultnapper, Daniel Dexter und natürlich der Meister himself: Steve Bug ist mit einer Kollaboration mit DJ Cle (Martini Brös) vertreten.
Die zehn Tracks, sowohl reine Instrumentals sowie Songs mit Vocals, nehmen schnell gefangen – sauber produzierte Floorfillaz. Stellen Sampler oftmals eine schwierige Angelegenheit dar, weil Niveau der Songs sowie deren Stile zu sehr variieren oder schlecht kompiliert erscheinen, besticht hier die Homogenität. Ist die erste CD bereits nahe an einem packenden DJ-Set dran, so stellt die zweite CD dessen Abbild dar. Den Mix, bestehend aus 16 Songs (u. a. Tracks von Ian Pooley, Alex Niggemann und Alex Flatner) besorgte natürlich Steve Bug selbst. Ein erstklassiger Mix, der förmlich auf den Dancefloor zieht. Sehr souveräne Angelegenheit!
Various: Gunslingers and Greenhorns. Poker Flat.
Erstklassiges Audiokino: Hommage an Gargarin
(RK) Als Juri Gagarin 1934 als Sohn einer Bauernfamilie in dem russischen Kluschino geboren wurde, ahnte niemand, dass er wenig später Geschichte schreiben würde. Nachdem er 1955 in die sowjetischen Streitkräfte eingetreten war, absolvierte er ein Kosmonautentraining, auf das schließlich am 12. April 1961 der spektakuläre Flug folgte, der den jungen Oberst zum ersten Menschen im Weltall werden ließ. Knapp zwei Stunden umkreiste er die Erde, bevor er in Sibirien landete. Dass er schließlich 1968 bei seiner Ausbildung zum Kampfpiloten verunglückte, erscheint einfach nur tragisch. Während Gagarin sowohl in der Sowjetunion wie auch den ehemaligen Ostblockländern als Held gefeiert wurde, stellte der Kosmonaut in der westlichen Hemisphäre keinen deutlich wahrnehmbaren Teil des gesellschaftlichen Diskurses dar.
Nach Kai Grehns phänomenalem Hörspiel „Gaia 125“, auf dem der Sound-Magier alva noto die Musik beisteuerte, nimmt sich mit NICK REECE erneut ein Künstler mittels eines Konzeptalbums des Schicksals des russischen Fliegers an. Geboren in Honolulu, aufgewachsen in England, lebt der Musiker seit 2008 in Berlin. Nach einem Album über den völlig unhippen Stadtbezirk Tempelhof, konzentriert er sich bereits zum zweiten Mal auf Gagarin. Heraus kam ein Instrumental-Album wie aus einem Guss. Pianoklänge, Soundscapes und Beats ergeben ein erstklassiges Audiokino. Beginnt der akustische Film mit Gagarin allein im All, langsam treibend, so löst sich das kontemplative Moment nicht nur durch die höhere Beat-Frequenz auf. Auch die dunklen Moll-Töne weichen einem freudigen Dur. Die Wolken brechen förmlich auf, Gagarins Maschine zerschellt jedoch nicht, sie landet. Gagarin ist zurück. Und wie!
Reece: Gagarin Returns. Monstermusic. Zur Homepage von Reece.
Back to the Genre-Wurzeln
(RK) Das Seebad Brighton stellt seit fast zwei Jahrhunderten Englands beliebtes Ausflugsziel dar. In der Nähe der Strandpromenade haben sich im Laufe der Jahrzehnte namhafte Galerien niedergelassen. Analog zu Bournemouth wohnt hier eine Schicht, die nicht jeden Penny zweimal umdrehen muss. Musikalisch assoziieren die meisten mit der Stadt vor allem den Big Beat, aber auch Indie-Heroen wie The Kooks oder die Elektro-Funk-Combo The Mirrors.
Deutlich mehr an den Roots orientiert ist das zehnköpfige Ensemble The Impellers, die mit ihrem Erstlingswerk „Robot Legs“ 2009 Aufsehen bei den eingeschworenen Funk-Fans erzielten. Der Albumtitel bezieht sich auf Studenten, die zu viel Zeit in der Uni verbringen und fortan mit einem sehr speziellen Schritt ausgestattet sind. „Es ist ein Insiderwitz“, erklärt Mastermind Glenn Fallows, der seinen Abschluss in Philosophie als komplett sinnlos erachtet. Weniger sinnlos jedoch die durch das Studium erlangte Zeit, die in viel Zeit im Proberaum investiert wurde. Bereits kurz nach dem Erscheinen des Debüts wurde die Formation von der BBC zu einer Live-Session eingeladen und von Adrian Gibson rekrutiert, bei der Reihe „Ultimate Breaks and Beats“ aufzutreten. Dort spielten sie in 90 Minuten einen Live-Mix von 55 Titeln, was so klang, als hätte ein DJ das Set gemixt.
Ein wenig gehetzt klingt auch der Beginn der aktuellen Scheibe „This Is Not A Drill“. Durchaus funky, aber nicht wirklich groovend. Ein wenig so, als sei man im Kopf bereits weiter. Wer jedoch den ersten vier Songs, die nichtsdestotrotz gut produziert und arrangiert positiv auffallen, eine Chance gibt, arbeitet sich zum Herzstück des Albums vor. Mit „Signs Of Hope & Happiness“ gelang der Band eine großartige Ballade, bei der Sängerin Claire Witcher gekonnt die Kitsch-Untiefen umschifft, und trotzdem resp. gerade deswegen berührt. „Politiks Kills People“ hingegen stellt eine zornige Anklage gegenüber Politikern, die Menschen manipulieren und missbrauchen, dar. Musikalisch aufwühlend leitet der Track zu den letzten fünf Songs über, die wirklich nach den Genre-Wurzeln klingen und dabei trotzdem nicht durch zu starkes Retro-Feeling aufweisen.
The Impellers: This Is Not A Drill. Legere Recordings. Zur Homepage der Band.
Französische Chansons treffen asiatischen Kammerpop
(RK) 1996 veröffentlichte Tori Amos mit „Boys For Pele“ (1996) den Nachfolger zu ihrem brillanten Album „Under The Pink“ (1994). Die melancholischen Klavierballaden erweiterte sie zu Songs mit experimentellem Charakter und vollführte auch bei den Lyrics einen gewaltigen Schritt nach vorn. Doch für eine Weile stagnierte die Entwicklung der begabten Ausnahmekünstlerin.
Den scheinbaren Anschluss an „Boys For Pele“ schafft nun aber ausgerechnet nicht Tori Amos, sondern die französische Multiinstrumentalistin und Sängerin Nehl Aelin, die mit dem Regisseur Jean-Pierre Jeunet (u. a. „Die fabelhafte Welt der Amelie“) ein außergewöhnliches Album aufnahm. Jeunet fungiert als Produzent, und in der Tat handelt es sich bei dem Album um ganz großes Kino. Das Album teilt sich in drei Kapitel. „L’Enfer avichi et les passions trompeuses“ startet mit den Ohrwürmern „So Easy“ und „Overdrive“, die in der Tat so klingen, wie es Tori Amos seit Jahren nicht mehr gelingt. Dezentes Pianospiel, begleitet vom Postrock-Schlagwerk: intelligent arrangiert – umschmeichelt sofort das ästhetische Gefühl. Das zweite Kapitel „Fleur de Lotus“ enthält fünf Songs, die die fernöstliche Affinität Aelins illustrieren.
Irgendwo zwischen Manga-Pop und Burlesken changierend, eröffnet die Pariserin völlig neue Klangwelten, was auch für das letzte Kapitel „Les Quatre Incommensurables“ gilt. Nomen est omen. Die vier Songs lassen sich wirklich nicht einordnen. Französische Chansons treffen asiatischen Kammerpop, das ist meilenweit vom Mainstream entfernt. „Le Monde Saha“ holt den Hörer am Anfang an einem Punkt ab, der vertraut klingt. Danach beginnt eine Reise in ferne Klangwelten, die offene Ohren Purzelbäume schlagen lässt. Denn nach einer fernen Zirkus-Welt klingt der Schluss. Willkommen in der Manege der Nehl Aelin!
Nehl Aelin: Le Monde Saha. Danse Macabre.