Neue Platten von und mit VCMG, Grimes, Blue Note Beach Classics und Perfume Genius, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Arschgeil
(MO) Seit im vergangenen Herbst das Gerücht einer Zusammenarbeit von Vince Clarke und Martin Gore aufkam und sich immer mehr manifestierte, steigerte sich der Erregungspegel der Fans von ungläubigem Staunen zu extremer Gespanntheit: galten Gore und Clarke doch seit dreißig Jahren als verstritten oder zumindest durch mehrere Andreasgräben voneinander getrennt.
Für Zu-spät-Geborene: Vince Clarke war in Depeche Modes Pleistozän kurz Mastermind und Chef-Songwriter, stieg aber noch vor Beendigung des ersten Albums „Speak and Spell“ aus; Martin Gore fand sich unversehens in Clarkes Schuhen wieder, die ihm zunächst zu groß erschienen, aus denen er aber rasch heraus- und in seine eigenen hineinwuchs.
Die Geschichte nach 1981 ist bekannt: Depeche Mode = Synthiepop-Stadionsuperstars, Vince Clarke eine Nummer kleiner, aber mit Yazoo, The Assembly und vor allem Erasure = auch Synthiepop-Superstar. Irgendwann ist es auch mal gut mit den „künstlerischen Differenzen“, dachte sich Clarke vor ein paar Monaten und schickte E-Mails mit Trackskizzen an Gore. Der das, was er da hörte, so gut fand, dass er sofort auf „reply“ drückte, aber nicht ohne vorher seinen elektronischen Senf dazugegeben zu haben.
So ging das eine Weile hin und her, bis zehn Tracks für ein Album fertig waren: „Ssss“ heißt es und wer eine nostalgische Neuauflage des DeMo-Sounds erwartet, ist schief gewickelt. Von „Lowly“ bis „Flux“ über „Zaat“, „Spock“ und „Single Blip“ nichts als arschgeiler, nervös machender Retro-Techno, strictly 4-to-the-floor, ohne Text, ohne Hooks, ohne Schnickschnack.
Halt: doch Schnickschnack, in Form ulkiger Bleeps, Klonks und Zzzzps, mäandernder Bässe und stotternder Off-Beats. Manchmal blitzen atmosphärisch warme Melodieahnungen auf, die dann doch ein bisschen an Depeche Mode oder Kraftwerk zur „Computerwelt“-Ära erinnern. Also: willkommen im Techno-Club, Mr. Gore und Mr. Clarke!
VCMG: Ssss. Mute. Zur Homepage.
Doom und Disco
(MO) Grimes ist das Alias der 23-jährigen Kanadierin Claire Boucher, die laut eigener Angabe ihre Zeit vorwiegend mit Kiffen und Twittern verbringt. Vor allem aber veröffentlicht sie seit 2010 als Teil der Vancouveraner „Lab Synthèse“ (eine Art Warhol’scher Factory, in der sich KünstlerInnen aller Sparten zum Arbeiten treffen) extrem spannende Musik: für ihr Slowtech-Album „Halfaxa“ erfand die Web-Community den Begriff „Witchhouse“, doch diese Bezeichnung ist viel zu eng für Grimes‘ Klangkosmos, den sie mit Fundstücken aus allen denkbaren populären Stilen füttert.
Grimes ist eine begnadete Zitatmaschine, eine produktive Kopistin, die an ihrem Computer aus konträren Versatzstücken originär neue Musik macht. Ihre Einflüsse reichen von Heavy Metal – siehe auch das Coverdesign von „Visions“ – über R’n’B à la TLC, Avantgarde-Elektro von Aphex Twin und Dubstep bis zum Plastikpop der achtziger und neunziger Jahre. „Visions“ ist voller verführerischer Clubtunes, die durch Grimes‘ heliumaufgehellte Stimme an La Roux und manchmal sogar an Tiffanys „I Think We´re Alone Now“ erinnern, aber eine unterschwellig lauernde Düsternis mitbringen, die an der leuchtenden Fassade kratzt.
Doom und Disco gehen schwarzglitzernde Allianzen ein, als hätten Zola Jesus und Austra keine Astral- sondern ganz lebendige Leiber, „Be A Body“ heißt passenderweise einer der intensivsten Tracks auf „Visions“. „Musik, wegen der man nachts das Licht anlässt“, beschrieb unlängst ein Rezensent die Wirkung von Grimes‘ Tracks. Man kann Bouchers Zitierfreudigkeit unverschämt finden – „Circumambient“ zum Beispiel reitet sehr unverhohlen auf einem funky Prince-Riff; „Visiting Statue“ geht als Neuinterpretation von Madonnas „Live To Tell“ durch – oder als wahre Kunst würdigen.
Grimes: Visions. 4AD/Beggars. Zur Homepage.
Schöne Kleinode großer Meister
(TM) Der „legendäre DJ des Café del Mar“ (Pressetext) präsentiert diese CD. Und alle erstmal so: oh weh! Das ist doch bestimmt ganz schrecklich! Die ganzen schönen Jazz-Klassiker von Blue Note, entwürdigt und mit einem kalten Beat aus der Retorte unterlegt, auf das es schön loungig werde am Strand, dass man von der Musik oder gar Muzak gar nicht mehr weiter tangiert zu werden braucht beim Chill-Out und dem flirtigen Ranwanzen an das Gegenüber mit Cocktail und knappen Höschen und – aber Halt! So ist es ja gar nicht!
Diese Doppel-CD versammelt nämlich tatsächlich einige sehr schöne Kleinode großer Meister wie Herbie Hancock, Miles Davis, Stan Getz, Donald Byrd etc. pp., die Padilla aus den riesigen Blue-Note-Archiven gefischt hat. Und jawohl: er hat keinen Beat drüber gegossen, sondern die Songs so belassen, wie sie sind – edel und gut. Auch Vocaltracks von Nancy Wilson und Stacey Kent fehlen nicht. Das passt alles wirklich ganz wunderbar zu einem Tag am Strand, aber auch auf dem Sofa, im Park…
Various: Blue Note Beach Classics presented by José Padilla. 2 CD. Blue Note (EMI).
Erlösung ohne Heiligenschein
(MO) Perfume Genius‚ Debütalbum „Learning“ erregte vor zwei Jahren einige Aufmerksamkeit: hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Songwriter Mike Hadreas aus Seattle, der in seinen Liedern persönliche Grenzerfahrungen verarbeitet. Drogen, sexuelle Verwirrung, Depressionen, Einsamkeit, Selbstzerstörung – das ganze Programm. Zum Komponieren zog er sich ins Haus seiner Mutter zurück und doch ist das neue Album „Put Your Back N 2 It“ weit davon entfernt, schrullig und wehleidig zu sein.
Im Gegenteil: die Songs von Perfume Genius sind voll brüchiger Schönheit und auch Traurigkeit, vor allem aber verbreiten sie Hoffnung und Wärme. Hadreas staffiert seine Lieder ganz zart und zurückhaltend aus, Piano, ein bisschen Elektronik im Hintergrund, leicht angelehnt an Folk und Gospel – und aus dieser Zurückhaltung wächst zeitlose Pracht, die „Put Your Back N 2 It“ zu einem der frühen Höhepunkte im musikalischen Jahr 2012 werden lässt.
Noch eindringlicher als die Musik sind die Texte: mit „No Tears“ spricht sich Perfume Genius selbst wieder Lebensmut zu, während „Floating Spit“ eine relativ unverschleierte Drogenphantasie ist. In „Dark Parts“ dankt er ohne jeden Heintje-Kitsch seiner Mutter für ihre bedingungslose Unterstützung, „Dirge“ ist die Vertonung eines Gedichts der amerikanischen Bohème-Poetin Edna St. Vincent Millay und „17″ ist aus der Perspektive eines jugendlichen Selbstmörders geschrieben. Perfume Genius verspricht Erlösung ohne Heiligenschein – und man folgt ihm gern.
Perfume Genius: Put Your Back N 2 It. Matador/Beggars. Zur Homepage.