Solider Hardbop
– Im Frankreich der späten 1950er-Jahre war man kinobesessen und jazz-ridden. Und meistens dabei in dieser Kombination der wunderbare französische Tenorsaxophonist Barney Wilen.
In den späten 1950er-Jahren kam besonders in Paris geballt das zusammen, was zusammengehört: Film und Jazz, die beiden Künste, die sich damals neben Kriminalromanen und Comics als Kunstformen neu zwischen den traditionellen Gattungen positionierten. Nicht mehr high, schon gar nicht mehr low, näheres dazu bei Pierre Bourdieu, aber das gehört jetzt hier nicht her.
In Frankreich war man kinobesessen und jazz-ridden. Und meistens dabei in dieser Kombination der wunderbare französische Tenorsaxophonist Barney Wilen, dem später der große Comic-Künstler Jacques de Loustal mit „Barney et la note bleue“, einem der schönsten Comic-Alben überhaupt, eine würdige Hommage erwiesen hat. Wilen war in den 1950s u. a. nicht nur an Miles Davis´ epochaler Musik zu Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ beteiligt sowie an der Musik zu Edouard Molinaros „Une témoin dans la ville“ (zusammen mit Kenny Dorham und Kenny Clarke), sondern auch an einem Film-Projekt, das nie realisiert wurde und dessen bereits eingespielte Musik bis heute unbekannt geblieben ist. „Jazz in Camera“ sollte der von Sandro Bocola und Dennis Bailey in Paris produzierte Film heißen, ein „avantgardistischer Jazz-Film“, im Stil der „Nouvelle Vague“ oder so, was immer man sich darunter vorstellen möchte. Dafür hatte man Donald Byrd geholt, der tatsächlich zu der Zeit gerade in Deutschland weilte, um mit (u. a.) Michel Legrand und Stan Getz in Baden-Baden aufzunehmen. Byrd war in diesen Jahren ein vielbeschäftigter Mann, im Quintett vom John Coltrane, bei Horace Silver und vielen anderen mehr.
Erhalten sind von der „Jazz in Camera“-Session sechs Takes, allesamt Variationen über „A Night in Tunisia“, die Musiker neben Wilen und Byrd sind Walter Davis am Klavier, Doug Watkins am Bass (die beide regelmäßig mit Donald Byrd spielten und auch später im Jahr 1958 mit ihm in Frankreich auftraten und aufnahmen), Al Levitt am Schlagzeug und Jimmy Gourley an der Gitarre. Erste Sahne also.
Die Musik ist robuster Hardbop, der Byrds Qualitäten als extrem dynamischer Trompeter voll zur Geltung kommen lässt. Meine Güte, was konnte Byrd Druck machen, damals. Klassisch vorgetragen im Jazz-Messenger-Modus, wenn´s sein muss mit Walking Bass und High Notes und harten Breaks und Basie-haftem Piano. Very bluesy, die ganze Angelegenheit, angenehm geerdet. Byrd nimmt sich für seine Solos viel Raum, Wilen kontert angemessen – die Session scheint Spaß gemacht zu haben.
Wo ein Zusammenhang mit einem Film sein könnte, das ist schwer auszumachen. Wie auch? Sechs Variationen zu einem Standardthema – jo, wenn man will ist das vielleicht wirklich eine logische Musikentscheidung zu einem nouveau roman à la Robbe-Grillet, der ja auch von der Variation literarischer Standardsituationen gelebt hat. Aber das ist natürlich Spekulation pur …
Die Jazz-Geschichte muss nicht neu geschrieben werden, klar…, für Donald Byrd- und Barney-Wilen-Fans sind sie neue, bisher unbekannte Einträge in den resp. Diskographien (die Acetaten hat Patrick Wilen, der Sohn von Barney im Nachlass entdeckt, das Mastering hört sich fast perfekt an), die Ausgabe von Sonorama erfreut noch mit unbekanntem Fotomaterial und wir hören knappe 35 Minuten soliden Hardbop auf Niveau.
Thomas Wörtche
Donald Byrd & Barney Wilen: Jazz in Camera. Sonorama.