Neue Platten von und mit Ebo Taylor, Poliça, Squarepusher, Santigold und My Bloody Valentine, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Legenden unter sich
(TM) Nach dem grandiosen Album „Love And Death“ (erschienen 2010 bei Strut) legt die ghanaische Gitarrenlegende Ebo Taylor schon den nächsten Longplayer vor. Die „Appia Kwa Bridge“ ist eine Brücke in Taylors Heimatstadt Saltpond, wo sich Liebende und andere Menschen treffen. Inklusion ist ein bezeichnendes Thema der Platte, auf der in wunderbarer Einheit gesungen und gespielt wird. Gefiel sich „Love And Death“ in manchmal ausufernden Jazzpassagen und Instrumentals, ist der Nachfolger kompakter. Taylor hält die Songs sehr persönlich und bezieht sich immer wieder auf traditionelle Songs und Reime der Fante, eines Volksstammes, der den Süden Ghanas bewohnt. Ein äußerst mitreißendes Album, auch und besonders wegen der berührenden Akustikstücke wie das abschließende „Barrima“, das von Taylors kürzlich verstorbener erster Frau handelt. Eingespielt wurde „Appia Kwa Bridge“ zusammen mit der Berliner Combo Afrobeat Academy, die bereits mit Taylor auf Tour war. Unter den beteiligten Musikern sind außerdem der legendäre Schlagzeuger und Afrobeat-Miterfinder Tony Allen und Oghene Kologbo, den man ebenfalls als Kollegen Fela Kutis aus seiner Zeit als Africa ’70-Gitarrist kennt.
Ebo Taylor: Appia Kwa Bridge. Strut (Alive). Zur MySpace-Seite.
Spooky!
(MO) Beim ersten flüchtigen Höreindruck klingt das Duo Poliça aus Minneapolis wie Zola Jesus-Epigonen: dunkle, morbide Atmosphäre, körperlos klagende Stimme. Sängerin Channy Leanagh und Synthie-Producer Ryan Olson passen mit ihrer Weltuntergangsmusik perfekt in die Zeit, Justin Vernon von Bon Iver bezeichnet Poliça gar als „best band I´ve ever heard“. Bei eingehender Begutachtung haben sie auch weit mehr zu bieten als nur den Aufguss eines derzeit angesagten Stils. Leanagh schickt ihre Vocals bei jedem der elf Tracks durch AutoTune und andere nur erdenkliche Bearbeitungstechnologie und wird zum Geist in/aus der Maschine. Der Effekt ist verblüffend – immer schwebender und statischer wird der Gesang im Lauf des Albums, wird zu einem Instrument neben anderen. Mindestens so beeindruckend wirken die zwei Schlagzeuge, die sich mal duellieren, mal einander antworten und einem mit den bewusst schlingernden und stolpernden Rhythmen den Boden unter den Füßen wegziehen. Dazu kommen Dub-, Progrock- und Soul(ja!)-elemente, die Songs wie „Amongster“ und „Dark Star“ gleichzeitig zu überirdisch schönen, aber auch irgendwie beängstigenden Hörerlebnissen machen. „Give You The Ghost“ ist stellenweise meditativ und sanft, dann wieder scheinen Maschinengewehrsalven aus den Boxen zu donnern. Und über allem schwebt diese klagende, ätherische, von dieser Welt Galaxien entfernte Geisterstimme… spooky! Zu „Lay Your Cards Out“ und „Fist, Teeth, Money“ können manche Leute sogar tanzen – diejenigen, die Zola Jesus schon viel zu poppig finden.
Poliça: Give You The Ghost. memphis industries. Zur Homepage.
Nichts für Epileptiker
(TM) Musik evoziert Bilder, Musik ist nicht ohne Bilder denkbar, Musik und Bilder gehören zusammen – das ist das felsenfeste Credo von Squarepusher. Aber irgendwelches unzusammenhängendes Zeug während eines Konzerts auf einen Wand zu beamen und das dann als ‚visuelles Feuerwerk‘ oder ähnlichen Quatsch zu bezeichnen, käme ihm niemals in den Sinn. Er findet es wichtig, dass Bild und Ton rhythmisch und konzeptuell zusammenpassen, und deshalb hat er die Entwicklung der Visuals gleich selbst in die Hand genommen: der von ihm entwickelte „Video-Synthesiser“ generiert anhand von Audiodaten entsprechende Bilder, die dann sowohl auf einem LED-Bildschirm als auch auf einem kleineren Schirm ausgegeben werden – letzterer befindet sich dabei auf einem von Squarepusher getragenen Helm. So weit, so schön crazy, und gut, dass Squarepusher genug Fantasie hat, um unter dieser Doppelbelastung die Musik nicht leiden zu lassen. Sein neues Album „Ufabulum“ knarzt, zischelt und rumst in herrlicher Warp-Manier durch die Gegend und ist definitiv nichts für Epileptiker, ebensowenig wie die Live-Shows.
Squarepusher: Ufabulum. Warp (Rough Trade). Squarepusher bei MySpace.
Brei verdorben
(MO) Dieses Album wurde nicht nur von der Rezensentin heiß erwartet: „Master
Of My Make-Believe“, zweite Platte von Santi White alias Santigold. Auf ihrem Debüt von 2008 begeisterte die in Philadelphia aufgewachsene und in New York City lebende Santi mit einem stürmischen, schubladensprengenden Mashup aus Pop, Dub, Soul, Elektro und Punk; unbekümmert verquirlte sie einfach ihre Lieblingsmusiken, und ganz nebenbei kamen Hits wie „Say Aha“ daraus. In den vergangenen vier Jahren hat Santigold viel gemacht: als A&R gearbeitet, mit unzähligen KünstlerInnen kooperiert (z.B. Beyoncé, Jay-Z, Kanye West, Beastie Boys) und Songs für Lily Allen geschrieben. So viel Erfahrung sollte geballtes Selbstbewusstsein hervorbringen, doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein: obwohl Santigold bekundet, alle Entscheidungen rund um „Master Of My Make-Believe“ allein getroffen zu haben, wirken die elf Tracks seltsam unentschlossen. Dieser Eindruck verfestigt sich angesichts der langen Latte von Producern und GastsängerInnen: Diplo, Buraka Som Sistema, Switch, Dave Sitek, Yeah Yeah Yeahs und viele mehr sind die Köche, die den Brei eher verderben statt ihn zu verfeinern. Zeremonienmeistern Santigold verschwindet beinah hinter ihren Kollaborateuren (also ganz anders als es das Cover suggeriert) und überlässt ihnen das Feld; sie inszeniert sich tapfer als urbane M.I.A., aber anders als bei Miss Arulpragsam hat Santigold keine klaren Feindbilder, sondern protestiert eher vage („Pirates In The Water“) und beklagt gar müde, „The Riot´s Gone“. Zum Glück gibt es gibt ein paar tolle Songs, die „Master…“ zwar nicht in Gänze retten, aber die Rezensentin versöhnen können: z. B. das Duett mit Karen O, „Go!“, die tolle Single „Disparate Youth“ und „Big Mouth“ am Schluss, das die immer mal wieder auftauchenden afrikanischen Rhythmen bündelt.
Santigold: Master Of My Make-Believe. Warner. Zur Homepage von Santigold.
Must-have!
(MO) Der Begriff Shoegaze wird häufig unbedacht für alles Mögliche benutzt; Hauptsache, es sind „Gitarrenwände“ und „Sphärengesang“ zu hören. Ok, nun war Shoegazing nicht wirklich eine radikale Jugendbewegung mit spektakulären Aufständen und martialischem Styling, weshalb man sich mitunter nicht mehr so ganz genau an die Bands und Platten aus der Hochphase ab ca. 1986 erinnern kann. Die Gottväter und -mütter des Shoegaze aber, My Bloody Valentine aus Dublin, sollten ihren Platz in jedem Plattenregal haben: die Band um Kevin Shields schichtete Gitarrenspur auf Gitarrenspur, vermischte sie mit heftigem Feedback und bittersüßen Harmonien. Gemeinsam mit Bands wie Curve, Lush, Slowdive und Ride begründeten My Bloody Valentine diesen Style namens Shoegazing: den Sound für Leute, die (angeblich) so depressiv und introvertiert sind, dass sie beim Tanzen nur auf ihre Schuhe gucken. Hätte es damals schon Emos gegeben, wäre My Bloody Valentine ihre Lieblingsband gewesen, denn trotz des infernalischen Lärms, den MBV ihren Instrumenten entlockten, waren sie eine höchst emotionale Band, die gefühlsbedingte Zerrissenheit und Paradoxien in ihren Songs thematisierten. Nachdem sie 1991 mit der unerwartet teuren Produktion des Albums „Loveless“ beinahe ihr Label Creation Records ruinierten, unterschrieben My Bloody Valentine bei Island und lösten sich kurz danach auf – um ab 2008 ihre treuen Fans immerhin mit vereinzelten Festivalauftritten zu begeistern. Ein neues Album ist nicht geplant, bei Sony sind aber jetzt Teile des Backkatalogs in Form aufwändig remasterter Doppelalben erhältlich. Absolutes Must-have!
My Bloody Valentine: EPs 1988 – 1991; Loveless; Isn´t Anything (Doppelalben, Remastered + Bonustracks). Sony Music. Zur Homepage.