Komplexes Koordinatensystem
– Es ist ein merkwürdiger, wenngleich semantisch naheliegender Versprecher: Wer die Band nur vom Hörensagen kennt, beispielsweise durch Berichte emsiger Journalisten, erzählt im Anschluss von den „Grausamen Schwestern“. Nun gut, es gibt auch andere unfreundlichere Verwandte in Bandnamen bzw. Songtiteln (man denke an die Böhsen Onkelz resp. das Cover-Album „Böhse Enkelz“ der Berliner HipHopper K.I.Z.). Während jene Musiker zumindest bezüglich der Verkaufszahlen unter Mainstream subsumiert werden können, agieren die Norddeutschen um Frontfrau Aranea Peel völlig zu Unrecht noch abseits der medialen Aufmerksamkeit.
Das Debüt „Mein eigentliches Element“ suchte stärker die Nähe zu Noise und Power Electronics als das Zweitwerk, dessen Beats zwar noch ein gewisses Maß an Aggression aufweisen, jedoch geschliffener klingen. Dafür loten die Texte verspielt mehr Untiefen aus. Der Titel des ersten Albums kann jedoch weiterhin als Türöffner in die Semantik der Töchter benutzt werden. So handelt es sich um einen Vers aus der Deutschen liebstes Drama. In Gothes Faust heißt es: „Ich bin der Geist der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles was entsteht / Ist werth daß es zu Grunde geht; / Drum besser wär’s daß nichts entstünde. / So ist denn alles was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element.“
Mephistos Reflektion seines Wirkens beschreibt die Ambiguität vermeintlich absoluter Werte, die schließlich Nietzsche als ohnehin arbiträr beschreibt. Die Performanz der Band greift diese Motive auf, beispielsweise in der Verwandlung Peels in einen Mephistopheles Gründgen’scher Prägung. Nur mit diesem Hintergrund erschließt sich die Bühnenshow als dramaturgisch dichter Abend mit einem modernen Gretchen, das scheinbar affirmativ einen Rausch aus Unterdrückung, Bestrafung und Folter erlebt: Eine Ikonographie mit stark allegorischem Charakter, die die Doppelbödigkeit der Texte spiegelt.
So beschreibt „Ich darf das“ die gesellschaftlichen Konventionen, Moral und Anpassung als perfekt inszenierten Unterdrückungsapparat, und den Regelbruch für das emanzipierte Subjekt nicht als Option, sondern als kategorischen Imperativ, Adornos Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe, weiterdenkend. „Therapie für dich“ negiert die Möglichkeit einer psychischen Gesundung im Anstaltsrahmen. Jedoch zieht sich die Bejahung des Andersseins, des vermeintlich Kranken wie ein roter Faden durch das Album. Oder wie ein einst ein amerikanischer Kulturphilosoph feststellte: Der sogenannte Wahnsinn ist nicht das Problem, sondern oftmals die Lösung für einen Organismus, der gemeinhin mit Seele oder Geist paraphrasiert wird.
Ohnehin werden Begriffe wie Liebe oder Seele negiert bzw. ins Gegenteil gespiegelt, beispielsweise wenn in „Rosen für dich“ die Beschreibung eines Lustmordes verbalisiert wird. Bei Falcos „Jeany“(1985) reichte das noch für einen Skandal. Als Sandra 1994 auf dem zweiten Enigma-Album hauchte: „I love you / I’ll kill you / But I’ll love you forever“ hauchte, wurde dies nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die Untiefen der Peinlichkeit den Skandal um jeden Preis zu provozieren, den Aufschrei übers Knie zu brechen, umschiffen die Norddeutschen ohnehin bewusst, wenngleich das Spiel mit dem Kontroversen durchaus zum Themenset gehört.
Die vom Feuilleton bei Popbands konnotierte und eingeforderte Authentizität führt gerade Peel als Frontfrau mit Anleihen an Theaterikonographie und choreografischen Elementen zum Glück vollkommen ad absurdum. Der Bühnenvisionär René Pollesch ließ in seinem Meisterwerk „L’Affaire Martin“ die Protagonisten eine Absage an die „authentischen Kühe“ formulieren, denn in unterschiedlichen sozialen Räumen bedienen sich die einzelnen Individuen ohnehin unterschiedlicher verbaler Ausdrucksmittel und folgen möglicherweise sogar konträren sozialen Normsystemen.
Letztendlich ist es aber obsolet, zu philosophieren, ob der Kosmos der Grausamen Töchter eine moderne „Faust“-Adaption darstellt, gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen dekonstruiert oder letztlich homosexuellen Sadomasochismus eine textliche Plattform offeriert. Das Koordinatensystem der Band ist komplex genug, um individuelle Lesarten zu ermöglichen.
Und wenn Heiner Müllers Postulat stimmt, dass die Kunst nicht Welt ändere, aber im Individuum die Sehnsucht zu eben jener Änderung beflügeln könne, sind die Impulse auf „Alles für dich“ in Zeiten, in denen das Sprechen über Homosexualität in manchen Ländern sanktioniert werden soll, von großem Wert. Ein Manifest des Mutes zum Anderssein!
Ronald Klein
Grausame Töchter: Alles für Dich. Scanner. 15 Tracks. 11,99 Euro. Fotos: Quelle Homepage der Band.