Gar nicht harmlos
Alles beginnt mit einer ganz einfachen Melodie: In „Wawa By The Ocean“ hört man zunächst, zum Titel passend, eine zwischen Auf- und Absteigen wechselnde Tonfolge, wie sie in jedem Kinderhörbuch das Meeresrauschen darstellen könnte, gespielt auf dem scheinbar harmlosesten aller Instrumente, der Harfe. Doch schon nach wenigen Takten schleicht sich die Verstörung ein in diesen scheinbaren Wohlklang, machen sich Brechungen, Verschiebungen, genetisch veränderte Wiederholungen bemerkbar.
Das ist kurz gesagt das gestalterische Prinzip von Mary Lattimore, und es führt zu einer kleinen Reihe ganz wunderbarer elektrisch verstärkter Kompositionen, die sich sicherlich auch auf der Bühne fabelhaft machen. Diese sind gerne mal mehr als zehn Minuten lang, was aber auch stimmig ist, denn erst in den langwährenden Wiederholung treten die Nuancen der Abweichung zutage. So etwa beim großartigen „Bold Rides“, das nach einigen Minuten plötzlich extrem verlangsamt wird, mäandernde Improvisationen zulässt, die den Hörer hinwegtragen, bevor genauso plötzlich das Tempo wieder anzieht.
Die sechs Songs reflektieren laut Lattimore zwölf Jahre ihres Lebens in Philadelphia, inklusive allen Ups und Downs. Die Stücke, die zwischen 2011 und 2016 aufgenommen wurden, waren bisher nur auf Lattimores Soundcloudseite zu hören. Im letzten Jahr hatte die US-Amerikanerin so etwas wie einen kleinen künstlerischen Durchbruch mit ihrem ersten Soloalbum – nachdem sie in den letzten Jahren schon mit Kollegen wie Kurt Vile, Jarvis Cocker und Thurston Moore zusammengearbeitet hatte. Damals brachte sie mit „At The Dam“ eine Sammlung von Songs zu Gehör, die auf einem Roadtrip durch die USA entstanden waren.
Die „Collected Pieces“ knüpfen daran nahtlos an und sind erhältlich als Download und Musikassette (!). Mittlerweile lebt Lattimore in Los Angeles, und man darf hoffen, dass sie dort genug erlebt, dass es noch für viele weitere Songs reicht.
Tina Manske
Mary Lattimore: Collected Pieces. Ghostly International.