Neue Platten (und Bücher), vorgestellt von Christina Mohr.
Der alltägliche Kampf
Mary Ocher ist ein Gesamtkunstwerk – und in vielen Kunstformen unterwegs. Vor allem HauptstädterInnen dürfte die in Russland geborene und in Tel Aviv aufgewachsene Wahlberlinerin Ocher als unermüdliche Straßen-, Club- und U-Bahn-Musikerin bekannt sein. Daneben zeichnet sie, schreibt Gedichte, organisiert Festivals und Ausstellungen und legt unter dem Motto „The Queens and The Rebels of Unpopular Culture“ Platten auf.
Mary Ocher bezeichnet sich selbst als stolze Außenseiterin und freut sich, dass Exzentriker heutzutage scheinbar mehr von Mainstream-Medien beachtet werden. Im Falle z.B. Lady Gagas trifft das ja auch zu, aber ob Mary Ocher es in die Gala schafft, wagen wir zu bezweifeln. Denn: Mary Ocher ist eine echte Exzentrikerin, die mit glamourösen Showgirls wie Gaga nichts gemeinsam hat. Ocher sieht schräg aus und macht schräge Musik – nicht wirklich mainstreamkompatibel.
Auf ihrem Konzeptalbum „War Songs“ widmet sie sich dem Thema Krieg in all seinen Facetten: privaten, politischen, globalen und lokalen Gewalthandlungen. Mary Ochers Lieder sind formal betrachtet Folk- oder Protestsongs und manchmal klingt sie auch so glockenklar wie einst Joan Baez. Doch blitzschnell kippt die Stimmung und Mary Ocher kreischt hysterisch los, um im nächsten Augenblick lieblich weiter zu klampfen und zu singen.
Die Texte sind ebenfalls schwer verdaulich, auch wenn Mary stets freundlich lächelt: Zeilen wie „Mother, Mother, Mother, why did you bear me at all? / I am as useless as a parasite / Eating down your soul“ („The Sound of War“) oder „Bam! Whoosh“ Bang! In just a blink of an eye / And you´ll be a slave till the day that you die“ („Rules, Guidelines and the Law“) wird man von Lady Gaga wohl nicht hören…
Mary Ocher: War Songs. Gorgeous Fork Music (Haute Areal). Mary Ocher auf Myspace, zum Label inklusvive Livedaten geht es hier.
Freundinnen müsste man sein!
Le Corps Mince de Francoise, bestehend aus den drei finnischen Freundinnen Lia, Emma und Malin, ist eine Mädchenband wie sie im Buche steht – mit allen Widersprüchen: so lästern LCMDF in ihrem Song „Ray Ban Glasses“ ausgiebig über Typen, die immer noch besagte legendäre Sonnenbrille tragen – und lassen sich bevorzugt mit eben diesem Nasenfahrrad fotografieren.
Aber so ist das mit Mädchen, man blickt nicht immer durch, was sie wirklich wollen und oft wissen sie das selbst nicht genau. Einen Hang zum Kapriziösen haben Mädchen meistens auch, was sich bei Le Corps Mince de Francoise nicht zuletzt am Bandnamen zeigt: wer kommt schon auf die Idee, sich nach der dürren Katze einer Freundin zu benennen und das auch noch auf Französisch, damit es so richtig kompliziert wird, vor allem für Finnen?
Die Musik von LCMDF ist ebenfalls wirr und verrückt, aber teilweise richtig klasse. Die meisten Reviews zielen auf die musikalische Schrillheit ab, was vom ausgiebigen Gebrauch fiepender, kreischender Synthiesirenen kommt. Aber Emma, Lia und Malin sind sehr geschickt im Mixen verschiedener Stile und bauen keineswegs nur auf nervige Electroclash-Effekte. In „Future Me“ schunkeln Reggae- und Funk-Beats in tanzbarer Eintracht, und wenn die drei Mädels gemeinsam singen, klingen sie wie einst Tina Weymouths Tom Tom Club.
Mit „Hard Smile“ zollen LCMDF den poppigen Achtzigern Respekt, den electroclashenden großen Schwestern Chicks on Speed und Peaches huldigen sie in „We Are Cannibals“, wo auch ein Theremin sirrt und schwirrt. Sitar und E-Gitarre kämpfen mit- oder gegeneinander in „Gandhi“, „Cool and Bored“ ist ein echter Clubhit mit einmalig cool-gelangweiltem Gesang. Tanzen bzw. hibbelig rumhüpfen kann man zu „Love and Nature“ durchgehend. Danach ist man völlig überdreht und muss sofort die beste Freundin anrufen, ob die nicht Lust hat, eine Band zu gründen.
Le Corps Mince de Francoise: Love and Nature. Cooperative. Die Band auf Myspace.
Früher war alles besser!
„Immer schlimmer“ kann auch bedeuten: „Früher war alles besser“ – von der Hamburger Band Mobylettes darf man allerdings nicht erwarten, dass sie sich mit ihrem Comeback-Album (Sängerin Diana Diamond und Kollegen gönnten sich eine Pause von nicht weniger als dreizehn Jahren) überstürzt neuesten Pop-Trends zuwenden. Wie auf ihren früheren Platten „Girl Talk“, „Catch As Catch Can“ und dem Gershwin-Coveralbum „Kicking the Clouds Away“ bleiben die Mobylettes, die sich nach einem legendären Moped benannten, auf „Immer Schlimmer“ ihrem Stilmix aus 60’s-Girlpop á la Supremes und Ronettes, Garagenbeat, Motown-Soul und Chanson treu.
Nur eben ein wenig gereifter und noch besser als in den 1990’er-Jahren. Diana Diamond, Huah!-Fans auch als Nixe bekannt, klingt nach wie vor einzigartig ladylike und elegant, zuweilen ein bisschen blasiert, dann aber völlig zu recht, wie zum Beispiel im Schlussmach-Song „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Überhaupt geht es in „Immer Schlimmer“ hauptsächlich um die Liebe mit all ihren Freuden und Leiden: „Leg mich in Ketten“ ist keine S/M-Hymne, sondern die flehentliche Bitte einer flatterhaften Dame an ihren Liebhaber, sie bloss nicht weglaufen zu lassen. Im Titelsong stöhnt La Diamond über all den Unbill, den eine neue Liebe so mit sich bringt und in „Adieu“ geht eine zunächst so hoffnungsvolle Romanze zu Ende…
Die Musik ist stets stilsicher und formvollendet, mal mit verzerrter Gitarre, mal mit schwelgender Orgel und schmachtendem Background-Chor. Schön, dass die Mobylettes zurück sind – von „immer schlimmer“ kann keine Rede sein!
Mobylettes: Immer Schlimmer. Tapete. Die Band auf Myspace.
Original ohne Vergleich
Erika Stucky ist ein Original ohne Vergleich, eine Künstlerin, so außergewöhnlich wie Laurie Anderson, Nina Hagen, Billie Holiday, Edith Piaf. Was auch bedeutet: entweder man liebt sie heiß und innig oder man kann nichts mit ihr anfangen. Stucky wurde 1962 in San Francisco geboren, zog mit ihren Hippieeltern Anfang der siebziger Jahre ins Oberwallis, ließ sich in Paris zur Sängerin ausbilden und studierte Schauspiel in den USA. Ganz klar für Erika von Kindesbeinen an: sie muss auf die Bühne, aber nicht nur mit einer Profession allein. Sie spielt Gitarre, jodelt, singt und unterhält das Publikum auf schwyzerdüütsch und amerikanisch. Ganz nebenbei ist sie auch noch eine umwerfend komische Performerin, eine echte Clownin. Am liebsten interpretiert sie die Musik ihrer Helden Frank Zappa, Bob Dylan und Jimi Hendrix auf eigene Art, anspruchsvoll-jazzig und lustig zugleich. Sowas hat man noch nie gesehen und gehört – Stucky ist von ihren ersten Auftritten vor 25 Jahren an eine Marke für sich.
Musiker von Rang und Namen gesellen sich gern um sie, und das ist Stucky bei aller Einzigartigkeit am liebsten: mit vielen Leuten zusammen auf der Bühne sein, Verrücktheit im Kollektiv. Sollte es da draußen Leute geben, die noch nie etwas von Erika Stucky gehört haben, bekommen diese jetzt die Chance, Stuckys Werken und Wirken zu entdecken: „Stucky Live 1985 – 2010“ ist eine Sammlung von sechzehn bisher unveröffentlichten Songs, die u.a. mit den Sophisticrats, der Bubble Family und der WDR-Bigband aufgenommen wurden.
Fast alle Stücke sind Coverversionen wie z.B. „Ballroom Blitz“ von The Sweet, „Gimme Shelter“ von den Stones und Schreamin‘ Jay Hawkins‘ „I Put A Spell On You“ – wobei der Begriff „Coverversion“ Stuckys Bearbeitungen/Aneignungen/Neuinterpretationen nicht wirklich trifft. Aber genug der Worte: Erika Stucky muss man, wenn man sie schon nicht sehen kann, unbedingt hören!
Erika Stucky: Stucky Live 1985 – 2010. Traumton. Zur Homepage von Erika Stucky geht es hier.
Herzeleid und Technobeat
Yeah! Ira Atari, erstes weibliches Signing des Hamburger Labels Audiolith, zeigt auf ihrem Debütalbum „Shift“, dass Ravetechno und Liebeslyrics sehr gut zusammen passen! Die gebürtige Kasselerin packt ihren ganzen Herzschmerz nach der Trennung von ihrem Boyfriend in die Texte, die Tracks dagegen wollen nur eins: nämlich, dass die Meute tanzt! Mit der produktionstechnischen Unterstützung von JA!KOB (Frittenbude) mixt Atari Techno, House, Disco mit poppigen Melodien, die auch nicht-Raver begeistern werden und sofort im Ohr bleiben.
Ira Ataris Stimme ist hell und mädchenhaft, erinnert ein bisschen an Karin Dreijer Andersson von The Knife und Robyn. Der Gesang der ehemaligen Klavierlehrerin (jawohl!) bildet einen schönen Kontrast zu den knarzigen Samples und ekstatisch fiependen Synthies, die mit nach vorne bretternden Bassbeats abgerundet werden – wobei, und das möchten wir nochmals betonen, bei Ira Atari der Song im Mittelpunkt steht – anders als bei vielen ihrer männlichen Elektro-Kollegen, denen hektisches Regler-Hoch- und -Runterziehen genug Spaß macht.
Frau Atari arbeitet mit Emotionen und Spannungsmomenten, „Shift“ ist ganz offensichtlich ein Album mit Programm – ungeeignet für den Einzeltrack-Download. Der eingängige Opener „She´s The One“ ist eine tolle Respect Yourself-Frauenhymne, in den mittleren Tracks „Miss Progression“, „Don´t Let Me Down“ und „Don´t Wanna Miss You“ kulminiert Atari ihren Liebskummer, um sich dann mit den bacchantischen, houselastigen Dancefloor-Smashern „Follow“ und „Hang On“ freizutanzen. Der vorletzte Track heißt folgerichtig „Tired“ und mit „A Little Tougher“ stehen die Zeichen wieder klar auf Anfang. „Shift“ ist der Energiekick gegen Frühjahrsmüdigkeit und ganz nebenbei eine perfekte Anti-Liebeskummer-Therapie in zwölf Sitzungen, äh, Tracks.
Ira Atari: Shift. Audiolith. Mehr zum Label finden Sie hier, zur Homepage von Ira Atari geht es hier, zur Myspace-Seite hier.
Wirf den Producer raus!
Erinnert sich noch jemand an die portugiesisch-belgische Sängerin Lio, die als Teenie Anfang der 1980’er-Jahre mit „Le Banana Split“ und „Amoureux Solitaires“ zwei sehr charmante Hits landete? Die Französin Yelle (bürgerlich Julie Budet) könnte Lios Tochter und musikalische Erbin sein. 2009 eroberte Yelle mit dem Elektro-Track „Je Veux Te Voir“ und dem Debütalbum „Pop-Up“ die Dancefloors der Welt, jetzt erscheint ihre heißersehnte zweite Platte „Safari Disco Club“.
Die Parallele zu Lio ergibt sich aus Yelles französischsprachigem, mädchenhaft-naivem Gesang, der beinah zwangsläufig zu allerlei Assoziationen hinreißt (Lolita-Charme! Chanson! Amour fou! Vanessa Paradis!) und dem Producer im Hintergrund (in Yelles Fall GrandMarnier, bei Lio u.a. Musiker von Telex), der einen tanzbaren Sound um diese Stimme bastelt. „Safari Disco Club“ ist etwas „erwachsener“ geraten als Yelles Debüt, will sagen, mehr an den Achtzigern orientiert als an durchgedrehtem Nu Rave.
Der Titeltrack oder „S’etent de Soleil“ und „Chimie Physique“ sind supereingängige Elektropopsongs mit Referenzsplittern von z.B. den frühen Depeche Mode, Kylie Minogue oder Bananarama zu „Venus“-Zeiten. „Mon Pays“ kombiniert New Wave mit Reggae, Techno- und Chicago-House-Spuren sind in „Unillusion“ auszumachen.
GrandMarnier verwendet aber auch Autotune und andere Soundelemente, die „Safari Disco Club“ zu einem aktuellen Produkt machen, das fast durchgängig clubtauglich ist. Yelle sagt, dass die neuen Songs auch emotional mehr in die Tiefe gehen als es bei „Pop-Up“ der Fall war – das nächste Album wird zeigen, ob sich Yelle von ihrem Produzenten emanzipieren und als eigenständige Künstlerin etablieren kann. Lio gelang das ihrerzeit nicht so gut.
Yelle: Safari Disco Club. Cooperative. Zur Homepage der Band geht es hier, die Myspace-Seite finden Sie hier.
Rückwärtsgewandt
Es ist schon ziemlich auffällig, dass sich derzeit so viele junge Musikerinnen/Sängerinnen an der Vergangenheit orientieren: Britta Persson oder das Duo She & Him frönen leichtem Sixties-Girlpop, Anna Calvi mischt dunklen Blues in Phil Spector’sche Walls of Sound. Auch die Schwedin Lykke Li zieht es nach ihrer ersten Platte „Youth Novels“, die stilistisch zum Singer-/Songwriter-Pop gezählt werden kann, in die musikalische Historie. Ordentlich Hall und Reverb, Orgeln und Schellenkränze der Beat-Ära verbreiten nostalgische Stimmung wie ein Film im Breitwandformat.
Düsternis und Melancholie hängen über den zehn Songs von „Wounded Rhymes“, die laut Lykke Li ihre veränderte, gereifte Persönlichkeit ausdrücken. Nach ihrem erfolgreichen Debüt bekam die 1986 geborene Li eine Menge mit vom Showgeschäft – zu viel für ihr Empfinden. Sie zog sich zurück, in die Wüste östlich von Los Angeles. Und hörte Leonard Cohen, Neil Young und Velvet Underground. Klar, dass man da schwermütig wird – und vielleicht gar keine andere Musik mehr machen kann, als die, die auf „Wounded Rhymes“ zu hören ist.
„Dieses Album muss perfekt sein. Es muss für Dekaden vorhalten“, so lautet Lykke Lis eigener Anspruch und ist wohl die Erklärung dafür, weshalb sie einen so „altmodischen“ Sound wählte: der Klang der Neuzeit ist ihr wohl noch nicht zeitlos genug für das, was Lykke Li sagen will. Songtitel wie „Sadness is a Blessing“, „Rich Kids Blues“ oder „Unrequited Love“ unterstreichen ihre dunkle, von Zweifel und Enttäuschung geprägte Weltsicht. Und natürlich ist es schaurig-traurig-schön, wenn Lykke Li in bester Blues-Manier singt, „Twice the pain the suffering / oh our love has gone divided / oh my Love is unrequited“ – und doch wird man den Verdacht nicht los, dass nach „Wounded Rhymes“ bei Lykke Li wieder ein kompletter Sound- und Imagewechsel ansteht…
Lykke Li: Wounded Rhymes. Atlantic/Warner. Zur Homepage der Band geht es hier.
Unentschlossen, aber liebenswert
Keren Ann, 37-jährige Kosmopolitin mit russisch-israelisch-javanesisch-holländischen Wurzeln ist nicht gerade für musikalische Revolutionen bekannt. Einer schönen Frau mit angenehmer Stimme sieht man aber vieles nach und so werden ihre Platten, die sie als Solokünstlerin seit 2000 veröffentlicht, mit schöner Regelmäßigkeit als „kleine Meisterwerke“ bezeichnet – die sie auch sind, wenn man verträumte, Intimitität heraufbeschwörende, melancholisch angehauchte Pop-Chansons mag. Früher sang Keren Ann haupsächlich französisch, seit ihrer letzten Platte auf Englisch, was nachvollziehbar ist, da sie seit einiger Zeit vorwiegend in New York lebt.
Mit ihrem sechsten Album „101“ will Keren Ann offenbar einen Imagewechsel vollziehen, siehe Cover- und Bookletfotos, auf denen sie mit Revolver abgebildet ist. Doch gefährlich und verwegen klingt Keren Ann Zeidel, wie sie mit vollem Namen heißt, auf den zehn neuen Songs keineswegs. Sanft schwebt sie zwischen Chelsea Hotel und St. Germain, 60’er-Jahre-Pop und Chanson dahin, klingt weder amerikanisch noch europäisch-französisch, sondern auf ätherische Weise ortlos. Auffällig ist die aufwändige Produktion, die ihre Stimme in viele Klangschichten bettet, und die Stilexperimente, die nicht mehr viel mit den kammermusikalischen Liedern gemein haben, die Keren Ann vor Jahren mit Benjamin Biolay aufnahm. Das funktioniert nicht immer gut, „Sugar Mama“ ist zu aufgesetzt flott, „Blood on my Hands“ ist ganz und gar unentschlossen und wirkt durch das blutrünstige Setting unfreiwillig komisch.
Aber es sind auch viele feine Songs auf „101“, das Gitarren- und Cello-unterlegte „All the Beautiful Girls“ zum Beispiel, die üppig schwelgende Ballade „Strange Weather“ oder der karg instrumentierte, geheimnisvolle Titeltrack, in dem sie aus dem 101. Stock ihres New Yorker Hochhauses mit dem Lift nach unten fährt – das sind die kleinen Meisterwerke, für die man Keren Ann dann doch immer wieder liebhat
Keren Ann: 101. Delabel (EMI). Zur Homepage der Band geht es hier.
Eingängiger Electroclash
Das Liverpooler Quartett Ladytron, benannt nach einem Roxy Music-Song, bildet mit Client die Speerspitze des Retro-Synthiepop. Manche sagen „Electroclash“ dazu, aber weder bei Client noch bei Ladytron „clasht“ es irgendwo, ganz im Gegenteil: beide Bands verbinden Gegensätzliches wie Elektro und E-Gitarren, Clubgrooves und härtere Sounds, schillernden Glamour und düstere Waveästhetik auf ziemlich eingängige Weise.
Daniel Hunt, Reuben Wu, Helen Marnie und Mira Aroyo fanden 1998 zusammen und veröffentlichten seitdem als Ladytron vier Studioalben – nicht unbedingt viel, aber man weiß ja auch, dass Masse nicht gleich Klasse ist. Ladytron machen sich lieber ein bisschen rar und überzeugen ihre Fans mit richtig guten Platten, die das Achtziger-Revival sehr früh vorwegnahmen. Man kann sogar behaupten, dass sich jüngere Acts wie La Roux mehr auf Ladytron als auf Depeche Mode berufen.
Mittlerweile ist es Zeit für die erste Ladytron-Werkschau: „Best of 00 – 10“ zeigt den Werdegang der Band, die mit „Destroy Everything You Touch“, „Playgirl“ oder „Seventeen“ wahre Elektro-Klassiker geschaffen hat, nachzuprüfen jedes Wochenende in der Wave-Disco ihrer Wahl. Die Mischung aus kühlen weiblichen Vocals, hymnischen Synthie-Melodien und tanzbaren Beats überzeugt und lässt auch Experimente mit Rock, wie z.B. bei „Blue Jeans“ zu. Ladytron sind für unzählige Nachahmerbands verantwortlich, „Best of 00 – 10“ macht klar, weshalb man die Namen der meisten Epigonen schon vergessen hat.
Ladytron: Best of 00 – 10. Nettwerk (Soulfood). Zur Homepage der Band geht es hier.
Und hier zwei Lesetipps, denn Frau (und Mann!) lebt ja nicht nur vom Gesang allein:
Fünf Höllenfahrten
Die US-amerikanische Journalistin, Kriegsreporterin und Romanautorin Martha Gellhorn (* 1908, gestorben 1998) war eine wahrhaft tollkühne Frau: „Ich liebte immer nur die Welt der Männer“, sagte die Ex-Frau Ernest Hemingways über sich, eine Äußerung, die vor dem Hintergrund ihrer aktivsten Zeit gesehen werden muss. So war sie sicherlich die einzige Frau, die 1931 von den Lynchmorden im US-Bundesstaat Mississippi berichtete, sie schrieb über die Befreiung des KZ Dachau, über den Fall der Tschechoslowakei und über McCarthys Kommunistenjagd. Gellhorn begab sich auf Terrain, das auch vielen Männern zu gefährlich war, und zögerte niemals, wenn es darum ging, einen Aufsehen erregenden Auftrag anzunehmen oder eine riskante Reise anzutreten. Reisen waren neben den spektakulären Reportagen ihr großes Lebensthema: ruhelos oder neugierig – beide Attribute treffen auf Martha Gellhorn zu. Sie schrieb viele Reiseberichte, von denen einige bereits vor zehn Jahren veröffentlicht wurden. Im Verlag Dörlemann sind nun die „Fünf Höllenfahrten“ erschienen, ein dickes Buch über die Reisen, die sie mit ihrem „UB“ (= Unwilligen Begleiter) Ernest Hemingway unternahm. Gellhorn schleppt den unwilligen Hemingway nach Afrika, China oder Russland, stets ist die Stimmung gespannt und die Umstände verheerend.
Übersetzer Herwart Rosemann bringt den Lesern Martha Gellhorn sehr nahe, oft muss man über ihre detailgenauen Beschreibungen lachen, und ebenso oft versteht man UB Hemingway, weshalb er so ungern verreiste. „Reisen mit mir und einem anderen“ ist ein Plädoyer für und gegen das Unterwegssein gleichermaßen, das Dokument gelebter Emanzipation und ganz nebenbei die Entdeckung einer fantastischen Autorin. Es passte zur immer und um jeden Preis unabhängig lebenden Gellhorn, dass sie, als sie 1998 schwer erkrankte und erblindete, Suizid beging.
Martha Gellhorn: Reisen mit mir und einem anderen: Fünf Höllenfahrten (Travels With Myself and Another, 1978). Deutsch von Herwart Rosemann, mit einem Nachwort von Sigrid Löffler. Zürich: Dörlemann 2011. Gebunden. 544 Seiten. 24,90 Euro.
Warum junge Frauen heute lieber schön als schlau sein wollen
Wundern Sie sich auch darüber, dass viele Frauen Lap- oder Tabledance erlernen wollen und das für eine feministische Aktion halten? Oder möchten Sie gar selber Lap- oder Tabledance erlernen, weil Sie das für eine feministische Aktion halten? In beiden Fällen ist das Buch „Living Dolls“ von der britischen Publizistin Natasha Walter die richtige Lektüre. Walter untersucht mit scharfem Blick und spitzer Feder den alltäglichen Sexismus, dem viele Frauen und Mädchen allzu leicht aufsitzen, ihn verinnerlichen und für „normal“ halten.
Alltäglicher Sexismus beginnt schon im Kleinkindalter mit pinkfarbenen Rüschenkleidchen und rosafarbenen Spielzeugcomputern „extra für Mädchen“, wird in TV-Castingshows wie „Germany´s Next Topmodel“ weitergeführt und hört mit den angeblich so sexy machenden Tabledance-Kursen noch lange nicht auf. Aber wir befinden uns doch im Jahr 2011, werden Sie jetzt einwenden, Emanzipation und Gleichberechtigung sind für uns junge Frauen doch längst selbstverständlich. Okay, über die ungleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, die Situation berufstätiger Mütter und einigen anderen Kleinkram müssen wir irgendwann nochmal reden, aber ansonsten ist doch alles geschafft! Und Feministin nennen sich doch nur alte grauhaarige Tanten, die keinen Mann abbekommen haben. Oder?
Wie all dies auf perfide Weise miteinander zusammenhängt und wie oft und wie sehr sich Frauen durch falsch verstandene Emanzipation selber Beine stellen, zeigt Natasha Walter in „Living Dolls“. Die Lektüre schmerzt an mehr als einer Stelle, aber das ist auch gut so.
Christina Mohr
Natasha Walter: Living Dolls. Warum junge Frauen heute lieber schön als schlau sein wollen (Living Dolls. The Return of Sexism, 2010). Aus dem Englischen von Gabriele Herbst. Frankfurt: Krüger Verlag 2011. Gebunden mit Schutzumschlag. 330 Seiten. 19,95 Euro.