Geschrieben am 26. Juni 2013 von für Musikmag

Mohr Music: Scared To Get Happy – Bedsit Disco Queen

In ihrer Kolumne beleuchtet Christina Mohr in dieser Woche eine CD-Compilation, die sich um Popmusik aus dem England der 80er-Jahre verdient macht; außerdem hat sie die Biografie von Tracey Thorn gelesen.

scaredDie tollste, schönste, herzerwärmendste Popmusik

Während die heutige Jugend dem YOLO*-Kult huldigt und außer der Frage, wie man die vielen Primark-Tüten nach Hause geschleppt bekommt, kaum Sorgen zu haben scheint, sah das in den 1980ern ganz anders aus. Saurer Regen, Kalter Krieg, atomare Bedrohung und generelle Endzeitstimmung drückten die Schultern der Adoleszenten nieder und führten in Deutschland – sehr verkürzt ausgeführt – zu trotzig-alberner NDW-Mucke wie UKW´s „Sommersprossen“.

Im United Kingdom war man auch in Krisenzeiten traditionell geschmackssicherer: sind die Achtziger inzwischen völlig zu Unrecht als Schulterpolster-Dauerwellen-Synthietrash-Jahrzehnt verschrieen, wird dabei unter den Tisch gekehrt, dass in den Jahren 1980 bis 89 vor allem in England die tollste, schönste, herzerwärmendste Popmusik entstand, die man heute arg vereinfacht als „Indie“ bezeichnet. Punk war vorüber, Postpunk irgendwie auch, Britpop noch lange nicht in Sicht.

Vom Punk war die DIY-Attitüde geblieben, allerorts keimte nach der ganzen Aggression und Wut der Wunsch nach Popsongs zum Mitsingen und Themen, die sich auch mal wieder „nur“ um Liebesirrungen und -wirrungen drehen durften. Instrument der Wahl war meistens die geschrammelte Gitarre, unterstützt von billigen Synthesizern, Casios, Spielzeuginstrumenten oder auch mal Trompeten und Saxofonen, dazu sang irgendjemand aus der Band, nicht unbedingt der oder die mit der besten Stimme.

In Zeiten des Übergangs (wenn man von Punk zu Britpop eine Linie ziehen wollte) entwickeln sich oft die schönsten Blüten – neue Bands gründeten sich im Frühachtziger-England buchstäblich in jedem Jugendzimmer, Labels wie Postcard in Glasgow oder Rough Trade in London boten vielen eine erste Anlaufstelle, die Zeitschrift NME gab mit der Compilation „C86“ der Generation einen Namen.

Das Londoner Label Cherry Red hat kürzlich eine in Umfang und Auswahl unvergleichliche Compilation herausgegeben, die zwar eindeutig retrospektiven Charakter, vor allem aber Perlentaucherqualitäten hat: „Scared To Get Happy“ versammelt auf fünf CDs 134 Songs, von denen jedem einzelnen ein Platz in euren Herzen gebührt. Alle Songs und Bands aufzuführen**, wäre ein uferloses Unterfangen, als Appetizer mögen an dieser Stelle genügen: Pulp mit „Everybody´s Problem“ (1983), The Woodentops („Plenty“, 1984), The Jazz Butcher („Southern Mark Smith Glass“, 1984), James, The Jesus and Mary Chain, Inspiral Carpets, The La´s, Josef K, Soup Dragons, The Wonder Stuff, Girls At Our Best, The Primitives, The Darling Buds, The Wedding Present, Biff Bang Pow!, etc.pp., leider fehlen ausgerechnet Orange Juice mit Edwyn Collins, mutmaßlich aus verwertungsrechtlichen Gründen.

Viele der Bands, die sich davor fürchteten, fröhlich zu sein, wurden später zu Stars: Lloyd Cole & The Commotions zum Beispiel, Primal Scream, The Bodines, The Boo Radleys, Pop Will Eat Itself, The Shamen und House of Love, andere wiederum nahmen nur eine einzige Single auf und verschwanden im Nirwana oder diffundierten in neue Bands wie Laugh, The Raw Herbs, Hangman´s Beautiful Daughters oder The Corn Dollies. Aus dem hinskizzierten Geschrammel entfalteten sich neue Stile wie Acid House Rave („Madchester Rave“), Elektro, Alternative-Rock und ja, irgendwann auch der supererfolgreiche Britpop mit Bands wie Blur, Oasis, Supergrass und Pulp – die nicht wirklich in diese Reihe passen, aber das ist ein Kapitel für sich.

In dieser goldenen Ära britischen Pops griffen auffallend viele Frauen zu den Instrumenten und schrieben Songs, die sie selbst performten: The Shop Assistants, Talulah Gosh, Strawberry Switchblade und nicht zuletzt die Marine Girls aus Hatfield, Hertfordshire – eine von Kurt Cobains dezidierten Lieblingsbands, Schöpferinnen unvergänglicher Minimal-Pop-Kleinodien wie „Beach Party“ und „Don´t Come Back“ und Vorläuferinnencombo von Everything But The Girl.

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Pop-Idealismus

Gegründet wurden Marine Girls von Tracey Thorn, deren Autobiographie „Bedsit Disco Queen“ Anfang dieses Jahres bei Virago Press erschienen ist. Es gibt wenige Bücher, die man ohne Bedenken, nein sogar unbedingt auch Leuten empfehlen kann/muss, die sich eigentlich gar nicht für das Hauptthema (hier: Popmusik) interessieren, „Bedsit Disco Queen“ ist ein solches. Die 1962 im Londoner Trabantenstädtchen Brookman´s Park geborene Thorn beschreibt auf lakonische und selbstironische, dabei immer völlig nachvollziehbare Weise ihren Weg zum Ruhm, den freiwilligen Rückzug ins Private und ihr behutsames Comeback in die Welt des Pop.

Tracey Thorn ist die beispielhafte STGH-Musikerin par excellence: mitten in die behütete Vorstadt-Kindheit platzt ihre Begeisterung für Punk, die ihre bis dahin konfliktfreie Beziehung zu ihren Eltern in Frage stellt. Tracey will unbedingt selbst Musik machen, trotz ihrer Schüchternheit: „Ich wollte gehört, aber nicht unbedingt gesehen werden“, schreibt sie und könnte das juvenile Unbehagen mit sich selbst nicht besser auf den Punkt bringen.

Sie schreibt eigene Songs, singt und spielt Gitarre und traut sich irgendwann doch auf die Bühne, wird bei einem Auftritt mit ihrer ersten Band Stern Pops mit blutigen Schweineohren beworfen und verliert trotzdem nicht ihren Idealismus. Nach den Stern Pops kommen die Marine Girls, und gründet schließlich – mit ihrem Freund Ben Watt – das Duo Everything But The Girl, mit dem sie (später zu EBTG verkürzt) zu Weltruhm gelangt. Hits wie „Missing“ und Alben wie „Amplified Heart“ bringen Thorn und Watt in die luxuriösesten Hotels, an die glossiesten Orte der Welt und in unbeschreibliche Rockstar-Situationen. Spätestens hier (Ende der 1990er) verliert Tracey Thorn ihren Pop-Idealismus, kehrt der Glamourwelt, in die der schüchterne Teenager aus Brookman´s Park nie wollte, den Rücken und wird Hausfrau und Mutter.

Zum Glück liebt Tracey Thorn die Musik zu sehr, als dass ihre Geschichte damit beendet sein könnte – was ihr aber selbst nachlesen sollt und zwar in ihrem wie bereits schon erwähnt ganz wundervollen Buch „Bedsit Disco Queen“.

Christina Mohr

* YOLO = You Only Live Once

** Tracklisting z.B. hier: http://www.slicingupeyeballs.com/2012/11/23/scared-to-get-happy-story-of-indie-pop-1980-1989/ und auf der Cherry-Red-Homepage

Scared To Get Happy. 5-CD-Compilation. Cherry Red Records.

Tracey Thorn: Bedsit Disco Queen. How I Grew Up and Tried to be a Pop Star. Virago 2013. 362 Seiten. Zur Homepage der Musikerin.

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