Die Musikwelt ist schnellebig wie nie, für die VÖ-Listen der Labels müssen wöchentlich ganze Regenwälder gefällt werden – da ist der Wunsch nach ein bisschen weniger Hektik manchmal verständlich. Wer sich von all den Neuigkeiten überfordert fühlt, kann ja mal zu den bewährten Pop-Klassikern greifen, so wie Christina Mohr in dieser Woche.
All Time Best
Wer jemals eine Schule von innen gesehen hat, kennt natürlich die knallgelbe Reclam-Reihe, die Klassiker der Weltliteratur in unerreicht unprätentiöser Form veröffentlicht. Auch noch heutzutage werden die Heftchen von mehr oder weniger gelangweilten Schülern schonunglos bekritzelt, die Titel verunglimpft und verhohnepiepelt. Die Autorin dieser Zeilen erinnert sich an kreative Höchstleistungen ihrer MitschülerInnen wie z. B. „Satan die Scheiße“ (Originaltitel: Nathan der Weise) oder „Krawalle und Hiebe“ (Kabale und Liebe). Dennoch hatte man die Reclam-Heftchen liebgewonnen, weil sie die hohe Literatur vom Sockel hoben.
Auf den Sockel erstmal rauf sollen nach Meinung von Sony Music Klassiker der Popmusik wie Johnny Cash, Bob Dylan, Simon & Garfunkel, Santana, Miles Davis und Elvis. Deshalb ging Sony eine Kooperation mit dem Reclam Verlag ein und veröffentlicht unter dem Claim „All Time Best“ reclamgelbe CDs zum günstigen Preis mit den wichtigsten Songs der genannten Künstler, jede mit ausführlichem Booklet. Weitere aus dem Sony-Archiv bestückte Reclam Musik Editionen sollen folgen.
Ob diese CDs tatsächlich in Schulen zum Einsatz kommen sollen, ist nicht ganz klar, laut Presseinfo will Sony „gezielt Konsumentenkreise ansprechen, die sich hauptsächlich im Buchhandel bewegen.“ Also Hobbygärtner und -köche, Katzenfreunde, Krimifans – oder sind doch Lehrer und Schüler gemeint? Man kann davon ausgehen, dass Elvis-Liebhaber all seine Songs bereits zuhause haben, das Gleiche gilt für Fans von Dylan, etc. Und dass sich Jugendliche aus lauter Vertrauen in die Marke Reclam in einer Buchhandlung, wohin sie sich ohnehin selten bewegen, eine CD mit den besten Liedern von Santana kaufen, ist anzuzweifeln.
Also bleibt doch nur der didaktische Ansatz, mit dem bereits die Generation der Rezensentin von ihren Lehrern gequält wurde: Songtextanalyse im Englischunterricht. Selbstverständlich mit „qualitativ hochwertiger“ Musik, die keinesfalls nach 1969 entstanden sein durfte. Wer einst unter der Anleitung bereits grauhaariger Pädagogen alle Strophen von Don Mac Leans „American Pie“ übersetzen und interpretieren musste, weiß, was ich meine.
Langer Rede kurzer Sinn: „All Time Best“ ist ein seltsames Produkt. Und ich hänge noch meine übliche Mäkelei an: in der ersten Staffel der Sony-Reclam-Popklassiker kommen natürlich nur männliche Musiker vor.
All Time Best – Bob Dylan: Reclam Musik Edition (Columbia/Sony/reclam); Simon & Garfunkel: Reclam Musik Edition (Columbia/Sony/reclam); Johnny Cash: Reclam Musik Edition (Columbia/Sony/reclam); Santana: Reclam Musik Edition (Arista/Sony/reclam); Miles Davis: Reclam Musik Edition (Columbia/Sony/reclam); Elvis Presley: Reclam Musik Edition (RCA/Sony/reclam).
Weitere Informationen gibt es beim legacy-club und bei Reclam.
Altbewährt
Sony-Archive, die zweite: weniger didaktisch, sondern mehr bergend-bewahrend ist die immens erfolgreiche Reihe „Original Album Classics“ gedacht. Seit einigen Jahren werden Alben aus dem Sony-Backkatalog wiederveröffentlicht. Die CDs stecken in unspektakulären Papphüllen, die mit dem Originalcover bedruckt sind und werden à drei CDs in einem stabilen Schuber gebündelt, fertig. Der relativ günstige Preis erlaubt es, öfters zuzugreifen – ideal für Leute, die sich vom irren Veröffentlichungstempo der Musikindustrie überfordert fühlen und auf altbewährte Künstler zurückgreifen wollen, um Fehlkäufe zu vermeiden. Wer weiß schon, ob man sich in drei Monaten noch an Bands wie Holy Ghost! oder Esben And The Witch erinnern wird…
Mit den „Original Album Classics“ kann man ganz auf Nummer Sicher gehen und für weniger als zwanzig Euro drei Alben z. B. aus Muddy Waters‘ Spätwerk erstehen. Oder mal anhören, wie der experimentierfreudige Henry St. Clair Fredericks alias Taj Mahal dem Blues ganz neue Töne unterjubelte. Oder sich Iggy Pops schwierigste, unentschlossenste, deswegen aber auch höchst interessante Phase zu Gemüte führen: auf „New Values“ (1979), „Soldier“ (1980) und „Party“ (1981) probierte sich The Ig in Sachen New Wave und Disco aus – mit unterschiedlich überzeugenden Ergebnissen.
Er selbst fand diese Zeit wohl auch eher verwirrend, sein Gesichtsausdruck auf dem Cover von „Party“ spricht jedenfalls Bände. Auf dieser Platte befindet sich allerdings auch „Bang Bang“, ein ziemlich klasse Song, den er auch heute noch manchmal live bringt.
Original Album Classics: Muddy Waters (EPIC/Columbia/Sony, 3 CDs). Darin enthaltene Alben: Hard Again (1977), I´m Ready (1978) und King Bee (1981).
Original Album Classics: Iggy Pop (Arista/Sony, 3 CDs). Darin enthaltene Alben: New Values (1979), Soldier (1980), Party (1981).
Original Album Classics: Taj Mahal (Columbia/Sony, 3 CDs). Darin enthaltene Alben: Taj Mahal (1968), The Natch l Blues (1968) und Mo Roots (1974).
Schon wieder größte Hits von Morrissey!
Morrissey lässt es sich niemals nehmen, sein Publikum zu belehren und auf vergessene oder seiner Ansicht nach unterschätzte Künstler hinzuweisen. Vor seinen Konzerten laufen Videos von Sandy Shaw, Jobriath und den New York Dolls oder Filmausschnitte von Pier Paolo Pasolini.
Bei der „Ringleaders of the Tormentors“-Tour in 2006 verwendete Morrissey ein Foto des französischen Sängers Sacha Distel (1933 – 2004) als Bühnenbild. Auf der Innenhülle der CD- und Vinyl-Ausgabe von „The Very Best Of Morrissey“ hält Moz ein Album von Distel in die Kamera und blickt den Betrachter dabei so ernst und bestimmt an, dass man sofort in den nächsten Second Hand-Plattenladen laufen und ein Album von Sacha Distel erwerben will, um eventuelle unverzeihliche Wissenslücken zu schließen. Den Distel-Hit „Raindrops Keep Fallin‘ On My Head“ kennt man ja noch, aber weitere Lieder? Tja, Fehlanzeige, was? Lasst das bloß Herrn Oberstudienrat Steven Patrick Morrissey nicht mitkriegen! Apropos „kriegen“: angesichts der vielen in letzter Zeit veröffentlichten Singles-Kopplungen und Album-Re-Releases konnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass Morrissey den Hals nicht vollkriegt.
Jetzt aber Schluss mit dem hässlichen K-Wort, wenden wir uns lieber der in verschiedenen Formaten erscheinenden Compilation „The Very Best of Morrissey“ zu. Auf der CD und LP befinden sich achtzehn Songs aus Morrisseys HMV- und Parlophone-Jahren, darunter „The Last Of The Famous International Playboys“, „Glamorous Glue“, „Interesting Drug“ und „November Spawned A Monster“, außerdem eine fast zehnminütige Version von Henry Mancinis „Moon River“ und die bisher unveröffentlichte Soloaufnahme von „Interlude“, das Morrissey einst gemeinsam mit Siouxsie gesungen hatte. Für Sammler ist die Sache klar: „The Very Best Of“ muss gekauft werden. Die Vinyl-Version besticht durch zwei dicke Deluxe-Schallplatten und erwähntes Foto mit der Distel-Platte in Großaufnahme, der CD liegt eine DVD mit Videos, TV-Auftritten UND einer Interpretation von „Sunny“ bei.
Im Rahmen der Veröffentlichung von „The Very Best of“ erscheinen außerdem noch drei verschiedene 7“-Versionen von „Glamorous Glue“ mit unterschiedlichen B-Seiten und Covern. Puh, Prof. Dr. Morrissey verlangt wirklich eine ganze Menge von seinen Adepten…
The Very Best of Morrissey. CD + DVD, Vinyl-Doppel. EMI.
Die Website des Künstlers. Morrissey bei Facebook und auf Myspace.
Christina Mohr