Geschrieben am 1. Dezember 2010 von für Musikmag

Mohr Music

In ihrer neuesten Kolumne stellt uns Christina Mohr neue Veröffentlichungen von weiblichen Musikern vor.

Kyrie Kristmanson: Origin Of StarsFaszinierend:

Zugegeben: die verfügbaren Infos über Kyrie Kristmanson klangen bedenklich. Von „Geistern und Naturgewalten“ war die Rede, von der „überwältigenden Energie der erst 20-jährigen Kanadierin“, die auf der Bühne selbstgemachte weiße Wollhüte trägt und mit einer Kindergitarre auftritt. Und dann der Name! Kyrie heißt auf griechisch „Gott“, Kristmanson ist isländisch und bedeutet „Sohn des Christen“. Ihr zweites Album trägt den Titel „Pagan Love“ (Heidnische Liebe). Kann es noch kruder kommen? Gegen Kristmanson wirkt „Folkelfe“ Joanna Newsom wie eine biedere Steuerberaterin… – dachte die Rezensentin. Aber zum Glück hält das Popgeschäft ja noch Überraschungen bereit, Überraschungen wie Kyrie Kristmansons dritte Platte „Origin Of Stars“. Schon der Opener, „Song X“ zieht die Hörer in seinen Bann: irgendwie verrückt scheint Miss Kristmanson schon zu sein, aber gleichzeitig auch bodenständig. Die Trompete trötet und Kyrie Kristmanson singt dazu mit klarer Stimme, die ein bisschen an Björk und Feist erinnert, aber auch nur ein bisschen. Kristmanson wirkt viel geerdeter. Nach dem Zaubersoul aus dem Wald locken „Jump“ und „Eruption“ mit jazzigen Improvisationen, „Who“ ist eine bestrickende Mischung aus Folk, französischem Chanson und 60er-Jahre-Barjazz. Als wäre das „Girl From Ipanema“ in den kanadischen Weiten gelandet. Die durchgedrehte Trompete vom Anfang ertönt wieder bei „Comet Of Desire“, „Wicked Wind“ dagegen ist eine schwerelose Folkskizze mit zurückgenommener Instrumentierung. Der Titeltrack ist mindestens so bezaubernd wie Audrey Hepburns „Moon River“ aus „Breakfast at Tiffany’s“ – nur dass „Origin Of Stars“ keinen Film braucht, um seine Schönheit zu entfalten. Mit dem auf Französisch gesungenen „Oh, Montmartre“ zeigt Kristmanson ihre Verbundenheit zum Land des gallischen Hahns: 2009 trat sie beim „Printemps de Bourges“-Festival zum ersten Mal öffentlich auf, inzwischen lebt sie in Paris. Langer Rede kurzer Sinn: „Origin Of Stars“ ist ein ganz wundervolles, faszinierendes Album, durch das vielleicht doch ein paar kanadische Geister schweben…

Kyrie Kristmanson: Origin of Stars. No Format (Alive).

www.myspace.com/kyriekristmanson

Emily Jane WhiteMitpfeifen

Kontemplation. Innerlichkeit. Stille und Einkehr. Diese Begriffe kommen einem bei Emily Jane Whites drittem Album „Ode To Sentience“ in den Sinn. Dass die kalifornische Singer-/Songwriterin ihre Laufbahn in Punk- und Metalbands begann, mag man angesichts der sensiblen Dark Folk-Balladen kaum glauben. Auf „Ode To Sentience“ handelt Emily die ganz großen Themen ab: Liebe, Glaube, Hoffnung, Leben, Tod. „I don’t write happy songs“, sagte sie in einem Interview, und tatsächlich wird man fröhliche Texte in ihren Songs vergeblich suchen. Ihren Hang zur Melancholie erklärt sie mit ihrer Jugend in Fort Bragg, einem kleinen Ort bei San Francisco. „Fort Bragg lehrt dich, dass du leben wirst – aber auch, dass du irgendwann stirbst.“ Eine einfache Wahrheit, die sie auf faszinierende Weise künstlerisch verarbeitet. Emily spielt hauptsächlich Akustikgitarre und singt, auf dem Album wird sie von einer Handvoll Musiker mit Cello, Geige und behutsamem Schlagzeug begleitet. Ähnlich wie beim Duo Azure Ray entstehen bei Emily Jane White Intensität und Intimität durch Reduktion, der Kontrast von gefühlvoller Musik und schwermütigen Texten betört und verstört. Americana wie Folk, Country und Blues sind die Grundlage für Whites zarte Balladen, Dramatik und Tiefe entstehen oft aus einem einzigen Ton: bei „The Law“ zum Beispiel ist nicht viel mehr als eine eindringlich gespielte Klaviernote zu hören, in „I Lay to Rest (California)“ dominieren Streicher und Emilys klarer Sopran. Was Emily Jane White von anderen Dark Folk- und Alternative Country-Musikerinnen unterscheidet, ist ihr Händchen für Melodien: Songs wie „The Cliff“, „The Preacher“ und „Requiem Waltz“ mögen tieftraurig sein. Und doch pfeift man sie beim ersten Hören mit.

Emily Jane White: Ode To Sentience. Talitres (Rough Trade).
www.emilyjanewhite.com

www.myspace.com/emilyjanewhite

The ConcretesAbklatsch

Es war einmal ein schwedisches Mädchentrio, das nannte sich The Concretes. Lisa, Maria und Victoria, so hießen die drei Mädchen, musizierten lustig vor sich hin und veröffentlichten fast jedes Jahr ein neues Album. Mit ihrem 60s- und 80s-beeinflussten Indiesound erfanden sie weder das Rad noch den Pop neu, sorgten mit Songs wie „Say Something New“ oder „You Can’t Hurry Love“ (keine Coverversion des Supremes-Hits) aber für viel Spaß und gute Laune. Weil sie so nett und lustig waren, wurden The Concretes bald viel mehr: zu Lisa, Maria und Victoria gesellten sich ein paar nette schwedische Jungs, die fortan mit ihnen musizierten. In 2006 gab es eine kleine Krise, Victoria verließ die Band, um sich ihrer Solokarriere zu widmen. Das Concretes-Album vom darauffolgenden Jahr, „Hey Trouble“, war aber immer noch ziemlich gut. Dann zogen sich die sieben restlichen Concretes zurück, um zu reisen und Familien zu gründen, ein Concrete wurde sogar zeitweiliges Zirkusmitglied. Weihnachten 2009 traf man sich wieder, um neue Songs aufzunehmen, die ganz anders klingen sollten als früher. Und ach, was soll man sagen: Irgendwas ging den Concretes auf ihren Reisen und dem Spielplatz verloren. Natürlich kann man nicht ewig auf derselben Gitarren-Indiepop-Schiene fahren. Und natürlich darf man Experimente mit Disco machen. Man kann das Dance-Genre auch so soft und melancholisch anfassen wie die britischen Elektro-Nerds von Hot Chip – aber man darf das nicht so lahm, unentschlossen und hüftsteif tun wie The Concretes. Der Bass wummert ein wenig dicker, die Keyboards spielen eine wichtigere Rolle, dafür sind die Gitarren weniger präsent, sogar Kuhglocken erklingen – nur leider tuckert durch „WYWH“ fast durchgängig ein so langweiliger wie unerbittlicher Discofox-Takt, der The Concretes, diese einst so energiegeladene Truppe, wie einen gerontoiden Abklatsch von Ace of Base klingen lässt. Ein Tipp für die Concretes: trefft euch dieses Jahr zum Julfest wieder, trinkt eine ordentliche Menge Glögg und geht dann direkt ins Studio. Dann klappt das auch wieder mit dem nächsten Album.

The Concretes: WYWH. Something in Construction (Rough Trade).

www.myspace.com/theconcretes

Frankie Rose & The OutsSchwummrig

Geht man nur dem Namen nach, könnte das in die falsche Richtung führen, denn Frankie Rose ist eine Frau! Eine sehr schöne übrigens, das aber nur nebenbei. Frankie kommt aus Brooklyn/NYC und spielte Schlagzeug bei den Vivian Girls, Dum Dum Girls und Crystal Stilts, denen sie mit ihrem minimalistischen Moe Tucker-ähnlichen Stil die besondere Note gab. Die genannten Bands hingegen weisen in die richtige Richtung, wenn man wissen will, wie Frankie mit ihrer all female-Combo The Outs klingt: Das Quartett schöpft wie die Vivian Girls aus verschiedenen Einflüssen wie Phil Spectors 60s-Girlgroups, Surfpop der Beach Boys, dem avantgardistischem Prä-Punk von Velvet Underground, 80er-Jahre-Shoegaze und der verstörenden Feedback-Schwarzromantik von Jesus And Mary Chain. Frankie, die bei den Outs neben Schlagzeug auch Gitarre spielt und singt, ist es am wichtigsten, mit ihrer Musik Stimmungen zu erzeugen, was ihr voll und ganz gelingt. Die Kombination aus engelsgleich zartem Gesang à la Julee Cruise oder Cocteau Twins und rauem Garagenbeat, aus Cramps-inspiriertem Psychobilly, Rückkopplungsrauschen und wattigen Walls of Sound – kurz, aus dem Underground der 60er- bis 80er-Jahre – wirkt einfach berückend, auch wenn man ganz kühl und analytisch fast jede Note der Outs ihrem jeweiligen Vorbild zuordnen kann. Frankie Rose schreibt tolle Songs wie „Candy“ und „Little Brown Haired Girls“, die zerbrechlich und aufmüpfig zugleich sind, covert geschmackvoll (Arthur Russells „You Can Make Me Feel Bad“) und rockt scheppernd durch die Hinterhöfe Brooklyns („Don’t Tread“, „That’s What People Told Me“). Nach der halben Stunde mit Frankie Rose & The Outs fühlt man sich zwar ein bisschen schwummrig – wie es einem nach Cocktails mit vielen Zutaten eben geht – aber man will das Ganze sofort nochmal. Cheers.

Frankie Rose & The Outs. Slumberland (memphis industries).

www.myspace.com/saintoftherose

Marnie SternKeine Posen

Ein Track auf Marnie Sterns neuem Album heißt „Female Guitar Players Are The New Black“, „Transparency Is the New Mystery“ ein anderer. Die 34-jährige Ausnahmegitarristin aus New York weist völlig zu Recht auf das Schattendasein Gitarre spielender Frauen im Rock hin, der andere Titel wäre zu diskutieren, klingt aber gut. Kritikerlob ist ihr jedenfalls sicher, schon 2007 kürte die New York Times ihr Debütalbum „In Advance Of The Broken Arm“ zum „aufregendsten Rock’n’Roll-Album des Jahres“. Mit ihrer dritten, transparent und ökonomisch „Marnie Stern“ betitelten Platte* manifestiert Marnie Stern ihren Ausnahmestatus, sogar unter Ausnahmemusikerinnen: Prog- und Noiserock, Free Jazz und irre Gitarrensoli, die Jimi Hendrix und Eddie Van Halen vor Neid erblassen lassen, treffen auf Riot Grrrl-Punkrock, College-Indiepop und Folk. Klassische Songstrukturen mit Strophen und Refrains interessieren Marnie nicht, die zehn Tracks wirken wie eine wilde Improvisationssession. Sterns außergewöhnliche Technik (fingertapping) macht ihre Musik ohnehin unverwechselbar, doch ihre neue Platte wollte sie noch „lauter und intensiver“ – Producer Lars Stalfors (Mars Volta) erfüllte ihr diesen Wunsch. In Stücken wie „Building A Body“ und „For Ash“ verschränkt sich punkige so what?-Attitüde mit jazziger Komplexität, aber auch Harmonie und Entspannung haben ihren Platz bei Marnie Stern. Wer noch nie etwas von ihr gehört hat, sollte sich auf ein geräuschintensives (vermeintliches) Chaos à la Broken Social Scene mit mehr Energie einstellen – nur dass Marnie Stern zu keinem kuscheligen Musikantenkollektiv gehört. Im Studio wird sie zwar von einem Bassisten und einem Drummer unterstützt, aber im Grunde dreht Marnie ihr Ding alleine. Fast schon im Vorbeigehen möchte man noch ergänzen, dass auch ihre Texte mehr als bemerkenswert sind (z. B. „Her Confidence“). Beeindruckende Frau, keine Poserin.

* der Vorgänger trug den griffigen Titel „This Is It And I Am It And You Are It And So Is That And He Is It And She Is It And It Is It And That Is That“ (2008)

Marnie Stern: dito. Souterrain Transmissions (Rough Trade).

www.myspace.com/marniestern1

Magda: From The Fallen PageEmanzipation

Wie Rockgitarristinnen sind auch weibliche Techno-Producer nicht allzu dicht gesät. Miss Yetti aus Köln, Dinky und natürlich (seufz) die Berliner Pionierin Marusha fallen einem sofort ein, aber dann muss man lange überlegen… Die in Polen geborene, in den USA aufgewachsene und inzwischen in Berlin ansässige Magda begann ihre DJ-Karriere bereits 1996 in Detroit. Sie folgte Techno-Guru Richie Hawtin nach Berlin, er signte sie für sein Label Minus, auf dem sie 2004 das Mixalbum „She’s A Dancing Machine“ veröffentlichte, das ihr Renommee in der Szene festigte. Mit eigenen Produktionen hielt sie sich bisher zurück, „From The Fallen Page“ ist ihr Debüt als Techno-Artist, natürlich erschienen auf Minus. Dem Ruf des Labels entsprechend düster beginnt das Album mit „Get Down Goblin“ und „Your Love Attack“, spätestens aber ab Track 4, dem bass- und beatgesättigten „Entertainment“, reißt Magda die schweren Vorhänge von den Clubfenstern. Draußen scheint zwar nicht die Sonne, schließlich ist es Nacht, aber ein paar Discosterne funkeln da schon. Drive und Tempo halten Einzug in ihre großräumig angelegten Tracks, aber verhalten, abwartend. Magda lässt sich Zeit, nicht nur beim Veröffentlichen. Das Dunkle, Melancholische und untergründig Unheilvolle weist sie als Detroit-geprägte DJ aus, aber „From The Fallen Page“ ist eine Platte, die sich entwickelt, sich steigert. Der Track „Doom Disco“ verdeutlicht das am besten, hier greifen lebendige Discogrooves und schwere Bässe ineinander, „Musicbox“ ist sogar ein waschechtes, rundum tanzbares Discostück. Das monoton-trancige „Japan“ beschließt Magdas Feuerprobe als Producerin, voluminös und leicht zugleich. Mit „From The Fallen Page“ zollt Magda ihrem Mentor Richie Hawtin Tribut und emanzipiert sich gleichzeitig von ihm.

Magda: From The Fallen Page. Minus (Rough Trade).

www.m-nus.com

Anne Clark: The Very Best Of Anne ClarkVery british

Wer sich in den 1980er-Jahren für Wave und Elektro begeisterte, besaß garantiert Anne Clarks Platten „Joined Up Writing“ oder „Hopeless Cases“. Die mittlerweile 50-jährige Britin mit der charakteristischen blonden Kurzhaarfrisur begründete mit Songs wie „Sleeper In Metropolis“, „Homecoming“, „Heaven“ und vor allem „Our Darkness“ einen ganz eigenen Stil: wütende, aufrüttelnde Lyrics in Spoken Word-Manier, vorgetragen zu hypnotisch tanzbaren Synthiemelodien. Damals wie heute war es schwierig, Clarks Person und Musik einzuordnen. Wortkreationen wie „Queen Of Dark Wave“ sind nicht ganz falsch, treffen aber auch nicht wirklich ins Schwarze. Die Musikerin würde sich ohnehin jeglicher Superlative verwehren: Anne Clark gilt – very british – als bescheiden und zurückhaltend, obwohl sie das nicht sein müsste. Ihr Einfluss auf unzählige Wave-MusikerInnen bis hin zu Mike Skinners Poetry-meets-Beats-Projekt The Streets ist unschätzbar, ihre Art des Sprechgesangs bis heute unerreicht: Worte wie „depression“, „surviving“, „politics“ stößt sie wie Parolen aus, ihre Stimme beherrscht-distanziert und höchst leidenschaftlich zugleich. Die Compilation „The Very Best Of“, die Clark selbst zusammengestellt hat, wurde eigens für den deutschen Markt produziert – hierzulande hat sie ihre treuesten Fans, gerade ist sie auf großer Clubtour. Der Text im Booklet stammt von Sonic Seducer-Chefredakteur Torsten Schäfer, besonders dieser Zeitschrift verdankt Clark, dass auch ihre jüngsten Veröffentlichungen wie „The Smallest Acts of Kindness“ (2008) Beachtung fanden. „The Very Best Of“ beinhaltet selbstverständlich ihre großen Hits inklusive Remix-Versionen, aber auch unbekanntere Stücke wie „Alarm Call“ oder „Self Destruct“. Die 19 Tracks zeigen Anne Clark als melancholisch-depressive Weltschmerz-Poetin, politisch bewusste Mahnerin und auch als experimentierfreudige Künstlerin: neben den Achtziger-typischen Wave-Klängen flossen auch Folk-, Dance- und verhältnismäßig unbeschwerte Popelemente in ihre Musik ein.

Anne Clark: The Very Best Of Anne Clark. Virgin (EMI).

www.anneclarkofficial.com

AnikaKiffermusik

Man kann der deutsch-britischen Journalistin, Musikpromoterin und Seit-kurzem-auch-Sängerin Anika und ihrem Produzenten Geoff Barrow (Portishead, Beak>) nicht vorwerfen, dass bei den Aufnahmen zu ihrem Debütalbum kommerzielle Interessen im Vordergrund gestanden hätten. Die neun Tracks, teils Coverversionen, teils Eigenkompositionen, wummern düster und schleppend aus den Boxen und sind dabei so widerständig, cool und unangepasst, dass es eine wahre Freude ist. Die 23-jährige Anika, eine begnadete Nicht-Sängerin vom Schlage Nicos, Pulsallamas oder Michaela Mélians, intoniert distanziert und gleichgültig Lyrics von Yoko Ono („join the revolution… now“) oder Skeeter Davis‘ Herzschmerzballade „The End Of The World“ und bringt gerade dadurch Brisanz und Bedeutung in die Texte. Gepolstert wird Anikas kühler Sprechgesang von Barrows Beak>-Band mit trägem, schwerem Dub, verlangsamtem Dancehall-Reggae, viel Echo und an Joy Division angelehnten PostPunk-Gitarren. Es ist die reinste Kiffermusik, die Anika und Barrow zusammengerührt haben: Bob Dylans „Masters of War“ klingt bei Anika monoton, verdrogt und verschlafen-sexy, in den trägen Dub-Sound knattert unvermittelt ein Schlagzeug hinein, das Ende franst ziellos aus. In den anderen Tracks finden sich Spuren zu TripHop und Wave-Funk, der Groove pulst unmerklich und unwiderstehlich. Die Stimmung des Albums ist definitiv im Keller: in einem dunklen, feuchtkalten Keller, in dem Ratten herumhuschen, aber das ist egal, weil man die richtigen Drogen dabei hat und garantiert tanzen und knutschen wird, wenn nicht sogar mehr. Geographisch wandert Anikas Album zwischen Bristol, Manchester, Berlin und New York hin und her, historisch bezieht man sich hauptsächlich auf die späten 1970er-Jahre. Und doch klang lange kein „Indie“-Album so speziell und underground. Groß.

Anika. Invada (Cargo).

www.invada.co.uk

Pink: Greatest Hits... So Far!!!Keine Wunder

Die Verfasserin dieser Zeilen ist sich bewusst, dass ihre These einer genaueren Betrachtung nicht standhalten wird, will sie aber trotzdem loswerden: die These geht so, dass die aus Pennsylvania/USA stammende Alecia Beth Moore alias Pink oder auch P!nk das weibliche Pendant zu Robbie Williams ist respektive umgekehrt. Auch wenn Pink, abgesehen vom „Lady Marmalade“-Rip Off mit Christina Aguilera und Li’l Kim, keine demütigende Boy- bzw. Girlbandvergangenheit vorzuweisen hat, liegen die Gemeinsamkeiten auf der Hand. Privates wie ihre schwierige Kindheit, frühe Drogenabhängigkeit und Neigung zu problematischen Paarbeziehungen inklusive momentanem Happy End (Robbie verheiratet, Pink schwanger) sind das Eine, bezeichnender ist aber: Pink und Robbie sind beide mit großartigen Stimmen, herausragenden Entertainerqualitäten plus den entscheidenden Dosen Tragik und Selbstironie gesegnet, trauen sich aber nicht, den vermeintlich sicheren Hafen des Mainstream-Popbiz zu verlassen. Robbie Williams‘ quälende 39 Songs lange Best Of-Compilation „In And Out Of Consciousness“ macht das ebenso deutlich wie Pinks „Greatest Hits (So Far)“, die rein zufällig rechtzeitig vor Weihnachten veröffentlicht werden. Natürlich hat Pink fabelhafte Hits im Köcher, wir erwähnen hier nur mal „Get The Party Started“, „Trouble“, „Just Like A Pill“ oder „You Make Me Sick“. Ihre raue Saloonschlampenstimme hat genug Power, um selbst schwächere Songs (zu denen leider auch ihre Eigenkompositionen wie „Dear Mr. President“ zählen) zu retten, aber Wunder kann sie auch nicht vollbringen. Viel lauwarmes Chartfutter befindet sich in Pinks „Greatest Hits“, Lieder, die viel zu schwülstig, zu halbherzig R’n’B-mäßig oder zu hausbacken rockend für Mrs. Moore sind, Rancid-Producer hin oder her. Und so, wie es Robbie zu wünschen wäre, dass er sich auf seine älteren Tage doch noch entschließt, ein bierbäuchiger Fußballhymnen-Crooner zu werden, wäre es ganz wunderbar, wenn pink Alecia ihre rebellische Riot Grrrl-Seite voll und ganz rauslassen würde. Ohne Rücksicht auf die Charts, die Manager, Komponisten, Produzenten und ausverkaufte Welttourneen. Und ohne auf Mitbewerberinnen wie Christina, Beyoncé, Rihanna (Britney wohl nicht mehr, eher schon, schluck, Miley Cirus) zu schielen, vor allem nicht in punkto falsch verstandener Sexyness. Wäre es nicht super, Pink würde mit Beth Ditto und Peaches eine Band gründen? Pink im boyishen Outfit, mit angeklebtem Schnauzbart, „You Make Me Sick“ shoutend? Ach, das wäre toll… Ich schreib´s mal auf den Wunschzettel.

Pink: Greatest Hits (So Far). CD+ DVD. Zomba (SonyBMG).
www.pinkspage.com/de/home

Apropos Compilations: wir empfehlen Pink, die Babypause zur Lektüre des Bandes „Klassikerinnen feministischer Theorie. Grundlagentexte Band II (1920 – 1985) zu nutzen. Die Idee des im schönen Taunusstädtchen Königstein ansässigen Ulrike Helmer Verlags ist so einfach wie notwendig: nach Themen geordnet werden Textausschnitte bedeutender feministischer Autorinnen versammelt. Die Kapitel heißen z. B. „Zwischen altem und neuem Feminismus“, „Natur versus Kultur“ oder „Frauen und (Haus-)Arbeit“, die Texte stammen von u. a. Betty Friedan, Virginia Woolf, Simone de Beauvoir, Margaret Mead, Christa Wolf, Alice Schwarzer oder Gayle Rubin. Dargestellt werden feministische Theorien und Diskurse der „zweiten Welle“ der Frauenbewegung, die einzelnen Kapitel werden durch Kommentare eingeleitet, die die Quellentexte im größeren Kontext erläutern. Natürlich sollte die denkende Frau die (vollständigen) Werke all dieser Autorinnen zuhause haben – aber ach, wer von sich behaupten kann, alle Bücher von Simone de Beauvoir tatsächlich gelesen zu haben, die werfe den ersten Stein. Man darf das Konzept, wichtige Texte aus einem Gesamtwerk zu separieren und in Sampler-Manier zusammenzupacken, durchaus kritisieren. Aber wenn dadurch nur eine Leserin dazu gebracht wird, sich für Kate Millett und Ann Oakley zu interessieren, ist der Ansatz schon gerechtfertigt. Und, Frau Pink, wie sieht’s aus? Vor allem Luce Irigarays Text von 1977, „Das Geschlecht, das nicht eins ist“ und „Die andere Stimme“ von Carol Gilligan (1982) dürften Sie nicht kalt lassen.

Ulla Wischermann, Susanne Rauscher, Ute Gerhard (Hg.): Klassikerinnen feministischer Theorie. Grundlagentexte Band II (1920 – 1985). Frankfurter Feministische Texte. Ulrike Helmer Verlag 2010, Broschur, 351 Seiten. ISBN: 978-3897413009. 29,90 Euro.

Christina Mohr