In ihrer aktuellen Kolumne macht sich Christina Mohr Gedanken um Punk gestern und heute …
Wie Punk aussieht
– Dass dieses Buch bei „Mohr Music“ vorgestellt wird, verdankt sich einem Missverständnis: Beim flüchtigen Lesen der Verlagsinfo dachte Frau Mohr nämlich, dass es sich bei „Punk Is Dead: Punk Is Everything!“ um ein bebildertes Werk darüber handelt, wie sich Punk-Ästhetik ins normale Leben, sprich in Werbung, Mode, Alltagsdesign und -attitüden eingeschlichen hat. Als sie das dicke Ding, gebunden in Holz!, dann in Augenschein nahm, musste sie feststellen, dass „Punk Is Dead…“ eine reich bebilderte Abhandlung, nein, überbordende Ansammlung von Punk-Flyern, -Konzertplakaten, -Eintrittskarten, -Fotos, Setlists, etc. ist. Das Buch ist locker nach Bands (New York Dolls, Ramones, The Clash, Sex Pistols, Throbbing Gristle, Discharge, Tuxedomoon, The Cramps, Dead Kennedys, Swans), Orten (USA, Japan, Island) und Formaten geordnet, aber in einem Buch, das sich um Punk dreht, darf Ordnung keine Rolle spielen. „Punk Is Dead: Punk Is Everything!“ ist der Follow-up-Band zu „Fucked Up and Photocopied“ (1999), das wahrscheinlich ähnlich unsortiert und ähnlich opulent gestaltet ist, wir empfehlen es hier mal unverfroren und unbesehen. „Punk Is Dead…“ ist Fotoalbum und Geschichtsbuch in einem, besonders viel erklärenden Text gibt es, bis auf eine in 2-Punkt-Schrift hingerotzte Einleitung, nicht. Braucht man auch nicht, denn die Abbildungen sprechen für sich und versorgen Dabeigewesene und Zu-Spät-Geborene mit eindrucksvollen Memorabilia. Die Turcotte-Woods’sche Geschichtsschreibung reicht bis in die Nuller Jahre hinein, es handelt sich also nicht um ein reines Remember The 70’s-Projekt, wobei der Schwerpunkt dennoch auf Mitte der 1970er-Jahre liegt. Man findet z. B. alle Cover der New Yorker Zeitschrift Punk!, die der Bewegung ihren Namen gab, ebenso die des britischen Pendants Sniffin‘ Glue. Dazu viele bislang unveröffentlichte Fotos von toten und noch lebenden Punk-HeldInnen wie Sid Vicious und Nancy Spungeon, den Ramones und Debbie Harry. Wunderbar lässt sich der Wandel in der Gestaltung von Punk-‚Werbemitteln‘ beobachten: während der frühen Punkphase wurde hüben wie drüben vorwiegend mit Collagen im Stile John Heartfields gearbeitet (z. B. Ronald Reagan mit Hitlerbärtchen), im Lauf der 1990er-Jahre werden Flyer, Plattencover und Konzertposter immer martialischer, es wimmelt von Totenköpfen, Skeletten und geheimen Zeichen, in der Neuzeit ist eine Rückkehr zum schlichten Gekritzel zu verzeichnen. Und wie es oft so ist mit Missverständnissen: unerwartet entpuppen sie sich zum Volltreffer. Wie auch „Punk Is Dead: Punk Is Everything!“, das den geneigten LeserInnen viel mehr erklärt, als es so manche wortreiche Punkrock-Doktorarbeit vermag. Nichtsdestotrotz bleibt Frau Mohr auf der Suche nach dem von ihr fantasierten Buch, Beschreibung siehe oben. Falls es dieses Buch bereits geben sollte: Hinweise bitte an die Redaktion.
Bryan Ray Turcotte/Doug Woods: Punk Is Dead: Punk Is Everything!: Raw Material from the Martyred Music Movement. Berkeley: Gingko Press 2010. 288 Seiten. Gebunden. 39,95 $.
Wie Punk anfing
Wer über amerikanischen Punk spricht, kann das nicht tun, ohne lange und ausführlich The Velvet Underground zu würdigen, jene Band, die seit ca. 1965 um Andy Warhols Factory herum und aus Andy Warhols Factory heraus die Musikszene bis heute nachhaltig beeinflusst(e). Und: Ein Buch über Kunst und Musik aus New York aus den 1960er- und 70er-Jahren ist fast zwangsläufig auch immer ein Buch über Andy Warhol. Besonders ein Buch über The Velvet Underground, was auch beim neuen Werk des amerikanischen Musikjournalisten Jim DeRogatis, Autor von Büchern über Lester Bangs und The Flaming Lips, nicht anders ist. Das Buch müsste demnach eigentlich „The Velvet Undergound AND Andy Warhol…“ heißen – namensgebend für die Band von Lou Reed, John Cale, Sterling Morrison und Maureen Tucker war ein Buch von Michael Leigh, der in „The Velvet Underground“ genüßlich das Sexleben der braven US-amerikanischen Mittelschicht seziert. Was für ein Name für eine Band! Das fand auch Lou Reed, als er besagtes Buch aus dem Müll fischte und damit Tatsachen schuf: The Velvet Underground schrieben Songs über Sadomasochismus und überhaupt über Sex, Drogen, Verfall und Gewalt. Ihre Musik war ein kompletter Gegenentwurf zum damals vorherrschenden, allgegenwärtigen Love-and-Peace-Hippieshit. Moe Tucker trommelte dilettantisch, aber zwingend zu Reeds und Morrisons brachialem E-Gitarren-Sound, der schöngeistige Cale sorgte mit Viola und Keyboard für künstlerische Akzente. Andy Warhol verliebte sich in die Band und produzierte ihr legendäres Debütalbum (das mit Warhols Bananencover), bestand aber darauf, dass das deutschstämmige Mannequin (damals sagte man noch Mannequin anstatt Model) Nico singen sollte. Da Nico bei Licht betrachtet gar nicht singen konnte, stemmten sich The Velvet Underground zunächst gegen ihre Mitgliedschaft in der Band, kapitulierten dann aber angesichts des Erfolgs ihrer Auftritte mit der schönen Nico. The rest is history – in vielen Bildern, womit wir wieder bei Andy Warhol wären: Der musikalische Einfluss von Velvet Underground ist unbestritten. Unbestritten ist auch die visuelle Regentschaft Warhols, der The Velvet Underground so sehr zur Factory-Band machte, dass die Verbindung zwischen Malcolm McLaren und den Sex Pistols wie eine lockere, unverbindliche Bekanntschaft erscheint. The Velvet Underground sind bis heute der Prototyp des audio-visuellen Gesamtkunstwerks: Nachzuprüfen anhand des fett bebilderten Buches von DeRogatis, nachzuhören noch immer auf ihren wenigen, wichtigen, unverzichtbaren Platten.
Jim DeRogatis: The Velvet Underground: An Illustrated History of a Walk on the Wild Side. Berkeley: Gingko Press 2010. 191 Seiten. Gebunden. 24,90 Euro.
Junge Punkleute heute
Der TV Buddha von 1974 ist eins der bekanntesten Werke von Videokünstler Nam June Paik: ein Buddha sitzt vor einem Fernsehgerät und guckt hinein. Das ist alles. Und irgendwie passt es sehr gut, dass sich die drei jungen israelischen Punkrockmusiker Juval Haring, seine Gattin Mickey Triest samt Bruder Uri nach Paiks 36 Jahre alter, so ironischer wie stoischer Installation benannt haben. Die TV Buddhas aus Tel Aviv, mittlerweile – natürlich, möchte man einwerfen – in Berlin ansässig, präsentieren auf ihrem Debütalbum „Dying At The Party“ in klassischer Rockinstrumentierung (Schlagzeug, Gitarre, Bass, Gesang) sehr stoischen Oldschool-Punkrock , der sich an The Stooges, The MC 5 und mit Abstrichen auch an Velvet Underground und die frühe Patti Smith Group anlehnt – Ironie ist bei den TV Buddhas allerdings nicht im Spiel, weshalb z. B. die Ramones als Vorbilder ausscheiden. Juval Haring sagt gern Dinge wie „Wir gegen den Rest der Welt. Das ist eine Haltung, die uns persönlich entgegenkommt, die aber auch zu unserer Musik passt“, oder dass ihm aktuelle Popmusik zu virtuos und verdaddelt ist. Solche Aussagen sind perfekte Ergänzungen zum rauen Siebzigerjahre-Garagen-Rock’n’Roll mit Blues-Erdung, der TV Buddhas. Diese Musik ist wie „Born To Be Wild“ von Steppenwolf für die Sechziger-Generation zum allgemeingültigen, nicht anzuzweifelnden Protest-Sound „authentischer“ Punks geworden: musikalische Innovation darf man nicht erwarten, wohl aber Erfolg und schluterklopfende Anerkennung. Denn ohne es nachgeprüft zu haben gehen wir davon aus, dass die TV Buddhas eine prima Liveband sind, dass es bei den Konzerten hart, aber herzlich zur Sache geht. Dass sich alle Beteiligten – Publikum und Band – wohlig und einvernehmlich als unbeugsame Outlaws fühlen dürfen, passend dazu ein anderes Juval-Zitat: „Rockmusik sollte ja eigentlich die Sphäre von Außenseitern sein.“ Dumm nur, dass sich so viele als Außenseiter gerieren, zum Beispiel Marius Müller-Westernhagen oder Bon Jovi … Anmerkung zwischendurch: Die TV Buddhas sind echt okay, die Musik rockt und macht Spaß. Die halbe Stunde „Dying At The Party“ reicht für ein, zwei Dosen Bier mit heftigem Haareschütteln. TV Buddha-Songs sind kurz und auf den Punkt, Juval Haring klingt manchmal sogar wie der jüngere Bruder von Lou Reed. Aber so viel unverhohlene Gestrigkeit war selten. Zum Beweis eine Textprobe aus „My Life On Screen“: „I just wanna live my life/ television be my wife/ I just wanna live my life on screen.“ Der Fernseher ist ohnehin ein Fetisch der TV Buddhas (gut, der Bandname sagt es ja schon), in „TV Tonight“ heißt es, „pass me the remote / before I waste you / I wanna watch some TV tonight! / don’t care about right or wrong…“ – wenn diese rührend altmodische Kritik am Fernsehen (Oh je, wie schlimm! Das Fernsehprogramm verdirbt die Gesellschaft!) die Haltung Wir gegen den Rest der Welt unterstreichen soll, sollten die TV Buddhas mal darüber nachdenken, ihren Namen an Häuserwände oder Eisenbahnwaggons zu sprühen. Das wäre ähnlich revolutionär.
TV Buddhas: Dying At The Party. Trost (Cargo).
www.myspace.com/tvbuddhas
Christina Mohr