Geschrieben am 2. März 2011 von für Musikmag

PJ Harvey: Let England Shake

Unsere Autorin Janine Andert hat sich durch eingängige Melodien mit knallharten Texten gehört und dabei eine ganz neue Seite der englischen Ausnahmekünstlerin PJ Harvey entdeckt. Als Bonbon überzeugte sie sich von Harveys Livequalitäten.

PJ Harvey: Let England ShakeGeschüttelt, ungerührt

„Englands dancing days are done“ heißt es gleich zu Beginn von PJ Harveys neuntem* Studioalbum „Let England Shake“. Ungewohnt geht es hier weder um Liebe, die Aufweichung weiblicher Rollenmuster oder menschliche Abgründe, sondern um ihr Heimatland England und dessen Kriegsgeschichte. Unverhofft eingängige Melodien übertönen nur oberflächlich den Abgesang auf das einstige Empire. Die englische Ausnahmekünstlerin erzählt von vergangenen Schlachten bis zum heutigen Afghanistankrieg. Wer hätte so viel politische Äußerungen von ihr, die sich in den 90ern nicht für die Emanzipationsbewegung einspannen lassen wollte, erwartet? Und in der Tat geht es PJ Harvey nicht um eine Kritik am englischen Staat, sondern um eine Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen Bürger und Regierung, die widerstreitenden Gefühle des Einzelnen, wenn er darüber nachdenkt, was sein Land eigentlich in seinem Namen hätte tun sollen – übertragbar auf jeden Bürger und jeden Staat. Im Interview sagt PJ Harvey, dass sie die Lieder bewusst mit einer Stimme singt, die dem Publikum den Zugang zu den Texten erleichtert. Wenn sie die schweren Inhalte mit einer rechthaberischen, schrillen Stimme gesungen hätte, würde ihr niemand zuhören. Wer wirklich etwas zu sagen hat und Resonanz erwartet, sollte einen Schritt auf die Menschen zugehen. Das ist nicht verwerflich, sondern trifft den Kern der Sache: Schönheit und Inhalt können sich ergänzen und zu etwas Vollkommenen werden. Den Beweis dafür tritt PJ Harvey mit einem weiteren Album für die Ewigkeit aus ihrer nunmehr 19-jährigen Karriere an.

Wo wir auch schon beim Punkt wären: Nie wird bei einer Neuveröffentlichung Geringes von ihr erwartet. Die Teaser zum aktuellen Langspieler „Let England Shake“ waren alleinstehend etwas enttäuschend. So im Vergleich zu ihr selbst waren „Written On The Forehead“ (mit Reggaeeinlage) und „The Last Living Rose“ gute, aber musikalisch doch eher belanglose Songs. Aber dann „Let England Shake“ in Gänze. Vom ersten bis zum letzen Ton der pure Wahnsinn, der tief unter die Haut geht. Und unglaublich, aber wahr, PJ Harvey hat es wieder einmal geschafft, sich neu zu erfinden, sich nicht zu wiederholen und doch unverwechselbar sie selbst zu bleiben.

Zusammen mit Mick Harvey, John Parish und teilweise Jean-Marc Butty spielte PJ Harvey von April bis Mai 2010 zwölf popaffine Songs in einer Kirche ihres Heimatdorfes Dorset ein. Ja, genau – Mick Harvey, der 1995 maßgeblich als Produzent und Musiker an „To Bring You My Love“ beteiligt und damals noch Stammmitglied von Nick Caves Bad Seeds war. Zu hören ist Mick Harveys Einfluss aktuell vor allem bei „On Battleship Hill“. Der aufmerksame Hörer fühlt sich hier stark an die Rhodes-Line von Caves „Fifteen Feet Of Pure White Snow“ erinnert. Weniger Aha-Effekt lösen dagegen Dauerkooperationspartner John Parish und der ebenfalls fast immer anwesende Studiomusiker Jean-Marc Butty aus, mit denen PJ ebenfalls seit genau diesem 95er-Meilenstein der Musikgeschichte zusammenarbeitet.

16 Jahre später nun der Reigen um die Wiederkehr des immer Gleichen – wie Nietzsche es formuliert hätte –, die Wiederkehr von Gewalt, Tod und Verderben im Namen von Staat und Vaterland, geprägt von immenser Vitalität und Feinfühligkeit. Gerade, wenn die Melodien wie in „Glorious Land“ durch eine disharmonische Morgenfanfare gestört werden, verlieren sich die Sing-along-Qualitäten zu einem packenden Hörerlebnis.

* Die Peel-Session und zwei Alben mit John Parish nicht mitgezählt, dafür aber die „4-Track Demos“.

PJ Harvey: Let England Shake. Island (Universal). Plattencover von PJ Harvey selbst gezeichnet.  Die Homepage von PJ Harvey. Die Künstlerin auf Myspace und bei Facebook.

Man kann diese Frau nur anbeten – PJ Harvey live am 21.02.2011 im Berliner Admiralspalast

Beeindruckend war dann auch ihr Auftritt am 21.02.2011 im Berliner Admiralspalast. Mick Harvey (liebevoll von jemandem aus dem Publikum als „Grey Fox“ bezeichnet), John Parish sowie Jean-Marc Butty betraten gegen 20.30 Uhr die Bühne. Nicht wenige Gäste aus den Rängen entschieden sich noch vor Beginn des Konzerts, ihre teuren Plätze gegen die Stehplätze vor der Bühne zu tauschen. Alles machbar, weil der Veranstalter den Admiralspalast nicht bis unter das Dach ausverkauft hatte. Begrüßenswert.

Nachdem die (Entschuldigung!) alten Herren ihre Plätze eingenommen hatten, betrat Polly Jean die Bühne – ganz in Schwarz und mit riesigem Federschmuck auf dem Kopf. Da war wieder dieses ganz Besondere, das man gerade bei ihren ersten Alben nicht live erwartet. Sie strahlt die Ruhe einer anderen Welt aus, so viel Wärme und trotzdem unverschämt viel Energie; Schüchternheit mit absoluter Präsenz. Die Frau ist einfach ein Unikum, das jeden Anwesenden sofort in ihren Bann zieht. Leider stellte sich PJ Harvey direkt links vorne an die Bühne, was zu einigen Beschwerden seitens Gästen rechts vor der Bühne führte.

Mit Audioharp, die schon vom 2007er-Album „White Chalk“ bekannt ist, unterm Arm ging es dann mit „Let England Shake“ los. Spätestens nach 30 Sekunden stand fest: Harmonie pur zwischen den Musikern. Alle achteten aufeinander und strahlten sich an. Ein herrliches Bild wie die Herren leidenschaftlich ihre Instrumente spielten und anhimmelnd zu PJ guckten, um auf weitere Instruktionen zu warten. Die Göttin lächelte erhaben zurück. Als zweiten Song spielte das Quartett „The Words That Maketh Murder“. Mick Harvey verpasste seinen Einsatz – zu seiner eigenen Erheiterung, der des Publikums und der anderen Musiker auf der Bühne inklusive PJ Harvey. Nichtsdestotrotz war der Song an dieser Stelle hervorragend gewählt, zeigte er doch dank dem Gesang von Mick Harvey und John Parish, dass das neue Album eine Gemeinschaftsarbeit aller Anwesenden ist. Die Herren sind eben nicht nur einfach Begleitband.

Das Publikum, d. h. die paar anwesenden Engländer (das deutsche Publikum war doch eher dröge) ging ab „The Sky Lit Up“ so richtig ab. Diese vier Engländer in den ersten Reihen machten dann dem Motto des Abends alle Ehre: „Let England Shake“. Ärgerlich war hingegen die alte schwäbische Emanzenschabracke in der vierten Reihe (nichts gegen Schwaben oder Emanzen, aber permanentes Gemeckere in Berlin! auf Schwäbisch! ist schon die Kategorie „Realsatire“). Die fand ab der 96er-Kooperation mit John Parish, „Dancehall At The Louse Point“, offenbar alles scheiße. Darf sie, muss sich darüber aber nicht laut aufregen. Schlimmster Kommentar: „John Parish hat so einen schlechten Einfluss auf sie (PJ Harvey).“ Da möchte man einfach mal so richtig in die Fresse hauen. Sie wurde dann von PJ selbst gestraft. Die euphorisierten Engländer schrieen: „’C’mon Billy’!“ Die Schwabennörgelfront: „Schön wär’s.“ Frau Harvey setzte in diesem Moment zu eben diesem Song an. Der Autorin dieses Artikels war es eine diebische Freude, den Gesichtsausdruck der Schwäbin zu verfolgen.

Beeindruckend war, wie spielend leicht PJ Harvey zwischen Songs von „To Bring You My Love“, „Is This Desire“, „Stories From The City, Stories From The Sea”, “White Chalk” und “Let England Shake” hin und her sprang. Mit geschlossenen Augen wäre das eine oder andere Mal nicht sofort aufgefallen, ob sie gerade Harfe oder Gitarre spielt. Das führte ob ihres Outfits zu durchaus obskuren Momenten. Das an der Mode des 19. Jahrhunderts angelehnte, lange schwarze Kleid und der schwarze Federschmuck auf dem Kopf wirkten etwas befremdlich, wenn sie E-Gitarre spielte und dazu „Meet Ze Monsta“ donnerte. Aber irgendwie war diese Antithese auch herzergreifend, zumal PJ Harvey sichtlich Spaß hatte.

Jean-Marc Butty oblag das Schlagzeug, Percussions und bei einem Stück die Trommel am Bühnenrand. Mick Harvey und John Parish wechselten sich fleißig ab mit den Gitarren, Rhodes (elekromechanisches Musikinstrument, das ursprünglich als transportabler Klavierersatz diente) und Keyboard ab. Und ganz ehrlich, da war wieder das Lächeln des gemeinsamen Miteinandermusizierens auf Mick Harveys Gesicht, das beim letzten Nick Cave and the Bad Seeds-Konzert so schmerzlich fehlte. John Parish war ein glückseliges Dauergrinsen ins Gesicht gemalt.

Nach guten eineinhalb Stunden inklusive Zugabe verließen die vier die Bühne. Es war genau die richtige Länge, obwohl das Publikum gerne mehr gehört hätte. Es trampelte und klatschte noch weitere 15 Minuten Standing Ovations, doch die Künstler ließen sich nicht mehr auf die Bühne bewegen, was doch etwas schade war. Aber bei so einer anstrengenden Welttournee sieht man es ihnen irgendwie nach.

Bei Betrachtung der Setlist wurden nur Lieder seit Beginn der Zusammenarbeit mit Mick Harvey, John Parish und Jean-Marc Butty gespielt. Und genau das war dieses Konzert – eine Zelebration dieser musikalischen Freundschaft.

Janine Andert

Setlist:

01. Let England Shake
02. The Words That Maketh Murder
03. All And Everyone
04. The Big Guns Called Me Back Again
05. Written On The Forehead
06. In The Dark Places
07. The Devil
08. The River
09. The Sky Lit Up
10. The Glorious Land
11. The Last Living Rose
12. England
13. Bitter Branches
14. Down By The Water
15. C’mon Billy
16. Hanging In The Wire
17. On Battleship Hill
18. Big Exit
19. The Colour Of The Earth
20. Meet Ze Monsta
21. Angelene
22. Silence

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