Jahrtausendjammer
Rund um den Globus wurde geböllert und gejubelt. Die Menschen prosteten sich das neue Jahrtausend schön und erhofften sich eine bessere Zukunft. Die stellte sich aber genauso wenig ein wie eine musikalische Revolution. „Es war kein Jahr, in dem etwas wirklich Neues begann“, lautet denn auch das negative Fazit der SZ-DJs.
„Scham“ überkommt SZ-Redakteur Tobias Kniebe, wenn er auf das Jahr 2000 zurückblickt. Wieso eigentlich? Ist er etwa höchstpersönlich für die erfolgreichen, aber peinlichen Eintagsfliegen Rednex oder Bomfunk MC verantwortlich? Oder für die Mainstream-Garanten John Bon Jovi und Britney Spears. Der RTL-Fernsehknast Big Brother geht ebenso wenig auf sein Konto wie der im Mai dieses Jahres auffliegende New Economy-Schwindel. Da bürdet sich Zeitgenosse Kniebe etwas zu viel Anteilnahme auf.
Lichtblicke
Zum Glück weiß der SZ-Essayist aber trotzdem die wenigen musikalischen Höhepunkte des Jahres auszumachen. Eminem, Madonna und The Neptunes rechnet er zu den Lichtblicken. Auch die exzentrischen Hip-Hopper von Outkast und die verträumten Coldplay-Kompositionen können ihn begeistern. Und für die unterschätzte Formation Phoenix und die French-House-Expertin Etienne de Crécy findet er auch noch ein paar nette Etiketten. Ob einige dieser Künstler sein Lob wert sind, lässt sich auf der beiliegenden CD leicht prüfen.
So läutet denn Phoenix das Popjahr 2000 prompt mit „der nettesten Musik der Welt“ ein. „If I Feel Better“ wird von Leadsänger Thomas Mars mit fließendem französischen Akzent intoniert und von einem diskreten Elektronik-Beat vorangetrieben. Rhythmisch sprunghafter und mit näselnden Synthie-Sounds versetzt, ertönt dann „Try Again“ von der viel zu früh verstorbenen „R&B Lolita“ Aaliyah. Es mag verwundern, aber die lateinamerikanische Bearbeitung des Kraftwerk-Hits „Die Roboter“ von Señor Coconut y su Conjunto schließt sich kongenial an den Hit der Amerikanerin an.
Deutsche Songs sind aber nicht nur als Cover-Versionen vertreten. Mit Das Bo („Türlich, Türlich“), 2raumwohnung („Wir Trafen Uns In Einem Garten“) und Tocotronic („Freiburg V 3.0“) sind diesmal Formationen vertreten, die kreatives deutsches Pop-Schaffen repräsentieren. Vor allem Torch alias Frederik Hahn offeriert dem Hörer mit seiner verrapten Geräusch- und Zitatcollage „Blauer Samt“ ein experimentelles Kleinod. Laszive Streicher umschwirren die dahingehauchten und nicht ganz jugendfreien Liedzeilen.
Hart und Harmonisch
In der Sparte Hardrock bringen die fünf Schweden von The Hives ihre rauen Stimmbänder und Gitarrensaiten in Schwingung und das Blut eines jeden Punkrockers in Wallung. Provo-kativer gibt sich nur noch die Kanadierin Merrill Nisker („Peaches“) mit „****** The Pain Away“. Selten wurde für die sexuelle Befreiung beider Geschlechter so schamlos gerockt. Aber diese Songs bilden die Ausnahme auf einer ansonsten eher melodischen und glänzend aufeinander abgestimmten Kompilation. Ätherisch-entspannte Klänge von der jazzbeseelten Band Thievery Corporation („Mirror Conspiracy“) oder der liebliche Soul-Pop von der Girl-Group All Saints („Pure Shores“) sind meilenweit entfernt vom pöbelhaften Rebellentum.
Auch die alternativen Folkmusiker von Kings of Convenience („Winning A Battle“, „Losing The War“) und Eels („Packing Blankets“) hauen nicht mit aller Macht auf die Pauke, sondern bestechen durch ihren unprätentiösen Gitarrensound. Die Grandaddys hingegen setzen mit „The Crystal Lake“ ausgefallenere Akzente. Sie spielen Indie-Pop vom Feinsten, der Sound von Mercury Rev lässt grüßen.
Outlaws
Selbst Outkast zeigen sich mit „Ms. Jackson“ von ihrer versöhnlichen Seite. Und das ganze bi-zarre Gehabe? Nur Show, wenn man Dre, dem musikalischen Kopf des Duos, Glauben schenken darf. „Wenn ich … einen gelben Anzug trage oder eine Perücke, dann mache ich mich über diesen Scheiß lustig“, bekennt er im „Fundstück“ des Jahres. Aber der „Super-Actionheld“, für den er sich hält, ist sowieso schon jenseits von Gut und Böse. Auf dem Weg dorthin befindet sich nur noch der angriffslustige Rapper Eminem, der auch in diesem Jahr wieder für allerlei Skandale gut war und auf dieser Sammlung – nicht wirklich – fehlt.
Die SZ-Scheibe für das Popjahr 2000 ist ein Volltreffer. Rundum abwechslungsreich und ab-solut kurzweilig.
Jörg von Bilavsky
SZ Diskothek 2000. Süddeutsche Zeitung. Juni 2005. Gebundene Ausgabe mit CD. 80 Seiten. 9,90 Euro. ISBN: 3866150539