Authentische Hybride
Irische, norwegische, jiddische, griechische, deutsche, polnische, serbo-kroatische, portugiesische, finnische, ukrainische etc. etc. Titel, und allesamt so populär, dass sich darauf eine jeweils eigene Plattenindustrie aufbauen und eine Zeit lang halten konnte.
Hinter Musik-Anthologien, die der unwahrscheinliche Musikarchäologe, -ethnologe, -ausgräber, -sammler und -jäger Christoph Wagner (und was er sonst noch alles ist!) veranstaltet, bin ich her wie der Teufel hinter der armen Seele. Kann man sich doch fast blind darauf verlassen, dass sie unterhaltsam sind (sowieso), überraschend, ein wenig bizarr und eminent lehrreich.
Diesmal hat er in einem Schallplattenladen in Rockford, lllinois, mit dem schönen Namen „Toad Hall“ eine Halde alter Schellack-Platten entdeckt – ethnic music aller Arten von Emigranten, in allen möglichen Sprachen und allen möglichen musikalischen Stilen. Also alles das, was man zu Recht als „Ablagerungen und Tiefenschichten der amerikanischen Musikgeschichte“ bezeichnen kann. 26 Beispiele dürfen wir auf dieser schön aufgemachten und vorbildlich kommentierten CD hören. Irische, norwegische, jiddische, griechische, deutsche, polnische, serbo-kroatische, portugiesische, finnische, ukrainische etc. etc. Titel, also alle (bis auf 3 Titel, die aus Puerto Rico, Mexico und den USA selbst stammen, aber Emigration als Thema haben) aus der europäischen Emigrationssphäre und allesamt so populär, dass sich darauf eine jeweils eigene Plattenindustrie aufbauen und eine Zeit lang halten konnte.
„Famous shnitzelbank song“
Es liegt nahe, diese irre Sammlung – manche Songs sind irre, manche auch irre schlecht oder irre kitschig – von heute aus zu hören und zu schauen, wohin überall das Material im grossen melting pot der populären Musikformen der USA (Jazz, Blues, Rock, Folk, Salsa) gewandert ist, wie es sich amalgamiert, hybridisiert, gekreuzt und vermengt hat. Das ist schon spannend und vergnüglich genug. Fast noch spannender ist aber, das Material sozusagen „zeitgenössisch“ zu hören. Schließlich handelt es sich um Schallplatten, die ungefähr zwischen 1925 und 1950 eingespielt worden sind. Also nicht wirklich „early songs“ dokumentieren, die etwa sozusagen noch im autochthonen Urzustand verharren (wenn eine so puristische Vorstellung von Musik überhaupt sinnvoll wäre). Das musikalische Material kam mit den einzelnen ethnischen Gruppen auf den Kontinent, dort aber sofort mit dem der Nachbar-Ethnie(n) in Berührung und veränderte sich – manchmal bis zur Unkenntlichkeit und auch ohne genaues Wissen der Menschen, die die neuen Hybride gerne für „authentisch“ hielten. Ich erinnere mich an ein Erlebnis in Chicago, wo basses Erstaunen herrschte, dass ich als Deutscher den „famous shnitzelbank song“ nicht kannte – ich habe bis heute nicht herausgefunden, was denn nun gemeint war; aber berühmt war er schon, in Chicago.
Besonders schön kann man diese Integrationsfähigkeit traditioneller Formen für neue Einflüsse hier zum Beispiel bei der Polka „Dziewczyna Z Chicago“ von Gene Wisniewski I Jego Harmony Bells Inc (eingespielt ca. 1950) hören – eine lupenreine polnische Polka, allerdings arrangiert, swingend und mit Bläsersätzen, die deutlich dem Swing der 30er Jahre angehören.
Ähnlich völlig professionell jazz-mässig gesetzt und vorgetragen der „Galitziana Ball“ von Larry Alpert and The Eriv Yentiff Players (1953 aufgenommen). Gesungen wird der Text in einer zungenbrecherischen Mischung aus Jiddisch und Englisch, die für Sprachfexe ein wollüstiges Erlebnis sui generis ist, gespielt in einer dito atemberaubenden, wenn auch nicht ganz notensicheren Mischung aus Trad-Jazz-Trompete, Swing-Holzbläsern und einer Klezmer-Klarinette, die auch von Benny Goodman geblasen sein könnte (naja, einem Benny Goodman mit viel Wodka im Leib). Und wenn man dann plötzlich stutzt, weil einem der Song bekannt vorkommt, aber nicht aus Galizien, dann hört man plötzlich „The Dark Town Strutters Ball“, den berühmten von Musikern aller Provenienz gern gespielten Song aus dem all american folk book, was dem zeitgenössischen Publikum natürlich nicht entgangen ist. Auch hier ist vermeintliche Authentizität oder kulturelle Identität nur noch glückliche Fiktion, auf keinen Fall Verlust.
Ja, so spannend können kluge Sampler sein!
Thomas Wörtche
Stranded in the USA. Early Songs of Emigration. Trikont, US-0326.