Revolutionär
Wenn ein britisches Label einer aus Deutschland stammenden Musikrichtung gleich drei Doppelalben-Compilations widmet, muss es sich um eine wirklich außergewöhnliche Gattung handeln: Soul Jazz Records aus London haben gerade den dritten Sampler der Reihe „Deutsche Elektronische Musik“ veröffentlicht, was erst einmal erstaunlich wirkt. Hält man sich allerdings die gerade in Großbritannien ungebrochene Begeisterung für Kraut- und Elektronik-Bands wie Kraftwerk, Tangerine Dream, Can oder Neu! vor Augen, erklärt sich Soul Jazz’ intensives Engagement. Bis heute beeinflussen die Genannten und andere Krautrockbands britischen Elektropop, ob ältere Bands wie Soft Cell, Heaven 17 und Depeche Mode oder aktuellere Acts wie Hurts: alle berufen sich auf Synthie-Pioniere aus deutschen Landen.
In den frühen 1960ern war deutschsprachiger Pop und Rock meist noch ein hundertprozentiges Abbild britischer und amerikanischer Vorbilder, der Einfluss von Elvis Presley, den Beatles, Rolling Stones sollte keineswegs kaschiert, sondern im Gegenteil hervorgehoben werden – Musiker in dieser ja noch als Nachkriegsära zu bezeichnenden Zeit wollten nicht nach deutscher Gemütlich- und Spießigkeit klingen, sondern nach lederbejackter Bubblegum-Coolness angloamerikanischer Provenienz. Also wurde nachgesungen und nachgerockt, Peter Kraus und Ted Herold gaben die „deutschen Elvisse“, The Rattles eiferten den Kinks und anderen Beatbands nach. Aber es gab auch andere Tendenzen: Junge experimentelle Musiker suchten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre nach dezidiert anderen Wegen, wollten sich nicht dem amerikanischen 4/4-Takt-Diktat beugen. In Düsseldorf, Köln, München, Berlin entstanden – oft aus Hippiekommunen heraus – wegweisende neue Bands wie Ash Ra Tempel, Popol Vuh, Agitation Free, die mit Rock’n’Roll üblicher Spielart nichts am Hut hatten, mit elektronischen Instrumenten und Musiken aus aller Welt experimentierten. Die Soul-Jazz-Compilations demonstrieren regelrecht wissenschaftlich, dass sich Hippietum und Avantgarde nicht ausschlossen, im Gegenteil zu den erstaunlichsten musikalischen Ergebnissen führten – vom entfesselten kosmischen Acid-Jam bis zu kontrolliertestem Pre-Techno.
Die ersten beiden (bereits vergriffenen) Ausgaben von „Deutsche Elektronische Musik“ versammelten bekannte Namen wie Roedelius, Cluster, Faust, Harmonia, DAF und natürlich Can – aber auch weniger populäre Vertreter*innen wie Ibliss, Michael Bundt, Gila oder Electric Sandwich. Und tatsächlich gibt es so viel spannende Veröffentlichungen aus den siebziger Jahren bis in die 1980er (also NDW-Vorläufer, wenn man so will), dass sich mühelos eine dritte Compilation füllen ließ, die jedoch wohl die letzte sein wird, so ließe sich jedenfalls der Sticker mit den Worten „That’s All Folks“ auf dem Cover interpretieren.
Interessant ist vor allem, wie stark sich deutsche Musiker*innen von afrikanischen, asiatischen, orientalischen Klängen inspirieren ließen – also den angloamerikanischen Input durch ethnologisch entferntere Kulturen ersetzten, könnte man böswillig behaupten. Doch dieser Vorwurf griffe zu kurz, die Suche der Hippies nach Bewusstseinserweiterung stand im Vordergrund, was nicht nur Drogen, sondern natürlich auch kulturelle Einflüsse beinhaltete. Bands wie Missus Beastly, Dzyan und Niagara vermischen „Fremdes“ mit ihrer jazzigen Basis; während Popol Vuh oder Bröselmaschine (mit Deutschlands berühmtesten Gitarrenlehrer Peter Bursch!) furchtlos poetische deutsche Texte wie „Ja, Deine Liebe ist süßer als Wein“ oder „Schmetterling“ zu ihrer progressiven Impro-Musik sangen. Eine echte Überraschung ist die Band A.R. & Machines mit ihrem Chef Achim Reichel – der sich mit seinen damals heftig unverstandenen psychedelischen cosmic vibrations („I’ll be Your Singer, You’ll be My Song“) vom zwar knackigen, aber simplen Rattles-Rock-Sound distanzieren wollte. Wer sich vertiefen möchte: Zeitgleich zur Soul-Jazz-Compilation wurde das Frühsiebziger-Gesamtwerk von A.R. & Machines wiederveröffentlicht, überdies tritt Reichel mit seinen Machines z.B. in der Elbphilharmonie auf, keine fünfzig Jahre nach ihrem ersten Album „Die grüne Reise“.
Die Soul-Jazz-Compilatoren beschränken sich aber nicht auf krautige Freaks, es geht ja in erster Linie um elektronische Musik: Elektronikforscher wie La Düsseldorf und Pyrolator (alias Kurt Dahlke/Der Plan, Fehlfarben) gehen als Wegbereiter deutschen Elektropops mit Postpunk-Einflüssen durch – haben also mit den langhaarigen Kommunarden wie Amon Düül oder Ash Ra Tempel wenig gemein außer ihrer Experimentierfreudigkeit und dem dringenden Wunsch, etwas Neues, Einzigartiges zu schaffen.
Über manches Stück auf den Compilations mag man heute milde lächeln, weil es harmlos, versponnen oder schlicht abgedreht klingt. Aber bedenket: 1971 führte Tony Marschalls „Schöne Maid“ die deutschen Charts an. Angesichts dessen wirkt „Dronsz“ von Novalis umso revolutionärer.
Christina Mohr
Experimental German Rock and Electronic Music 1971 – 81 (Soul Jazz Records)
www.souljazzrecords.co.uk
Video
Pyrolator: Die Haut der Frau
Achim Reichel & The Machines live in der Elbphilharmonie 2017: