Geschrieben am 28. August 2013 von für Musikmag

Wie langsam ist „As Slow As Possible?“

Bild: TM

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„Everyone is in the best seat“

Wie langsam ist „As Slow As Possible?“: Beim John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt in Halberstadt. Von Tina Manske.

John Cage, Komponist und Philosoph (siehe das Zitat aus der Überschrift), war einer der großen Künstler der sogenannten Neuen Musik. Zentrum seiner musikalischen Philosophie ist die Überzeugung, dass alle Töne und Geräusche unbedingt gleichwertig sind, eine Sonate von Bach ebenso wie der Krach der 5th Avenue während der Rush Hour (damit einem Diktum Immanuel Kants folgend, der statuierte, dass Töne keine Bedeutung haben müssten, um Freude zu bereiten). Besonderes Augenmerk lenkt Cage auf die Töne, die man nicht hört, auf die Pausen. Berühmt geworden ist er u. a. durch sein silent piece „4′ 33““, in dem das Orchester vier Minuten und 33 Sekunden lang exakt gar keinen Ton spielt (das aber in drei Sätzen).

Für diejenigen Leser, die noch nie etwas vom John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt gehört haben: seinen Ursprung hat es auf einem Orgelsymposion im Jahr 1997, als Organisten, Musikwissenschaftler, Orgelbauer, Theologen und Philosophen zu dem Schluss kommen, das Stück „As Slow As Possible“ – komponiert von John Cage in den 80er-Jahren fürs Klavier und versehen mit ebenjener Tempovorgabe – sei theoretisch unendlich lange spielbar, oder zumindest so lange, wie es die Lebensdauer einer Orgel und das friedliche Zusammenleben und künstlerische Verständnis zukünftiger Generationen erlauben. Realisiert wird das Ganze dann im Jahr 2000 in der Burchardi-Kirche in Halberstadt, angelegt auf eine Spielzeit von 639 Jahren. In Halberstadt, da im dortigen Dom 1361 die erste Orgel von Nicolaus Faber fertiggestellt wurde. Und 639 Jahre lang, da es 639 Jahre sind von 1361 bis 2000.

Bild: TM

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Im August 2013 mache also auch ich mich endlich auf den Weg nach Halberstadt, das „Tor zum Harz“ (übrigens auch ohne Cage-Projekt eine ganz wunderhübsche Stadt). Ich bedanke mich im Stillen bei einer Kollegin, die im Vorfeld so desillusioniert von ihrem Besuch in der Burchardi-Kirche erzählt hatte, dass ich selbst meine Erwartungen etwas herunterschraubte. So bin ich also weitestgehend entspannt, als ich an die unscheinbare Kirche herantrete. Schon vom Vorplatz aus kann man die Orgel hören, ein schwacher Ton, der sich kaum gegen die jubilierenden Vögel in den Bäumen durchsetzen kann.

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Seit dem 5. Juli 2007 ist der Zusammenklang der tiefen Basstöne c‘ und des‘ zu hören, die den Besucher beim Betreten der Kirche sofort umfangen. Hinter einem Merchandise-Stand, in dem Bereich, den ich das Hauptschiff nennen würde (ohne zu wissen, ob das architektonisch korrekt ist), befinden sich links riesige Blasebalge und rechts die eigentliche Orgel. Davor positioniere ich mich zuerst und lasse den Moment, der mir tatsächlich Gänsehaut verursacht, auf mich wirken. Die Funktionsweise der Orgel wirkt simpel: Kleine Sandsäckchen drücken die Tasten, bei den Tonwechseln werden Pfeifen weggenommen und/oder hinzugefügt. Interessant ist es nachzuhören, wie die Wellenbewegung des Tones sich ändert, je nachdem, ob man hinter einer Säule steht oder in welchem Winkel man seinen Kopf in Richtung Orgel hält. Kaum sind wir eingetreten, fängt im Hof der Kirche jemand zu schleifen an, ein Alltagsgeräusch, das den Orgelton deutlich ergänzt. Das hätte John Cage sicherlich gefallen.

Für 1.000 Euro kann man sich ein Klangjahr reservieren und seinen Namen mit einem frei wählbaren Spruch auf einer Tafel verewigen lassen. Natürlich ist die Lektüre der bisher gekauften Tafeln ein Teil des Kunstprojekts, es ist eine meditative Übung, sie beim Spaziergang durch die Kirche durchzulesen; viele der Sprüche nehmen Bezug auf Cage und seine Philosophie, beschäftigen sich aber auch mit Danksagungen an Mitmenschen und mit der Bitte um Weltfrieden.

Besonders faszinierend sind die elektrisch betriebenen Blasebälge. Sie heben und senken sich so langsam, dass nur eine exakte Fixierung eines bestimmten Punktes im Hintergrund und seeehr viel Geduld zu einer sichtbaren Veränderung führen (und selbst die bildet man sich wahrscheinlich ein). In den Zwischenräumen haben sich einige Spinnen ihre Netze gebaut, ein ziemlich sicherer Ort.

Vom diensthabenden Aufsichtspersonal lasse ich mir anhand einer Kopie der Originalpartitur (die man hier natürlich auch kaufen kann, also die Kopie) zeigen, an welcher Stelle des Stückes wir uns gerade befinden. Danach haben wir nach immerhin schon fast 13 Jahren noch nicht einmal das Ende der ersten Notenlinie erreicht.

Mir fällt auf, dass sich im Inneren der Kirche interessante Gespräche entwickeln (Beispiele hier aus dem Gedächtnis wiedergegeben):

Aufseher: 2071 gibt es dann erstmal eine längere Stille.
Besucher 1: Da hat dann wohl für so manchen von uns schon die lange Stille begonnen.

Besucher 2: Und sie stehen also jeden Tag hier?
Aufseher: Naja, in ein paar Jahrzehnten plane ich etwas kürzer zu treten, dann vielleicht nur noch halbtags.

Wer den 13. Klangwechsel miterleben möchte (bevor es dann erst wieder im Jahr 2020 einen gibt), sollte am 5. Oktober 2013 in die Burchardikirche pilgern. Ab dann ertönen zusätzlich zu den im Moment hörbaren Basstönen c‘ und des‘ das dis‘, ais‘ und e“ zusammen zu einem Fünfklang. Das e“ ist dabei sogar die erste Pfeife, die nach 2009/2010 zum zweiten Mal erklingt (hui hui, don’t rush it!). Dieser Fünfton wird dann erst am 5.9.2020 durch einen erneuten Klangwechsel abgelöst.

Es wird kaum jemanden verwundern, wenn ich sage, dass ich dieses Projekt liebe. Es bringt alles zusammen, was einem wichtig sein kann: Musik, Menschen, die Reflexion von Zeit, eine künstlerische Vision, generationenübergreifende Kommunikation, Transzendenz, die Hoffnung, an etwas teilzunehmen, das die Grenzen des eigenen kleinen Lebens übersteigt. Apropos Hoffnung: Ich hoffe, in meiner Zeit (wie relativ sie doch ist) noch viele Male in die Burchardikirche zurückkehren zu können. Am Merchandise-Stand erstehe ich eine 60-minütige CD mit der Aufnahme des aktuellen Klangs – „für die Hardcore-Fans“, wie mir der Aufseher nachruft. Na gut, dann bin ich wohl einer.

Tina Manske

Zur Webseite des Kunstprojekts. Aufführungsort: Burchardikirche, Am Kloster 1, 38820 Halberstadt. Öffnungszeiten: April – Oktober, Dienstag bis Sonntag, 11:00 bis 17:00 Uhr. November – März, Dienstag bis Sonntag, 12:00 bis 16:00 Uhr. Mehr hier.

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