Geschrieben am 25. Januar 2012 von für Bücher, Litmag

A. F. Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiemroman

Untröstliche Trauer um den verlorenen Sohn

– Mit einer autobiografischen Notiz beginnt man eigentlich nicht die Rezension eines Buches. Aber der Roman „Tonio“ des niederländischen Schriftstellers A. F. Th. van der Heijden ist ja auch kein „gewöhnlicher“ Roman, den man liest wie eine der üblichen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt. Von Carl Wilhelm Macke

Genau ein Jahr nach dem Unfalltod von Tonio van der Heijden starb auch meine Nichte unter ähnlichen Umständen. Wie Tonio war auch sie Opfer eines schrecklichen Fahrradunfalls. Sie stieß allerdings nicht wie er mit einem Auto zusammen, sondern mit einem anderen Fahrradfahrer. Sie war etwas älter als Tonio und im Gegensatz zu ihm hinterließ sie auch schon zwei kleine Kinder. Aber diese Unterscheidung im Detail ist letztlich auch unbedeutend. Ändert sie doch nichts an der Wucht, mit der die Angehörigen der beiden jungen Unfalltoten von diesem dramatischen Ereignis getroffen wurden. Von einem Augenblick auf den anderen werden das Leben einer jungen Mutter und das Leben des einzigen Sohnes ausgelöscht. Man hat keine Zeit, sich auf diesen Tod „aus heiterem Himmel“ vorzubereiten, wie es etwa bei schwer erkrankten jungen Menschen der Fall sein kann. Ein einziger Zusammenstoß, ein ohrenbetäubendes Krachen, ein vielleicht lauter Schrei. Aus! „Never more, never more …“
Bei den Angehörigen und Freunden beginnt dann sofort ein langer, unbeschreiblicher Prozess des Trauerns um einen ihnen sehr nahestehenden Menschen und des Abschiednehmens von Hoffnungen, die man vielleicht auch selbst noch mit dem Verstorbenen verbunden hat. Unbeschreiblich?

Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden hat gleich nach der Schreckensnachricht von dem fürchterlichen Unfall seines Sohnes am Pfingstsonntag des Jahres 2010 mit dem Festhalten des Unbeschreiblichen angefangen. Und da dieser „Requiemroman“ im niederländischen Original bereits Anfang 2011 erschienen ist, muss er ihn innerhalb kurzer Zeit, einem Vulkanausbruch gleich, niedergeschrieben haben. Auf fast 700 Seiten hat er nach Worten für seine „unbeschreibliche Trauer“ gesucht. Tonio war das einzige Kind von Mirjam Rotenstreich und Arri van der Heijden. Er war schon zu Lebzeiten die zentrale Figur in ihrer Beziehung. Und nach seinem Tod ist er es erst recht geworden. „In Zukunft wird es immer ein ‚Davor’ und ein ‚Danach’ geben“, schrieb jemand. „Mit dem Verstreichen der Monate wird mir mit jedem Tag von neuem bewusst, wie wahr diese Worte sind. Eine tiefe Narbe zieht sich mitten durch mein Leben. ‚Davor’ war mein Dasein wertvoll, ‚danach’ ist es wertlos geworden – einfacher lässt es sich nicht formulieren.“

Erinnerung in Worte übersetzt

Alles, was der Vater (und Schriftsteller) aus den gut zweiundzwanzig Jahren des Zusammenlebens mit seinem verstorbenen Sohn in Erinnerung hat, wird wieder ins Bewusstsein gehoben, in Worte übertragen. Hier hat ein vom Schmerz über den Tod des Sohnes tief getroffener Vater geglaubt, er könnte den Verlust eines ihm unersetzbaren Menschen nur durch das Schreiben vielleicht erträglicher, trostreicher machen. Angefangen von den Stunden, in denen Tonio gezeugt wurde, über seine Kindheitsjahre im Rahmen der kleinen Familie des Autors (zu der auch eine als unangenehm herrisch geschilderte Schwiegermutter gehört), über die Pubertät und über die große Leidenschaft zur Fotografie bis hin zur akribisch genauen, immer wieder von Neuem ansetzenden Rekonstruktion der Umstände des Unfalltods schildert van der Heijden wirklich alles, um zu beschreiben, was als unbeschreiblich gilt. „Jeden Tag aufs Neue fassungslos in die Leere starren. Ein solch unwiderruflicher Verlust macht begriffsstutzig. Jedes Mal wieder die Ungläubigkeit. Ist es denn ‚wirklich’ wahr, ist er nicht mehr da, nie mehr?“
Nein, Tonio – wie auch meine Nichte – werden nie mehr da sein und als Angehöriger wird man diesen Schmerz des Verlustes eines sehr nahen Menschen sein eigenes Leben lang nicht überwinden. Den Trost in einem Glauben zu finden, der vielleicht ein einstiges Wiedersehen mit dem geliebten Sohn verspricht, gibt es für van der Heijden und seine Frau nicht. Religion spielt in diesem Buch überhaupt keine Rolle. Sie wird vielleicht einmal in belanglosen Nebensätzen angedeutet.

Sensibler Versuch der Annährung

Arri van der Heijden vermittelt mit seinem großen Romanmonument für Tonio weder für Ungläubige noch für Gläubige einen Trost. Wenn man ihn sucht, sollte man sich vielleicht auf dem psychologischen Ratgebermarkt umschauen. Aber es ist ihm der Versuch gelungen, sich der Unbeschreiblichkeit von Trauer um einen lieben, für sein Leben zentralen Menschen anzunähern. Hat man das Buch zu Ende gelesen – zu Ende lesen können –, dann bleibt nur die Frage, wem man die Lektüre empfehlen kann. Wer wie der Autor ein Kind früh verloren hat, wird dieses Buch wohl kaum lesen können, weil es dem eigenen Schicksal einfach zu nahe ist. Und für einen „Ratgeber in Trauerfällen“ ist es zu literarisch geschrieben. Möglich, dass sich „Trauervoyeure“ neugierig in die Lektüre des Buches hineinsaugen. Sie sollen, so hört man, sich ja auch gerne in Trauergesellschaften hineinschmuggeln.

Wer „Tonio“ weder als sentimentaler Voyeur noch als direkt vom gleichen Schicksal Betroffener gelesen hat, wird vielleicht erahnen können, was es heißt, sein einziges Kind durch einen frühen gewaltsamen Tod zu verlieren. Nicht vergessen darf man auch, wie gut und sensibel Helga van Beuningen diesen Versuch, das „Unbeschreibliche“ in Worte zu fassen, ihrerseits in die deutsche Sprache übersetzt hat.

Carl Wilhelm Macke

A. F. Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiemroman (Tonio. Een Requiemroman, 2011). Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Berlin: Suhrkamp Verlag 2011. 671 Seiten. 26,90 Euro. Zur Leseprobe.

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