Eine Nacht der Gewalt
Aufwühlende Erinnerungen einer Frau, die um das Schweigen und die Kälte zwischen drei Frauen kreisen: Mutter, Tochter und Schwester. Von Carl Wilhelm Macke
Eine arme Familie, Vater, Mutter und zwei Töchter aus dem süditalienischen Kalabrien, wandert aus in den Norden des Landes auf der Suche nach Arbeit. In den Jahren während und am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in Italien sicherlich viele solcher Familien, die der Misere anhaltender Armut entkommen wollten und dafür große Mühen, Strapazen und Entbehrungen auf sich genommen haben. Inzwischen liegt eine große Reihe literarischer Zeugnisse dieser Armutsemigration vom Süden in den Norden Europas vor. Auch die Erzählung von Ada Zapperi Zucker scheint auf den ersten Blick nicht von diesem gängigen Erzählthema abzuweichen. Wohlgemerkt, auf den ersten Blick, denn schon der Titel evoziert beim Leser etwas Geheimnisvolles, über das sich ein tiefes innerfamiliäres Schweigen gelegt hat. Und auch mit den Eingangssätzen wird diese Neugierde auf die Gründe von Verstummen und rätselhafter Kälte in der Familie, über die erzählt wird, sofort weiter gereizt.
„Jener 12. Oktober 2002 kündigte sich mit allen Anzeichen des bevorstehenden Herbstes an. Graue Wolken zogen tief, beinahe die Wasser des Sees streifend. Windböen kehrten die Gassen, rüttelten an Türen und Fenstern und stellten die Standhaftigkeit der Beschläge auf eine harte Probe.“
Und diese Windböen von dunklen Erinnerungen, von sich immer weiter aufschichtenden Fragen, von unfassbarer Kälte, Hass, von Trauer ohne Tränen, von Abschied ohne Schmerz wehen im Laufe der Erzählung immer wieder auf. Szenen sind da aber auch, die von keiner Windböe, sondern von einem Sturm, einem Tornado an Gewalt und Brutalität aufgewühlt werden. Dabei ist nur in einem Kapitel von wirklich roher, entsetzlicher Gewalt die Rede. Ansonsten herrscht sogar sehr viele Ruhe, sehr viel Stummheit, sehr viel Schweigen in den so akribisch genau, atemlos fesselnd geschilderten Erinnerungen der zentralen Erzählfigur Enza.
Groll ohne Ende
Gibt es Situationen im Leben, in denen so viel lärmende Stille herrscht, so viel beredtes Schweigen, so viel erregtes Innehalten wie bei der Totenwache soeben verstorbener enger Angehöriger? Enza verabschiedet sich nacheinander von ihrer Schwester, von ihrem Mann, von ihrer Mutter. Von der Schwester verabschiedet sie sich im Zorn. „Das also brütete in mir: Hass, Groll ohne Ende. Das war es, was sich hinter der Maske der guten Schwester verbarg! Mein Gott, zu wie viel Hass ist ein menschliches Wesen fähig.“ Aber was verbirgt sich hinter dieser ein Leben lang aufgestauten Ablehnung, die zudem einer geistig behinderten, in jeder Hinsicht schwachen Schwester gilt? Auch der toten Mutter kann Enza nur ein fassungsloses Unverständnis entgegenbringen über ihre Kälte, ihr gewaltsames Schweigen, ihre so merkwürdig verstörende Herzlosigkeit gegenüber Kindern. „Auch vor der Leiche der Mutter hatte sie dasselbe Gefühl der Machtlosigkeit empfunden; sie hatten sich beide, Mutter und Tochter, der einzigen großen Frage entzogen, die ihr gemeinsames Leben gezeichnet hatte, zuerst die eine, dann die andere: Hast du mich jemals geliebt?“
Ergreifend, ganz ohne Pathos und Schwülstigkeit
Vollkommen anders sind jedoch die Gefühle, die Enza ihrem plötzlich verstorbenen Mann Carlo gegenüber äußert. In dieser Beziehung gab es Liebe, Zuneigung, Nähe, die Enza zu Schwester und Mutter niemals spüren konnte. Wie Ada Zapperi Zucker die erste schockierende Begegnung von Enza mit ihrem über Nacht plötzlich im Bett verstorbenen Mann Carlo in Worte fasst, nimmt dem Leser vor Ergriffenheit – weit entfernt von Kitsch und Pathos – wirklich den Atem. Überhaupt ist es die Stärke, auch die Größe dieser Erzählung, dass hier Konflikte von einer fast schon alttestamentarischen Wucht in einem Ton, in einer Wortwahl wiedergegeben werden, die den Leser ganz auf das Drama dieser Lebensgeschichte konzentrieren, ohne dass er durch überzogene Schwülstigkeit, durch künstlich erzeugte, schnell durchschaubare Spannung abgelenkt wird. „Bestimmte gedachte, aber nie ausgesprochene Worte bleiben in der Schwebe und schaffen unerträgliche Spannung. Sie verletzen mehr als böse, im Zorn geschriebene Worte. Im Schweigen liegt das Desinteresse des Anderen und noch mehr der Wille ihn zu ignorieren, seine Existenz nicht anzuerkennen. Das war der Grund, warum Enza gelernt hatte jedes Wort zu prüfen, immer, schon als Kind.“
Und in dieses Schweigen ist auch die Rezension eingehüllt. Man darf das Geheimnis der aufgestauten Kälte zwischen den drei Frauen, der Schwester, der Tochter und der Mutter, nicht enthüllen, bevor man die Lektüre des Buches begonnen hat. Wer es gelesen hat, weiß, warum man sich dieses Schweigen auferlegt hat. In dem Programm eines jenseits des literarischen Mainstreams angesiedelten kleinen Verlags ein so tief aufwühlendes Buch einer ebenfalls – bis jetzt – noch wenig bekannten Autorin zu entdecken, gehört zu den Glücksmomenten, die man sich als Leser immer erhofft, aber so selten findet.
Carl Wilhelm Macke
Ada Zapperi Zucker: Das Schweigen. Aus dem Italienischen von Dominikus Andergassen.
Klagenfurt: Drava Verlag 2010. 165 Seiten. 16,80 Euro