Dennis Lehanes Regeln für einen Schriftsteller
– Mit mittlerweile zwölf Romanen, einem Erzählband, einigen Verfilmungen, drei Folgen von „The Wire“ und vielen Projekten im Köcher darf man das. Wobei er sie nicht in Stein gemeißelt, sondern im lockeren Gespräch während eines Literaturfestivals entfaltet hat – „Dennis Lehanes zehn Regeln, ein erfolgreicher Autor zu werden“. Alf Mayer stellt sie vor:
Der walisische Schriftsteller und Moderator Jon Gower entlockte die zehn Gebote dem aus Boston stammenden Dennis Lehane (hier und hier bei CM, zum Interview) beim Event 88 auf der Good Energy Stage des Hay Festivals. Datum: Sonntag, 24. Mai 2015, 13 Uhr. Zehn Tage dauert mittlerweile das vor 27 Jahren an einem Küchentisch im Antiquariatsparadies Hay-on-Wye gegründete Literaturfestival mitten im traumschönen walisischen Brecon Beacons National Park. Poeten, Wissenschaftler, Dichter, Denker, Komödianten, Schriftsteller, Filmemacher, Musiker, Umweltschützer und Künstler treffen sich hier jedes Jahr zu einem „Woodstock des Geistes“, wie es der dort wie ein Popstar gefeierte Bill Clinton einmal nannte.
Hier also die Regeln von Dennis Lehane:
1. Lies, was immer du in die Finger kriegst
Zu Hause in Boston waren wir Arbeiterklasse. Es gab keine Bücher, nur ein paar Lexika. Ich sage immer, das war der Tag, an dem mein Vater den Verkäufer nicht kommen sah. Und es gab die Bibel. Als ich ein Junge war, las ich sie von vorn bis hinten. Ein erstaunliches Stück Erzählung. Dann hörte meine Mutter von den Nonnen – vermutlich das Netteste, was je eine Nonne über mich sagte –, dass ich gern lese. Also brachte meine Mutter mich mit sieben oder acht Jahren in die Bücherei. Bis heute profitiere ich von Büchereien. Ohne Büchereien gäbe es mich nicht als Autor, also werde ich öffentliche Bibliotheken auf immer und ewig unterstützen.
2. Schreibe, was dich drängt
Ich begann zur eigenen Unterhaltung zu schreiben, als ich zu arm fürs Ausgehen war. Ich lebte in einer Über-55-Siedlung in Florida, wo meine Eltern ein kleines Haus hatten, war pleite und sagte mir: „Ich werde was schreiben, um etwas zu tun zu haben.“
3. Nichts ist falsch an einem Riesenego
Die Menschen, die ein großes Ego in Sachen Arbeit haben, sind die, mit denen ich arbeiten will. Sie wissen, was sie wollen. Sie sind nicht unsicher, sie werden nicht voller Selbsthass nach Hause gehen und das zu einem Problem für alle werden lassen. Die Leute mit dem schlechtesten Selbstwertgefühl sind Versager bei der Arbeit.
4. Du selbst solltest wissen, dass du etwas Gutes schreibst, auch wenn niemand sonst das merkt
Wir wussten, dass wir bei „The Wire“ etwas Besonderes machten, auch wenn die Sendung keine Zuschauer hatte. HBO war das egal. Sie waren etwa so: „Wenn wir etwas hätten, um euch zu ersetzen, würden wir es, aber da wir zurzeit nichts anderes haben, macht ihr halt weiter euer kleines Baltimore-Ding.“ Jedes Jahr haben wir bei „The Wire“ gedacht, dass sie uns abwürgen. Jedes Jahr. Wir waren uns sicher, dass Staffel 4 unsere letzte sein würde, deshalb ist sie die beste.
5. Du brauchst ein Ohr für Dialoge
Als ich aufwuchs, wusste jeder, wie er etwas klar macht. Die Leute wussten, wie man genau das richtige Wort in einem Satz unterbrachte. Ich lebte in Miami und merkte, wie mir die Stimme von Boston verloren ging. Ich ging zurück und traf einen Freund. Ich sagte: „Wie geht es dir?“ Und er sagte: „Ganz gut, aber eigentlich hat mich einer niedergestochen. Keine Ahnung, was man dir darüber erzählt hat, aber ein Messer in die Rippen zu kriegen, das lässt dir die Luft zum Kämpfen raus.“ Das lässt dir die Luft raus – nicht, „Ich habe zu Gott gebetet“ oder „Meine Eingeweide haben gebrannt wie Feuer“.
6. Elterliche Zustimmung ist nicht so wichtig
Mein alter Herr schlief durch alle meine drei Romanverfilmungen. Er schlief durch „Mystic River“, stand am Ende auf und sagte, „Oh, deine Mutter sagte, das ist ziemlich düster.“ Er schlief durch „Gone, Baby, Gone“ und sagte: „Oh, deine Mutter sagte, du hast zu oft das F-Wort drin.“ Zu „Shutter Island“ sagte er dann: „Deine Mutter hat keinen Schimmer, was sie davon halten soll.“ Er hat nie eins meiner Bücher gelesen und jeder meinte, das sei doch traurig. Mein Vater würde dazu sagen: „Dein Bruder arbeitet in einem Gefängnis, aber siehst du mich dort hingehen?“
7. Schreibe eine Szene, die dir das Herz bricht
Der Held von „Mystic River“ ist für mich Dave, der von seinem Missbrauch als Kind verfolgt wird. Ich habe jahrelang mit missbrauchten Kindern gearbeitet, und wenn du solch ein Kind bist, steigen die Chancen, dass du ein Kinderschänder wirst, ins Unermessliche. Dave kämpft dagegen an, bis zum bitteren Ende. Er fühlt sich von Kindern angezogen und kämpft es nieder. Aber ich musste diese Szene so echt haben, dass man diese Anziehung wirklich spüren und sehen kann. Bis heute ist es das Härteste, was ich je geschrieben habe. Sechzehn Stunden habe ich an dieser Szene gearbeitet. Als sie fertig war, habe ich mein Büro abgesperrt und ging eine Woche lang nicht wieder hinein.
8. Sag’ nicht Nein, wenn Clint anruft
Ich habe meinen Hollywood-Agenten gefeuert, weil ich „Mystic River“ nicht verkaufen wollte. Aber Clint Eastwood hat es durch meine Verteidigungslinien geschafft. Wenn du ans Telefon gehst, ist es einer der großen Scherze in Hollywood, zu sagen: „Mr. X. ruft Sie an, bitte bleiben Sie in der Leitung.“ Sie haben einen Assistenten, der dich anruft, um zu sehen, ob du dumm genug bist, dein eigenes Telefon abzunehmen. Sie sind die einzigen Leute, die dich warten lassen. Clint ruft einfach selbst an.
9. Ignoriere die Kritiker, was wissen die schon?
Ich denke, Martin Scorsese hat den Geist von „Shutter Island“ wirklich richtig erfasst. Es ist mein am wenigsten realistisches Buch. Es ist ein Buch über Bücher – über die Schwestern Bronte, über Mary Shelley, über den großen Neo-Gothiker Patrick McGrath, und über 1950er B-Movies. Scorcese hat das geschnallt. Er ist mit diesem Film ausgiebig die ganze exzentrische Tour gegangen. Als ich ihn sah, wusste ich sofort, dass das eine Menge Leute anpissen würde. Ich dachte, der Filmkritiker der New York Times bekommt mitten in seinem Text einen Herzinfarkt, so hat er sich aufgeregt. Aber wenn du weißt, warum du etwas machst, kommst du mit der Reaktion der Leute klar.
10. Gewöhn dich nicht daran, reich zu sein
Es ist abartig. Es ist surreal. Immer noch fühle ich mich nicht hundert Prozent wohl, wenn ich an First-Class-Orten bin. Ich denke, gleich werfe ich ein Glas um oder etwas ähnliches. Hier ein Beispiel, das zeigt, wie schizophren das ist. Vor ein paar Wochen schnitt mir ein Range Rover den Weg ab, und ich sagte: „Natürlich fährt er einen Range Rover. Typisch.“ Erst dann fiel mir ein, dass ich gerade selbst meinen Range Rover fuhr.
Auch Wilbur Smith und Alistair MacLean
Ein Autor ist Lehane seit dem achten Lebensjahr, schrieb seinen ersten Roman mit 15. Mit 16 meinte ein Lehrer zu einer Kurzgeschichte, er solle sich das mit der Schriftstellerei doch ernsthaft überlegen.
Wenn andere ihm sagen, dass Chandler und Hammett ihn sehr beeinflusst haben, müsse er ebenso Wilbur Smith und Alistair MacLean angeben, weil sie ihn jung beindruckt haben, meint er. Stilistisch den größten Einfluss hatte Elmore Leonard auf ihn. Nach dem College schrieb Lehane „A Drink before the War“ und verbrachte ein Jahr mit Neufassungen, fand sieben Monate später einen Agenten dafür. „Streng vertraulich“ erschien 1994, fünf Jahre später in Deutschland. So lange braucht es inzwischen nicht mehr mit den Übersetzungen. Lehane hat bei Diogenes eine neue Heimat gefunden, man spendiert ihm dort sogar Neuübersetzungen. Im Dezember 2015 kommt dort „Shutter Island“ neu heraus, für Oktober 2015 ist Band Drei der Joe-Coughlin-Trilogie angekündigt.
Nach „Im Aufruhr jener Tage“ (Ullstein, 2010, OT: The Given Day) und „In der Nacht“ (Diogenes, 2013; OT: Live by Night) wird „Am Ende einer Welt“ (World Gone By) ein eher schlankes Buch werden. Hatte „The Given Day“ mit seinen 704 Seiten (deutsche Ausgabe: 760) noch ausgesprochen episch und mit vielen historischen Details angesetzt, ein Zeitpanorama mit historischen Karten auf den Vorsatzblättern, so war „Live by Night“ bereits erheblich schmäler ausgefallen (403 im Original und 586 Diogenes-Seiten). Das nun im März 2015 in USA erschienene „World Gone By“ hat 310 Seiten und ist bei Diogenes in der Übersetzung von Steffen Jacob mit 336 Seiten angekündigt. Im Überblick:
„The Given Day“: 704/ 769 Seiten
„Live by Night“: 403/ 586 Seiten
„World Gone By“: 310/ 336 Seiten.
Ein kleines „Reading Ahead“ für Lehanes „World Gone By“
„World Gone By“ ist weniger Epos als historischer Gangster-Thriller und spielt Ende 1942/Anfang 1943 hauptsächlich in Ybor City, Florida. Keine sechs Monate mehr werden viele der auf einem Foto Versammelten mehr am Leben bleiben, verrät der Prolog. Der zum allseits geachteten Fixer gewordene Gangster Joe Coughlin ist inzwischen 37 und als der Consigliere einer Mafiafamilie ein Goldesel seiner Organisation – aber wie ihm eine im Gefängnis einsitzende Auftragskillerin verrät, soll er das Ziel eines Mordanschlages werden. Eigentlich unvorstellbar. Lehane hält den Suspense hoch, führt seine Leser im Schatten des Zweiten Weltkrieges in die Territorialkriege des Profits, lässt Joe Coughlin gar auf Joseph Kennedy, den Vater des späteren US-Präsidenten treffen. Beides sind sie Iren aus Boston, beide heißen sie Joseph. Joe kommt von der Südseite der Stadt, Kennedy aus dem Osten. Beide sind sie Spieler und Schmuggler. Beide haben sie Ambitionen. Und sie hassen sich vom ersten Moment an. Mit dem Breitwandansatz von „The Given Day“ hätte Lehane daraus wohl ein Kapitel Sittengeschichte der USA gemacht, in „World Gone By“ wird daraus keine ganze Seite.
Nicht, dass es ein schlechtes Buch wäre, aber der epische Atem aus der einmal breit angelegten Trilogie ist raus. Die beiden älteren Brüder Joes, der eine Polizist in Boston, der andere im Filmgeschäft, werden nur absatzkurz erwähnt. Ein wenig kommt mir „World Gone By“ wie Kontrakterfüllung vor, aber auch damit liegt Lehane noch deutlich über der Eichmarke.
Joe, der seinen Sohn Tomas allein aufziehen muss, erscheint immer wieder ein offensichtlich toter Junge. Ein Geist. Lehane hält das niedrig, aber dies Element von magischem Realismus, das man auch bei James Lee Burke verstärkt in seinem Spätwerk finden kann, tritt am Ende deutlich hervor. Man kann auf die Rezeption hierzulande gespannt sein.
In aller Kürze: Elmore Leonards Schreib-Regeln
Lehanes „Zehn Regeln“ wurden von ihm an keine Literaturbürotür genagelt, sie haben gewiss auch nicht die Verbindlichkeit, die man denen des Großmeisters Elmore Leonard zusprechen kann und die ebenfalls bei CrimeMag zuerst auf Deutsch erschienen sind. Als Teil eines großen, dreiteiligen Nachrufs (zum Nachruf, zu Teil 1 der Zitate, zu Teil 2).
Das mit betörend viel Weißraum ausgestattete, von Joe Ciardello illustrierte bibliophile Büchlein „Elmore Leonard’s 10 Rules of Writing“ stammt aus dem Jahr 2007. Es ist bei William Morrow erschienen und – da wohl immer noch ein Geheimtip – recht erschwinglich erhältlich. Elmores Regeln wurden in Kurzform erstmals 2001 in der New York Times publiziert und wurden berühmt für das Axiom: „I try to leave out the parts that people tend to skip.“ Regeln seien es, die er auf dem Wege aufgepickt hätte und die ihm helfen, unsichtbar zu bleiben, wenn er schreibe. Zehn Jahre, sagte Elmore Leonard an anderer Stelle, habe es gebraucht, bis er seinen Sound gefunden habe: „Das sind eine Million Wörter.“
Elmores Regeln in Kurzform (ausführlicher bei CM hier):
Erste Regel: Eröffne nie ein Buch mit dem Wetter.
Zweite Regel: Vermeide Prologe.
Dritte Regel: Verwende nie ein anderes Verb als „sagte“ für einen Dialog.
Vierte Regel: Nimm nie ein Adverb, um das Verb „sagte“ zu modifizieren …
Fünfte Regel: Halte deine Ausrufezeichen im Zaum.
Sechste Regel: Benutze nie die Worte „plötzlich“ oder „alles geriet in Bewegung“.
Siebte Regel: Verwende Dialekte und Slang nur spärlich.
Achte Regel: Vermeide detaillierte Beschreibungen von Charakteren.
Neunte Regel: Gehe bei der Beschreibung von Orten und Dingen nicht zu sehr in Einzelheiten.
Zehnte Regel: Versuche den Teil draußen zu lassen, den die Leser eh überfliegen. Wenn es wie geschrieben klingt, schreib es noch einmal.
Eric Clapton sagte das einmal so: „Don’t listen to the notes I play, listen to the ones I leave out.“
Lehane arbeitet nach mehreren Filmskripten und seinem Umzug nach Hollywood (siehe dazu auch das CM-Interview) zurzeit an der Adaption der in Dublin angesiedelten irischen Gangsterserie „Love/Hate“ für den amerikanischen Markt. Die Serie wurde 2010 vom irischen Sender RTÈ-Televison ausgestrahlt. Der „Guardian“ verglich sie mit „The Wire“ und den „Sopranos“, sah darin das Gangster-Genre mit der Gegenwart verknüpft.
Bereits für den US-Markt in die USA verpflanzt wurden (nicht von Lehane) „Die Brücke“ und „The Killing“, das britische „Broadchurch“ wurde nach Kalifornien verlegt – mit dem gleichen Hauptdarsteller. Auch „Luther“ soll eine US-Version bekommen, Idris Elba bleibt am Ball. Eine russische Achtteiler-Version (ohne ihn) mit dem Titel „Klim“ ist bereits abgedreht.
Lehanes eigene Adaption von „Live by Night“ mit Ben Affleck als Regisseur und Hauptdarsteller wird 2016 verfilmt. Auf Wunsch von Leonardo DiCaprio adaptierte er „The Deep Blue Good-By“ (dt. als: Tausend blaue Tränen/Abschied in Dunkelblau) von John D. MacDonald aus dem Jahr 1964 für das Kino. DiCaprio wollte eigentlich die Hauptrolle. Das Projekt liegt auf Eis, wie auch Lehanes Adaption von „Un Prophete“, das Original stammt von Jacques Audiard. Auf dem Filmskriptmarkt ist weit mehr und schneller Geld zu verdienen als mit Bücherschreiben. „Some time in the sun“, nannte das einst William Faulkner.
Alf Mayer
Dennis Lehane: World Gone By. William Morrow, New York 2015. 310 Seiten, $ 27.99. Deutsch als „Am Ende einer Welt“, übersetzt von Steffen Jacobs, im Oktober 2015 bei Diogenes. Zur Homepage von Dennis Lehane.
Foto: Hay on Way booksale von Aloys5268 aus nl. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.