Nach der Wahrheit jagen wie nach einem Wal
„Sam Spade hat gesagt: Wenn der Partner eines Mannes ermordet wird, muss dieser Mann etwas tun.“ Mit dieser Referenz auf den „Malteser Falken“ ermuntert auf Seite 74 der Vater der ungewöhnlichen Heldin – diesmal stimmt dieses Attribut tatsächlich –, die Tochter zum eigenen Handeln. „Ihr Amerikaner seid viel zu gutgläubig“, hat er gefaucht, als russischem Immigranten ist ihm das Misstrauen gegenüber Institutionen tief verwurzelt, und er liebt sie, diese alten Kriminalfilme, wo der Protagonist nachdenken muss, im Unterschied zu den heutigen Thrillern mit billigen Special Effects.
Elizabeth Elo erweist hier dem Genre zwinkernd eine Referenz. Pirio Kasparov, die Heldin von „Die Frau, die niemals fror“, ist freilich in gleich mehrfacher Hinsicht hartgesotten, auch Humphrey Bogart hätte sich an ihr wohl sein Schienbein aufgeschürft. Protagonistinnen wie die Frau mit dem seltsamen Namen schneien nicht jeden Tag herein in die Kriminalliteratur. Pirio ist zäh und widerspenstig, hat einige Eigenschaften mehr als die normale Krimifigur. Und nein, keine Katze. Im feineren Teil Bostons aufgewachsen und eine teure Schule besucht, treibt sie sich mit ihrer Freundin Thomasina lieber in den rauen Hafenkneipen Süd-Bostons herum, wo ihre gelegentlichen Referenzen auf Tolstoy, Solschenizyn und Aksjonov keine weitere Beachtung finden. Auf einem Hummerfänger war sie mit ihrem Freund Ned draußen auf dem Atlantik, als ein großes Schiff sie grob 25 Meilen nördlich von Boston im Nebel rammte. „North of Boston“ heißt der Roman im Original, diese Himmelsrichtung bestimmt Ziel und Drive der Geschichte. Bis in die kanadische Arktis wird Pirio die Suche nach den Schuldigen führen, die ihren Freund und einiges mehr auf dem Gewissen haben. Detektivarbeit als so etwas wie die Jagd nach dem weißen Wal, dies ist ein ziemlich maritimer Roman und Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger haben als Übersetzer zu Wasser und zu Lande ganze Arbeit geleistet.
Eine Schnüfflerin, ganz buchstäblich
Ned ertrank, während Pirio unglaubliche vier Stunden im eiskalten Wasser überlebte, ehe sie gerettet wurde. Eigentlich kann so etwas kein Mensch überstehen. Pirio ist eine Besonderheit, ein Phänomen, für das sich sogar das Militär interessiert. Während sie noch auf das Wohlwollen der Behörden hofft, das nächtliche Schiffsunglück aufzuklären, stellt sich „Die Schwimmerin“, wie sie mittlerweile von den Medien tituliert wird, der United States Navy zu Studienzwecken zur Verfügung. Die Kapitel 9 und 16 bieten einen informativen Exkurs in die militärisch-bionische Forschung, die Suche nach dem ermüdungsfreien Soldaten, der extreme Temperaturen überleben kann. (Gerade im Kino wieder aktuell: „RoboCop“ und nicht zuletzt jede Menge Superhelden, Siegfrieds germanisches Drachenblut lässt grüßen.)
Es gibt kein Schiff, das den Kurs hätte kreuzen können, sagt die Küstenwache und bezweifelt den Unfall. Pirio aber weiß – mehr vielleicht als viele andere Romanhelden –, dass sie ihren Sinnen trauen kann. Sie forscht weiter. Immer illegaler, gefährlicher. Es ist ihr Geruchssinn, der ihr verrät, dass bei ihr eingebrochen wurde. Ihr zehnjähriger Patensohn Noah könnte weiterhelfen, er war dem Eindringling so nah, dass er ihn gerochen hat. Welcher Geruch? Zwar wussten wir bis dahin schon, dass Pirio die Erbin eines kleinen Parfum-Imperiums ist, ab Seite 99 aber bekommen wir eine spannende Lektion über den nach der Kindheit relativ verblassenden Geruchssinn, wie es das seit Süskinds „Das Parfum“ als olfaktorisch-rauschhafte Schilderung nicht mehr gegeben hat. Buchstäblich zur „Schnüfflerin“ wird Pirio bei ihrer endgültigen Initiation in Sachen Privatdetektiv, sie analysiert die in ihrer Wohnung fremde Duftnote:
„… hartnäckige Moleküle einer tiefen Basisnote … Ich nehme an, Adlerholz oder Eichenmoos, häufig eingesetzte Duftbausteine… Ich schließe meine Augen und versuche es erneut. Es ist Adlerholz. Ja, ich bin mir sicher: dunkel, weich, würzig, nach Medizin. Der Duft südasiatischer religiöser Rituale … Entweder liebt man Adlerholz oder man hasst es; der Duft ist unverwechselbar.“
Nein, kein Parfum-Thriller
Dramaturgisch ist das dann auch die richtige Stelle, mehr aus der Vergangenheit Pirios und von ihrer früh gestorbenen Mutter zu erfahren. Elisabeth Elo macht das zum Teil auch über Gerüche, beschreibt den Zauber von Ambra und ein eigens für ihre Mutter kreiertes Parfum:
„In diesem Sommer meiner Kindheit wurde „L’Amour du Nord“ geboren. Der Duft ist schwer zu beschreiben. In Farben ausgedrückt, würde man sagen: tiefe Blautöne und Weiß, mit einem Hauch Magenta und Neongrün. Würde man ihn mit einem Erlebnis beschreiben wollen: in einen dicken Pelzmantel gehüllt in der nasskalten Dämmerung über ein Schneefeld auf das bronzene Licht einer weit entfernten Hütte zugehen. In der Sprache der Chemie: Beta-Selinen trans-p-Mentha-1(7), 8-dien-2-ol und weitere Substanzen, deren Schreibweise so kompliziert ist wie ihre molekulare Struktur. Mit Hilfe von Kleidungsstücken: ein Spitzenslip und ein roter Lederhandschuh. In den Launen der Liebe: „Mmmmmmm“, bis es aufhört zu sein.“
Aber keine Bange, dies ist kein Parfumthriller, obwohl es dann auch noch zu einer „Schnüffelparty“ geht, zur hausinternen Fokusgruppe der Firma ihres Vaters, wo gerade eine neuer Duft zur Endabnahme kommt.
„Très difficile“, sei es gewesen, sagt Chefentwickler Jean-Luc, „kaum zu machen“. Nun, der Duft soll in Drugstores verkauft werden, die Firma wird viel Geld damit machen. Pirio riecht: „Frische Sommerluft, Erdbeerkuchen und Kaugummi. Der Duft besitzt keine Untertöne, ist uninteressant und fade. Er ist so frei von Sehnsucht, so bar jeden Verlangens und jeglicher Lust, so zurückhaltend nett, dass ich vor Langeweile schreien könnte. Ich lächle und gebe ihn zurück: „Das ist er. Perfekt für eine Zwölfjährige.“
Fischen, jagen, so reich wie möglich werden …
Bis Seite 280 dauert es, ehe Pirio den kleinen Noah an Fläschchen riechen lässt, bis er erkennt, wonach der fremde Mann gerochen hat. Es war Adlerholz. Pirio weiß, wer solch ein Eau de Cologne trägt, kann den unerwünschten Besucher zuordnen, es ist ein Freund ihres alten Lovers Johnny. „Wer interessiert sich schon für ein paar tote Fische in der Arktis“, wird der später sagen, viel später, nachdem Pirio einen geografisch wie emotional weiten Weg zurückgelegt hat, um ihr Rätsel zu lösen. „Der Mensch ist zum Jagen geboren, und zum Fischen, und auch dazu, so reich wie möglich zu werden.“ Das ist die Philosophie von Johnny und seinen reichen Freunden, Wilderer der besonderen und besonders üblen Art. Pirio wird Zeuge eines Massakers an Narwalen in einer Bucht der kanadischen Provinz Labrador, deren Stoßzähne sind ein begehrtes Schmuggelgut.

Ambergris-Klumpen
Viele intensive Passagen hat „Die Frau, die niemals fror“. Die Auswüchse der Fischerei gehören dazu, das Dienstbotentum auf einer Luxusjacht, arme und reiche Lebenswelten ebenso wie viele kleine Alltagsbeobachtungen, etwa wie in einem Moment, aus dem mehr Nähe mit einem netten Mann werden könnte, ihr Körper sie im Stich lässt und die beiden Beinahe-Lover die Situation gerade noch würdevoll beenden. Wie es ist, nach dem Trauma des Schiffbruchs zum ersten Mal wieder ins Wasser zu steigen. Welche Reaktionen, dies dann im Versuchsbecken der Navy, wirklich kaltes Wasser auslöst. Wie es ist, wenn Pirios Körper in einer unangenehmen Situation so zu macht, dass sie ihr Gegenüber in einer Bar nicht mehr hören kann. Überhaupt der Körper. Die Sinne. Das Physiologische. Die Wahrnehmung. Dazu viel weibliche Selbstbehauptung in einer Männerwelt.
Die Autorin Elisabeth Elo hat einen scharfen Blick für Klassen und Klassenunterschiede. „I think class is crucial to understanding modern American life“, sagt sie. „Everybody is in some kind of flux. That is the way I see American society working.“
Erstaunlich, welchen Sog dieses in der ersten Person Singular im Präsens erzählte, alles in allem sonderbare und vor allem überaus sinnliche Buch ausüben kann. Detektivgeschichte und Öko-Thriller, Hardboiled- und Abenteuer-Roman mit einer kratzbürstigen Heroine im Zentrum, gehorcht es nicht den herkömmlichen Gesetzen des Kriminalromans – und ist doch einer, ein ziemlich vornehmer sogar. Als Pirio das Verbrechen aufgeklärt und ihren toten Freund gerächt hat, besucht sie ihren im Sterben liegenden Vater im Krankenhaus – zwischendurch gab es eine bewegende Stelle, wo ihr sein Zustand darüber klar wurde, seinen Namen auf einem Medikamentenglas zu sehen.
„Die Wahrheit“, sagt ihr Vater; „kennt kein Ende. Sie entwickelt sich einfach immer weiter, und wenn man nicht den Mumm hat, ihr zu folgen, dann fängt man an zu sterben. Trotzdem glaubt ihr bequemen Menschen immer, alles zu wissen.“
Nachsatz, zur Autorin
Fünf Jahre, heißt es, habe Elisabeth Elo an „North of Boston“ gearbeitet. Den Anstoß gab ihr ein Buch über „Ambergris“ (Ambra), gehärtetes Wal-Exkrement und/oder Kotze, eine Substanz, der einst mythische Fähigkeiten zugeschrieben wurden, Heil- und Liebeskräfte, realiter auch ein gutes und bis heute sehr teuer gehandeltes Fixativ in Parfums. Wale, Duftstoffe und eine Figur namens Pirio saßen ihr länger auf der Schulter, kamen irgendwann zusammen und wollten erzählt werden, sagt Elo. Und nein, „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ ist zwar ein schöner Vergleich, war aber keineswegs irgendein Angelpunkt.
Elo hat Literatur studiert und lehrt sie auch, hat als Redakteurin, Werbetexterin und High-Tech-Marketingdirektorin gearbeitet und – dies verschweigen ihr amerikanischer wie ihr deutscher Verlag – als Elisabeth Brink 2006 bereits einen von der Kritik positiv aufgenommenen Roman veröffentlicht: „Save Your Own“, eine akademische Komödie, die Transformationsgeschichte einer 26jährigen altklugen Studentin, eines hässlichen und scheuen Entleins, das sich selbst in die Welt entlässt, als die Recherche für die Doktorarbeit zu allerhand seltsamen Leuten führt. Elisabeth Brinks Kurzgeschichten erschienen in der Gettysburg Review, der Alaska Quarterly Review, in Manoa, The Fiddlehead und Orchid. Der große Andre Dubus II. war es, in Nordamerika der wohl am nächsten an Tschechow reichende Erzähler, der ihre Kurzgeschichten für den „Pushcart Prize“ nominierte. Dubus II. übrigens war sehr gut mit Elmore Leonard befreundet.
PS: In Herman Melvilles „Moby Dick“ heißt es über Ambra (im Amerikanischen ambergris):
„Wer würde wohl denken, dass die feinsten Damen und Herren sich an einem Wohlgeruch laben, den man aus den ruhmlosen Gedärmen eines kranken Pottwals holt! Und doch ist es so. Der graue Amber wird von manchen für die Ursache, von anderen für die Folge mangelhafter Verdauung gehalten, an der Wale mitunter leiden. Wie eine solche Dyspepsie zu kurieren wäre, lässt sich schwer sagen; es sei denn, man gibt dem Patienten drei, vier Bootsladungen Rhabarberpillen ein und verzieht sich dann schleunigst aus der Schusslinie … Ich behaupte: wenn der Pottwal seine Schwanzflosse hochschleudert, verströmt er ebensoviel Wohlgeruch wie eine moschusparfümierte Dame, die in einem warmen Salon ihre Röcke rascheln lässt.“
PPS: Elo hatte ihre Figur eigentlich nicht auf Serie angelegt, das Fundament legte sich gewissermaßen selbst. In der Fortsetzung wird Pirio nach Yakutsk in Sibirien reisen, um nach einem verlorenen Familienmitglied zu suchen, das dort 1942 in ein Arbeitslager verschleppt wurde. Seit Lionel Davidsons „Der Rabe“ (Kolymsky Heights, 1994) (muss ich sagen, bin ich auf keinen Sibirien-Thriller mehr so gespannt.
Alf Mayer
Elisabeth Elo: Die Frau, die nie fror. (North of Boston, 2014) Deutsch von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger. Berlin: Ullstein 2014. 512 Seiten. 19,99 Euro. Mehr zur Autorin, ihren Bildern und zum Buch.