Geschrieben am 1. Februar 2014 von für Bücher, Crimemag, Porträts / Interviews

Alf Mayers Blutige Ernte: Philip Kerr – Böhmisches Blut

C_978-3-8052-5042-9.inddPolizist zu sein in dunkler Zeit

– Philip Kerrs „Böhmisches Blut“, außerdem hat Alf Mayer exklusiv für CrimeMag ein Interview mit Philip Kerr geführt …

In 40 Sprachen wird der britisch-schottische Autor Philip Kerr übersetzt. Auch wenn sich sein Bekanntheitsgrad hierzulande in Grenzen hält, seine Bernie-Gunther-Romane werden – weil es da Nachfrage gibt – in den Berliner Touristenläden vorrätig gehalten; weltweit prägen sie einen Blick auf Deutschlands Nazi-Vergangenheit mit, von dem viele von uns nichts ahnen. Jedoch, ich kann beruhigen. Dieses Bild ist keineswegs das schlechteste, ambivalent zwar und alles andere als gemütlich, unterm Strich aber mindestens ebenso sympathisch wie die guten alten Hard-boiled-Helden (siehe auch die Fan-Webpage).

Das klingt nach Kasperletheater? Oh nein, ganz im Gegenteil. Der Kriminalroman, vor allem der wirklich hart gesottene, war immer schon das Medium ungemütlicher Wahrheiten. Die Kerr-Lektüre macht klar, wie sozusagen gratis doch manch andere Genrestücke irgendein Setting und irgendein Personal versammelt, um uns irgendetwas über den Zustand unserer Zivilisation sagen zu wollen. Philip Kerr – das nimmt einem bei der Lektüre manchmal fast den Atem – stellt das Genre sozusagen auf die Füße, ihm gelingt eine fast genial zu nennende Transformation. Explizit beruft er sich auf Chandler und dessen „mean streets“, insistiert gleichzeitig darauf, keine Kriminalromane, sondern politische Romane zu schreiben, die sich als Kriminalromane maskieren.

Berlin, nicht Los Angeles, ist die Hauptstadt des Noir

Indem Kerr direkt an die Traditionen der hard-boiled novel anknüpft, sein Bernie Gunther ein unmittelbarer Nachfahr Philip Marlowes, demonstriert er geradezu spielerisch virtuos, dass diese literarische Form alles andere als verstaubt und überholt ist. Dachten wir bislang, Los Angeles sei die natürliche Heimstätte des hartgesottenen, im Herzensgrunde einsamen Ermittlers, so zeigt uns Kerr, dass das Berlin der Nazi-Zeit der ideale Ort für einen solch gebrochenen, zynischen und schlagfertigen Helden ist. Kerr unternimmt in seinen mittlerweile neun Bernie-Gunther-Romanen nichts weniger als Expeditionen ins dunkle Herz der Finsternis des 20. Jahrhunderts, das führt über Deutschland hinaus, gräbt auch an den Wurzeln der Vor- und Nachkriegszeit.

Bernie Gunther ist eine Art Fliegender Holländer, ein unerlöster Untoter der jüngeren deutschen Geschichte, Kerr hat ihn zu einer Figur entwickelt, die er fast überall hin expedieren kann – von Kuba bis Argentinien. (Weiter unten eine kleine Übersicht der Romane.) Was immer an Verbrechen vorkommt in den Gunther-Romanen, immer ist es der Staat, der die größten Verbrechen begeht. Kerr sieht sich hier in der Tradition des europäischen politischen Romans, Politik und Moral sind seine Themen. Was Botschaften angeht, hält er es mit der Ambler-Schule, dass man so etwas einer Postkarte und keinem Roman anvertrauen solle. Was Kerr liefert, ist solide, tiefgängige Unterhaltung, U und E in einem, wie es die Engländer eben vermögen.

Bernie Gunther, ein Überlebenskünstler

Obergruppenfuhrer Reinhard Heydrich

Obergruppenfuhrer Reinhard Heydrich

„Dies ist nicht Ihr gewöhnlicher Kriminalroman!“, das wird schon im Prolog von „Böhmisches Blut“ deutlich, in dem der Ich-Erzähler auf dem Rückweg von Prag am Anhalter Bahnhof von Berlin eintrifft. Er trägt eine Nazi-Uniform, fährt im gleichen Zug wie SS-Obergruppenführer Reinhard Tristan Eugen Heydrich , dem Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Aus dessen Büro hat er am Vorabend eine gute Flasche Korn und ein paar Zigaretten gemopst, um sich nach Tagen der Hölle endlich wieder einen guten Abend zu machen. Denn: „Ich war mehr, als Heydrich von sich behaupten konnte. Ich war am Leben.“ Der Preis freilich ist ein hoher, ein tiefes, schwarzes Loch in seiner Seele. Und das Wissen, einem schrecklichen Ort namens Auschwitz wenigstens ein Gesicht und einen Namen zuordnen zu können.

Bernie Gunther ist Überlebenskünstler, Hauptmann im SD, dem Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS, ein Kriminalkommissar am Berliner Alex, der sich auch schon als Privatdetektiv durchschlug und Hoteldetektiv im Adlon war (siehe auch „Die Adlon-Verschwörung“ und mein Interview mit Philip Kerr am Ende dieses Textes). Das Schicksal hat Bernie Gunther schon an die Ostfront und nach Frankreich gebracht, wird ihn ausgerechnet in Dachau zum Hotelier machen und in dem noch der Übersetzung harrenden „A Man Without Breath“ in den Wald von Katyn und zu den Opfern des dortigen Massakers führen. „Böhmisches Blut“ (Prague Fatale, 2011) bringt ihn gefährlich nahe an Heydrich, auf dessen Landgut Panenské Břežany nahe Prag.

Einen Mordfall soll er dort klären, die Verdächtigen sind allesamt SS-Offiziere. Ein „locked-room“-Mystery im Stil Agatha Christies, auf deren „Alibi“ amüsiert rekurriert wird, ist das im Kleinen, aber eben weit mehr als das. „Böhmisches Blut“ ist Romanze, Polit- und Verschwörungsthriller, Polizeiroman und hard-boiled novel, moralische Lektüre – am Ende weit über die Herausforderungen eines normalen Kriminalromans hinausgehend. Die letzten 30 Seiten habe ich mit halb abgewandtem Gesicht gelesen, eine Folterszene meine abgebrühten Lesegewohnheiten erschütternd, ein einziges Wort mich dann zu Tränen rührend, ein kleiner trockener Nachsatz noch einmal. Kafka abwandelnd, ließe sich ein wenig pathetisch sagen: „Kerr gelesen, geweint.“ Aber machen Sie diese Erfahrung selbst. Ich erzähle hier nur den Rahmen.

Lächerlich wie ein Feuer im Aschenbecher
Baby Browning

Baby Browning

Kapitel 1, vom September 1941, beginnt mit: „Der Gedanke an Selbstmord ist für mich sehr beruhigend. Manchmal ist er das Einzige, was mir durch eine schlaflose Nach hilft.“ In einer solchen Nacht – und davon gibt es viele – zerlegt Bernhard Gunther meist seine Baby Browning „und fettet sorgfältig die metallenen Teile der Pistole. Ich hatte zu oft erlebt, was Fehlschläge anrichten konnten und wusste, wie wichtig eine gut gepflegte Waffe war.“ Jede einzelne Kugel poliert er, reiht sie nebeneinander auf „wie kleine, tapfere Messingsoldaten“, sucht „die sauberste und strahlendste aus, die über allen anderen thronen durfte. Ich wollte mir nur mit der besten ein Loch in die Wand meiner Gefängniszelle sprengen, zu der mein Schädel geworden war. Nur sie durfte einen Tunnel in die grauen Windungen aus Verzweiflung sprengen, zu denen mein Verstand geworden war.“

Berlin 1941 ist der Mangel pur, die Auflösung aller bürgerlichen Werte. Aus Bier ist „jene saure, braune und brackige Flüssigkeit“ geworden, „die wir verbittert in Gläsern vor uns hüteten“ und den Weltkrieg-Eins-Veteranen Bernie eher an mit Wasser gefüllten Granattrichter und die Tümpel im Niemandsland erinnert. Auf zwei sarkastischen Seiten skizziert Kerr die Lage im bombardierten Berlin: „Die Laune war – wie die Rationen – alles andere als gut.“ Auch die Polizei interessiert sich nur noch dafür, wo es Wurst, Bier oder Zigaretten gibt. Jede Tatortbesichtigung bloß eine Gelegenheit, nach solchen Schätzen zu suchen. „Manchmal witzelten wir, dass es immer weniger Verbrechen gab: Keiner klaute Geld, und das aus dem einfachen Grund, weil es in den Läden nichts für Geld zu kaufen gab.“

Trotzdem versucht Bernie „weiterhin, mich wie ein anständiger Ermittler zu benehmen, obwohl es sich oft so anfühlte, als versuche ich, das Feuer in einem Aschenbecher zu löschen, während am anderen Ende der Straße ganze Häuser in Flammen standen“. Er ermittelt im Mord an einem holländischen Fremdarbeiter, begegnet der schönen Ariane Tauber, die als Prostituierte und Garderobenfräulein zu überleben sucht, nimmt sie mit nach Prag, was sich als furchtbar schlechte Idee erweist, deren Konsequenz Bernies Selbstmordgedanken zusätzlich befeuern wird. Als Ermittler soll Bernie nach einem Giftanschlag der ganz persönliche Leibwächter Heydrichs auf dessen Landsitz sein. Heydrich, jener bleiche Verbrecher aus „The Pale Criminal“, dem zweiten Gunther-Roman, hat ihn geholt, weil er weiß, dass das Nicht-Parteimitglied Bernie ihm auch unbequeme Wahrheiten sagen wird, in gewisser Weise unbestechlich ist.

Das Wort als Waffe – des kleinen Mannes

Dies nebenbei ist eines der Hauptkonstruktionsmerkmale der Bernie-Gunther-Romane, dass sich da jemand im Nazi-Deutschland das eigene Denken nicht verbieten lässt, dass da jemand den Nazis scharfzüngig kontra gibt, dass da jemand halbwegs aufrecht zu bleiben vermag, dass da jemand sturköpfig an so etwas wie Moral und Gewissen festhält, auch wenn es ihn beinahe umbringt, dass sich „jemand schuldig fühlt, weil er Befehlen gehorcht“. Bernie macht sich immer wieder schuldig oder halbschuldig, er trägt Gewissenslast – aber er hat wenigstens noch ein Gewissen. Selbst wenn es ihm nicht immer vergönnt ist, Held oder Sieger zu sein, so hat er doch eine scharfe Zunge, behauptet sich und seine Haltung, dies auch im Dialog. Das Wort als Waffe, der Underdog gegen die Mächtigen. Kerrs Dialoge können den Klassikern des hard-boiled-Genres das Wasser reichen, mit dem Unterschied, dass die Bösen hier wirklich wirkliche abgrundtief Böse sind. Indem Kerr sich auf dem Feld der tatsächlichen Historie bewegt und sozusagen zwischen ihren Zeilen schreibt, legt er die Latte für sich selbst sehr hoch. Wie einfach macht man sich hier lächerlich, wirkt nur hölzern oder pädagogisch? Wir kennen das aus vieler halbgarer, bemühter Literatur. Nicht so bei Kerr.

In „Böhmisches Blut“ gerät ein ganzes Schloss voller SS-Offiziere unter Mordverdacht, ein Adjutant Heydrichs wurde tot in einem verschlossenen Raum aufgefunden, zugleich wird nach einem Spion und nach Mitgliedern des tschechischen Untergrunds gesucht. Brüchiger Boden überall. „Im Herbst 1941 in einem Mordfall zu ermitteln war ungefähr so, als nehme man einen Mann während der Weltwirtschaftskrise wegen Landstreicherei fest“, sagt sich Bernie, aber es lenkt ihn davon ab, am schlimmsten Ort des Planeten zu sein, nämlich tief in ihm selbst. „Natürlich war es absurd, im Mordfall eines jungen SD-Offiziers zu ermitteln, der sicher an den Morden von Hunderten, wenn nicht Tausenden lettischer Juden, Zigeuner und ‚anderer Unerwünschter‘ beteiligt gewesen war. Ein Massenmörder, der ermordet wurde. Was war daran so falsch?“

Aber fährt der Roman an dieser Stelle fort: „Wie viele hatte ich umgebracht?“, sagt sich Bernie. „Es gab diese vierzig oder fünfzig russischen Kriegsgefangenen, bei denen ich mir sicher war – fast alle waren Mitglieder einer Todesschwadron des NKWD. Ich hatte das Erschießungskommando befehligt und mindestens zehn von ihnen den Gnadenschuss versetzt, während sie stöhnend auf dem Boden lagen. Blut und Hirn waren über meine Stiefel gespritzt. Währen des Großen Kriegs hatte ich einen kanadischen Jungen mit dem Bajonett erstochen, als es darum ging, ob er oder ich überleben würde. Er war nicht totzukriegen und starb mit dem Kopf an meiner Schulter. Gott allein wusste, wie viele ich noch getötet hatte, als ich bei anderer Gelegenheit ein Maxim-Maschinengewehr übernahm …“

Bernies dunkle Seiten – und die der Polizei

Kerr blendet Bernies dunkle Seiten nicht aus, auch nicht die Polizei als zentrales Herrschaftsinstrument des Nazi-Regimes – hier sei an die Berliner Ausstellung „Ordnung und Vernichtung“ erinnert – oder den Einsatz der Polizeibataillone im Osten. „Sie sind der Experte. Für Mord“, sagt jemand in „Böhmisches Blut“ zu Bernie, der öfter ans seine Zeit in Minsk denken muss. – „Vielleicht“, antwortet der. „Drüben im Osten sind ziemlich viele Polizisten, vor allem junge, die sehr viel mehr über Mord wissen als ich.“ Auf einem Flur des Berliner Polizeipräsidiums prügelt er einmal aus einem anderen Polizisten die Wahrheit heraus, schlägt auf ihn ein, im Kalkül dessen, dass Schreien egal ist in diesem Gebäude, „ein ganz normales Hintergrundgeräusch wie das Klappern einer Schreibmaschine“. (Zum Vergleich: Lee Child hat bis heute seinen Ex-Militärpolizisten Jack Reacher völlig freigehalten von den Verstrickungen dieses Streitkräfteteils in die amerikanische Außenpolitik. Eben jene Einheit, der Reacher angehörte, war zum Beispiel zuständig für das irakische Schandgefängnis Abu Ghuraib, Child hat so etwas noch in keinem seiner 18 Thriller je mit einer Silbe erwähnt.)

„Es gab einmal eine Zeit“, heißt es in „Böhmisches Blut“ auf Seite 321, „da hatte ich auch noch Spaß an meiner Arbeit. Die Berliner Mordkommission war die beste der Welt, und ich war ein richtiger Ermittler. Ein Profi. Was ich nicht über das Mordgeschäft wissen musste, musste man nicht wissen. Und jetzt? Jetzt bin ich ein Amateur. Ein ziemlich wunderlicher und altmodischer Amateur.“

Ab dem 19. September 1941, erklärt ihm sein Chef, seien alle Juden verpflichtet, einen gelben Stern zu tragen. „Sie meinen wie im Mittelalter?“, fragt Bernie. „Ja, wie im Mittelalter.“ An die 20 Streichhölzer zerbeißt sein Chef im Lauf einen Tages. Bernie dazu: „Ich vermute, es ist leichter, nicht zu schreien, wenn man auf etwas herumkaut.“ Auf dem Heimweg in die obere Fasanenstraße sinniert Bernie angesichts der Reste einer großen, niedergebrannten Synagoge, dass sich in Berlin seit Kaiser Titus, der Jerusalem im Jahre 70 nach Christus eine Lektion erteilte, nicht viel verändert habe. „Es konnte eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis wir anfingen, die Juden auf der Straße zu kreuzigen.“ Es wimmelt von bösartig-klugen Bemerkungen über das Leben-Müssen in einem totalitären Staat, ach hätten unsere Eltern doch auch nur ein Stückchen so ähnlich über diesen Teil ihrer Vergangenheit geredet. „Einen Vorteil hatte die Verdunkelung. Man sah die Hakenkreuzflaggen nicht mehr.“ An anderer Stelle heißt es über das besetzte Prag, dass ihre Silhouette wirke, als trüge die Stadt eine Dornenkrone und dass die Hitlerfahnen wirkten, als ob Blut von den Wänden flösse.

Alf Meyers Blutige Ernte_A Man Withnout BreathWie damit weiterleben?

Bei Kerr wissen wir, was an Schlimmem in der Realität geschah. Ohne jeden Anflug von Belehrung erfahren wir zum Beispiel, dass Bernie gerade jenem Mann die Hand geschüttelt hat, der in ein paar Monaten die Auslöschung des Ortes Lidice als Vergeltungsmaßnahme nach dem Attentat auf Heydrich anordnen wird. Die rund 30 verdächtigen Nazi-Offiziere, die Bernie sich vorknöpft, sind als Schlossbesucher historisch verbürgt und bilden mit ihren Taten, Geschichten, Vorlieben, Perversionen und Verbrechen ein anschaulich beklemmendes Panoptikum, ein kleiner Vorgeschmack auf die Nürnberger Prozesse. Indem Bernie sie zum Reden bringt und zur Rede stellt, reden sie mit uns. Eine neben aller Scharfzüngigkeit, allem Sarkasmus und allem Witz ungemütliche Lektüre.

Den wahren Täter will Bernie nicht davon kommen lassen. „Wir kommen damit doch jede Minute davon“, sagt der ihm ins Gesicht. „Ich dachte, Sie wissen das.“ Die nächsten 50 Seiten dann sind ungeheuerlich, mit das Härteste, das ich je in einem Kriminalroman gelesen habe. Etwas, das einem ins Herz fährt und es erkalten lässt. Etwas von großer, erzählerischer Wucht.

Wie ein Romanheld mit solch einer Erfahrung weiterleben kann? Deutsche Leser müssen darauf warten. „A Man Without Breath“ beginnt mit einer Berliner Bombennacht, in der es Bernie den Fußboden wegzieht und die Wohnungstür wie ein Sargdeckel auf ihm zu liegen kommt. Der Krieg zuhause, das ist für ihn eine Schwarze Komödie. „Im Winter 1943 musste man sich sein Lachen von überall her besorgen.“ Für die Berliner, betont Bernie einmal, sei Schwarzer Humor so etwas wie eine religiöse Berufung. Doch dann muss er im Frühjahr 1943, der Zeit der deutschen Niederlage bei Stalingrad, an die russische Front, in die Nähe von Smolensk, zu den Massengräbern von Katyn. Wo 14.000 polnische Offiziere ermordet wurden, kommt es vielleicht auf ein paar weitere Tote nicht an, doch Bernie ermittelt, sucht nach seinem kleinen Stück Wahrheit.

Zitate, deren Umfeld man sich entgegenfreuen kann; aus „A Man Without Breath“ :
– „I’ve always disliked hospitals. They sell just a little too much reality.“
– „In my experience the best police work looks like nothing at all and is always forgotten soon.“
– „In my experience nurses – even the pretty ones – are always worth a smile.“
– „I was just thinking that the important thing in life – is just to stay alive.“
– „Neither of them looked as if they belonged in uniforms. I’d seen more convincing soldiers inside a toy box.“
– Bernie: „Life is too short for Wagner. I do know that much.“
– „We have to start rebuilding our moral fabric somewhere.“ – „Tell that to the SS“, I said.
– „When you fight a war with a Baedecker, you don’t always know what you’re going to see.“
– Heldentag mit Hitler in Berlin: „We listened to a somber piece of Bruckner that did little to make anyone feel optimistic about anything.“
– In Smolensk: „I found myself looking around for Goya and his sketchbook.“
– Über Russland: „This ist he country for cruel experiments – it’s where idealists are sent to die. Killing people who believe in things is our national sport.“
– „It’s always the women who rebuild the civilisation the men have done their best to destroy.“
– „Or is morality just a form of cowardice, as Hamlet says?“
– „I’m a cop, not fucking Lohengrin.“
– „When you’re shooting four thousand Pollacks in one weekend you need German pistols to get the job done.“
– „From what I know“, sagt die schöne polnische Pathologin, „this isn’t exactly a whodunnit. Everyone in Europe knows who the killer is.“
– „I’ve had a rotten feeling in my stomach every morning fort he last ten years.”
– S. 414: „There’s hardly been one day when I haven’t asked myself if I could live under a regime I neither understood nor desired. But what am I supposed to do? For the present, I just want to pinch a man for the murders of three – possibly five – people. That’s not much, I’ll agree. And even if I do succeed in pinching him, I won’t get much satisfaction from it. For now, being a policeman seems like the only right thing I can do.“

Zwischen den Zeilen der Geschichte schreiben

Ein Polizist zu sein in der Zeit der Finsternis – Philip Kerr hat mit seinem Bernie Gunther eine Figur geschaffen, die zum Kanon der Kriminalliteratur gehört. Die meisten der Gunther-Romane enthalten am Ende Verweise auf Recherche-Literatur und Hinweise auf historische Verschränkungen. Dem ehemaligen Philosophie- und Jurastudenten, der 1995 für „Das Wittgenstein-Programm“ den Deutschen Krimi-Preis erhielt – ist die Recherche ein Vergnügen, das er sich von niemandem nehmen lassen möchte. Er schätzt die Zufallsfunde, den Glücksfall überraschender Entdeckungen, jene Momente von mehr Glück als Verstand, all das, was in dem schönen englischen Begriff „serendipity“ enthalten ist. Kerr füllt die Lücken, schreibt und plottet in ihnen seine Bernie-Geschichten. Historiker seien eingeschränkt von den Fakten, seine Freiheit liege dort, wo solche Fakten fehlen. Der beste Bericht über die Schlacht von Waterloo zum Beispiel sei für ihn ein Roman, „Les Miserables“ von Victor Hugo. Die beste „Geschichte“ sei eben manchmal die imaginierte.

Nachdem er in „Field Grey“ durch 20 Jahre Geschichte geschweift war, schwebte Kerr ein örtlich und zeitlich beschränktes kleines „Downton Abbey“ vor, er fand es in Heydrichs heute baufälligem Landgut nahe Prag, das er auch besuchte. Mit dieser Anschauung vor Augen war es ihm möglich, die historisch verbürgten Gutsbesucher in seinem Roman zu einem makabren Ballett zu reihen und mit der wohl perversesten Agatha-Christie-Variation der Krimigeschichte einen „dance macabre“ zu veranstaltet.

Für „A Man Without Breath“ entdeckte Kerr, dass der Mann, der in den Geschichtsbüchern für die Entdeckung der polnischen Leichen im Wald von Katyn vermerkt ist und den Nazis damit einen Propagandaerfolg lieferte, in den vorangegangenen Wochen zweimal versucht hatte, Hitler zu töten.

Deutsche Schuld, im Großen und im Kleinen, wird in Kerrs Büchern verhandelt. Mit der Unbefangenheit eines Außenstehenden, der Kaltblütigkeit eines philosophisch interessierten Historikers und dem meisterhaften Timing eines gewieften Thrillerautors wagt er sich an Themen, an denen kleinere oder verzagte Geister scheitern würden. Es ist mir – und das will bei solchem Terrain etwas heißen – in Kerrs Bernie-Gunther-Romanen noch kein Satz begegnet, den ich peinlich fand.

PS. Kerr, in seinen anderen Romanen insgesamt etwas uneben und auch als Kinderbuchautor erfolgreich, ist kein Schriftsteller, der gerne das Gleiche zweimal macht. Immer wieder versucht er neue Wege und Stoffe, hat ambitionierte Thriller geschrieben (es wäre interessant, die im Jahr 2013 abgesiedelte „Philosophical Investigation“ von 1993 wieder zu lesen), Ausflüge in science fiction und alternate history unternommen, Anfang der 1990er russische Realität beschrieben, gerade einen gothisch-biblisch übersinnlichen Südstaaten-Polizeithriller vorlegt („Prayer“, 2013).

1956 in Edinburgh/Schottland geboren, studierte er Jura und anschließend Rechtsphilosophie in Birmingham (1973 bis 1980). Er ist mit der Schriftstellerin Jane Thynne verheiratet, die ebenfalls historische Romane schreibt, und lebt lange schon im Londoner Vorort Wimbledon. Sein Erstlingsroman war der Bernie-Gunther-Roman „March Violets“, dem zwei weitere Bernies folgten, ehe er die Figur 14 Jahre lang ruhen ließ. 1991 war er Herausgebers eines schönen Sammelbandes über die Lüge: „The Penguin Book of Lies“.

PPS. Gute Kriminalromane aus der Nazi-Zeit sind eher eine Ausnahme – die von Marek Krajewski gewiss mit die besten: Tod in Breslau, Der Kalenderblattmörder, Gespenster in Breslau, Festung Breslau, Pest in Breslau, Finsternis in Breslau. Gute Erinnerung habe ich an Birkefeld/Hachmeisters „Wer übrig bleibt, hat Recht“, dann wird die Luft dünner. Der Blog „Berlin Noir“ listet einige auf.

Ein Interview mit Philip Kerr

„Ich arbeite zwischen den Zeilen der Geschichte“

Alf Mayer: Ich nehme an, Sie sprechen fließend Deutsch?

Philip Kerr: Leider gar nicht, nicht im Geringsten. Gesprochenes Deutsch kann ich zwar ziemlich gut verstehen, aber ich bin doch eher Germanophiler als Sprachkundler. Deutschland mochte ich immer schon, ganz besonders Berlin.

AM: Können Sie mir ein oder zwei große deutsche Leseerfahrungen nennen?

PK: Ich kann Ihnen meine drei deutsch-österreichischen Lieblingsbücher nennen, gelesen aber habe ich sie auf Englisch. Es sind der „Tractatus“ von Ludwig Wittgenstein, „Der Zauberberg“ von Thomas Mann und „Steppenwolf“ von Hermann Hesse.

AM: Erinnern Sie sich, wie Bernie Gunther seine Existenz bekam?

PK: Das ist schon eine Weile her. Späte 1980er. Ich wollte einen Roman schreiben über normale Deutsche, die keine Nazis waren. Vor allem aber wollte ich verstehen, möglichst genau verstehen, wie das, was geschah, passieren konnte. Mir schien es ein guter Weg, dafür einen Detektiv zu wählen. Im Nachhinein erscheint das fast ein wenig arrogant, aber wir Engländer hatten immer schon eine Liebesaffäre mit Berlin – Isherwood, Auden, Spender, Le Carré, Len Deighton und David Bowie, um ein paar zu nennen. Kein Berliner zu sein, das erschien mir nicht unbedingt als disqualifizierend, um über Berlin zu schreiben.

AM: Gab es irgendwo Einflüsse? Inspirationen?

PK: Nun, ganz bestimmt alles von beidem. Chandler, natürlich. Dürrenmatt, vermutlich. Ich war mir aber ganz sicher, dass meine Bücher anders als alle andere sein sollten. Ich wollte sie auf besondere Weise und eben einzigartig von Berlin sprechen lassen.

AM: Berlin vor dem Mauerfall – kannten Sie auch den östlichen Teil und wie dessen Bewohner waren?

PK: Den Osten habe ich öfter besucht, meist auch der Komischen Oper wegen, weil sie erschwinglicher und besser war als die Berliner Oper. Wann immer ich heute die S-Bahn an der Friedrichstraße nehme oder Unter den Linden spaziere, erinnere ich mich, wie ich dasselbe 1988 getan habe. Nachts. Die Menschen von heute haben keine Vorstellung davon, wie verlassen Ost-Berlin um diese Zeit war. Was für ein Ödland. Ich bin voller Bewunderung, wie diese Stadt wiederaufgebaut worden ist. Andererseits sollte ich darüber nicht so verwundert sein, die Unverwüstlichkeit der Berliner ist schließlich historische Tatsache.

AM: Was ist ein Detektiv in einer totalitären Gesellschaft? So etwas wie die letzte Zuflucht für die Wahrheit?

PK: Ja, absolut. Ganz genau. Forensik lügt nicht. Vielleicht ist es auch die letzte Lizenz für eine bestimmte Form von Widerstand. Polizisten konnten Dinge sagen, die sich niemand sonst erlauben konnte. Bernie Gunther ist dafür ein gutes Beispiel, denke ich.

AM: Als sie Bernie nach fast 15 Jahren wiederbelebten, was hatte sich da verändert? Was war zum Bleiben bestimmt?

PK: Mich hat einfach sein Charakter wieder angezogen. Da war so viel mehr Material, von damals und erst recht nach der deutschen Wiedervereinigung. Und ich denke, da gab es eben auch meinen Appetit auf Berlin. Wenn ich könnte, würde ich dort leben. Vermutlich irgendwo im Grunewald, in einem dieser großen wilhelminischen Häuser am Rande eines Sees.

AM: Mittlerweile können Sie Bernie Gunther überall hin schicken und wir Leser würden es glauben – war das für Sie selbst auch eine Überraschung?

PK: Er ist eine Art Fliegender Holländer. Ich mag es, ihn rund um die Welt zu schicken, wenn es sich ergibt. Aber er ist ein Berliner. Das ist ein Bewusstseinszustand, also prägt immer Berlin diese Bücher.

AM: Kann ich fragen, wie Sie ihre Bernie-Romane bauen?

PK: Ich arbeite sozusagen zwischen den Zeilen der Geschichte. Das ist für mich die einzige Art, zu arbeiten. Ich brauche reale Fakten und reale Historie, um daraus Fiktion zu machen. Reale Personen ebenso, davon werden Sie immer viele in meinen Romanen finden. Das macht es interessant für mich selbst.

AM: Ja, und dann das vielleicht Erstaunlichste: Wie recherchieren Sie?

PK: Ich lese viel. Ich bin vor Ort. Sie werden mich oft im Hotel Adlon finden, im meiner bescheidenen Meinung nach besten Hotel der Welt. Ich diskutiere viel mit meiner Frau, die ebenfalls viel über Deutschland weiß und über Berlin geschrieben hat. Zurzeit entwickle ich so allmählich eine neue Geschichte.

AM: Gab es jemals ernsthafte Beschwerden?

PK: Keine ernsthaften. Die letzte Rüge, die ich erhielt, stammte von einem Mann aus München, der mir erklärte, dass in einem meiner Bücher die Trambahn auf einer bestimmten Münchner Route fälschlicherweise als Doppeldecker beschrieben worden war. Ich denke, es ist gut zu wissen, dass das Eindecker waren. Aber ist das etwas Ernsthaftes?

AM: Bekommen Sie Reaktionen von deutschen Lesern?

PK: Eher selten. Ich denke, die Deutschen wollen im Allgemeinen lieber mit der Zukunft vorankommen als zu viel Zeit mit dem Nachdenken über das Gestern verbringen. Die Engländer, denke ich, sind weit mehr an Geschichte interessiert als die Deutschen. Nicht umsonst zeigt die Geschichte uns, wie groß England einmal war. Deutschen ist so etwas vermutlich eher peinlich.

AM: Was können wir von Bernie in der Zukunft erwarten?

PK: Ich bin mir da noch nicht sicher.

AM: Gibt es Pläne, Bernie auf die Leinwand zu bringen?

PK: Ich hoffe es. (HBO, der amerikanische Kabelproduzent, der auch „Boardwalk Empire“ verantworte, hat für Tom Hanks die Filmrechte für die „Berlin Noir“-Trilogie gekauft.)

AM: Falls Bernie Gestalt annimmt, dessen Gesicht Sie ja niemals beschreiben, wer könnte das sein?

PK: Ich würde gerne Michael Fassbinder als Bernie Gunther sehen.

AM: Danke für Ihre Geduld.

PK: Pleasure.

Alf Mayer

Philip Kerr: Böhmisches Blut (Prague Fatale, London 2011). Aus dem Englischen von Juliane Pahnke. Wunderlich/Rowohlt 2014. 478 Seiten, 19,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr zum Autor Philip Kerr und seinen in deutscher Fassung erschienenen Romanen.

Die Bernie-Gunther-Romane

March Violets, 1989 (Feuer in Berlin, rororo 1995), spielt 1936.
The Pale Criminal, 1990 (Im Sog der dunklen Mächte, rororo 1995), spielt 1938.
A German Requiem, 1991 (Alte Freunde, neue Feinde, rororo 1996), spielt 1947 im besetzten Deutschland und Österreich.
Die drei Romane erschienen 1993 als Sammelband „Berlin Noir, dann war schwieg Bernie Gunther eine lange Zeit.
The One from the Other, 2006 (Das Janusprojekt, Rowohlt 2009), spielt 1949 in Dachau und München.
A Quiet Flame, 2008 (Das letzte Experiment, Wunderlich 2009), handelt 1950 in Buenos Aires und 1932 in Berlin.
If the Dead Rise Not, 2009 (Die Adlon-Verschwörung, Wunderlich 2011), hat Berlin 1936 und Havana 1954 zum Thema.
Field Grey, 2011 (Mission Walhalla, Wunderlich 2011), spielt 1954 auf Kuba, in New York und Deutschland, 1941 in Minsk – Bernie bezieht sich auf diese Erfahrungen einige Male im nächsten Roman.
Prague Fatale, 2011 (Böhmisches Blut, Wunderlich 2014), spielt 1941 in Berlin und in und um Prag.
A Man Without Breath, 2013, führt Bernie 1943 nach Weißrussland.

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