Packender Schicksalstanz
Amélie Nothombs „Im Namen des Lexikons“ ist ein absurdes Spiel mit den Irrungen und Wirrungen des Lebens.
Zuerst ist alles fast normal. Lucette, ein junges Mädchen, heiratet Fabien, einen jungen Mann. Beide lieben sich. Vielleicht sind sie noch etwas zu jung, doch Lucette ist mit 19 im achten Monat schwanger. So märchenhaft es beginnt, die Realität holt sie ein: Streit, Unverständnis, Entfremdung. Lucette konzentriert sich ganz auf das Kind in ihrem Bauch. Ein Ausnahmekind, davon ist sie überzeugt. „Es wird ein Tänzer oder eine Tänzerin“, verfügt sie, den Kopf voller Träume.
Dann, eines Nachts, glaubt Lucette zu erkennen, dass der mittelmäßige, müßiggängerische Fabien eine Bedrohung für das Wunderkind ist und bringt ihn um. Im Gefängnis gebiert sie eine Tochter, um sich kurz darauf mit einem Laken zu erhängen. Sie will dem außergewöhnlichen Leben ihres Kindes nicht im Wege stehen, dem sie nichts weiter hinterlässt, als einen außergewöhnlichen Namen: Plectrude. Keinen Brief, keine Begründung, „der Vorname ihrer Tochter war ihr Testament“.
Diese gewaltsame, höchst dramatische Zuspitzung erzählt Amélie Nothomb mit einer Leichtigkeit als handelte es sich um ein Kindermärchen, in einem Schwindel erregenden Tempo, als gäbe es nirgends nachzuhaken, so naiv realistisch als wäre das alles ganz normal. Und in der Tat, in Nothombs zwischen Realität und Absurdität changierendem Roman Im Namen des Lexikons ist Gewalt nebensächlich, wie bei ihr überhaupt das Unwahrscheinliche die Regel, das Grausame surreal, das Ungerechte lustig und das Besessene faszinierend sind. Ob ein null- bis dreijähriges Kind die Welt so intelligent erfassen kann wie ein Philosoph (Metaphysik der Röhren 2002) oder ein vermeintlich entstelltes Mädchen auf einer Insel festgehalten wird, damit ihr sadistischer Wärter ihre Schönheit ganz allein betrachten kann (Quecksilber 2001), in ihren schnellen, einfallsreichen, geschickt komponierten Romanen erfüllt Nothomb die Sehnsucht des Menschen nach außergewöhnlichen Geschichten. „Wenn wir uns nach einem intensiven und aufregenden Leben sehnen, brauchen wir es bloß zu erfinden – spektakulär und voller großartiger Gefahren.“
Auf diese höchst spektakuläre Weise im Gefängnis zur Welt gekommen wächst Plectrude in der Familie ihrer Tante auf. Sie ist von Anfang an kein normales Kind. Ihre Sprache erlernt sie nach taktischen Gesichtspunkten, Essen erforscht sie wie ein Feinschmecker, in ihren Mutproben riskiert sie ihr Leben und in ihren Phantasien lebt sie in einer Märchenwelt. Doch vor allem weiß sie ihre unwahrscheinlich schönen Augen, ihren bedeutungsvollen Blick einzusetzen, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Damit gewinnt sie zwar die bedingungslose Liebe ihrer Zieheltern und die Bewunderung der Mädchen auf der Tanzschule, aber auch die Verachtung ihrer Mitschüler und den Hass der Klassenlehrerin. Kurz bevor sie an der Schule zu scheitern droht, tut sich für Plectrude eine Tür des Schicksals auf: sie wird an der bedeutendsten Ballettschule Frankreichs zugelassen.
Im Tanz scheinen sich Plectrudes Sehnsüchte nach dem Wunderbaren zu erfüllen. Doch der Weg zum Ziel führt über die Askese. Unglaublich, wie sich die dreizehnjährigen Mädchen von den Ballettlehrerinnen erniedrigen lassen, wie sie bereit sind, Nahrung als Sünde anzusehen, um bei einer Körpergröße von 1,55 Metern weniger als 40, am besten 35 Kilo zu wiegen, wie sie Tabletten nehmen, um die Pubertät zu verzögern, wie sie auf alle Freuden des Teenagerlebens verzichten und jeden Tag bis zur totalen Erschöpfung trainieren, und das alles nur, um eines Tages das Gefühl des Schwebens, den Wahn des Abhebens, die Ekstase im Tanz zu erfahren. Die Eindringlichkeit, mit der Nothomb diese einer Drogensucht vergleichbare Manie der Mädchen schildert, zeigt die Qualitäten ihres intensiven und aufs wesentliche Detail konzentrierten Stils. Problemlos verfügt die Erzählerin über alle Perspektiven, alle Gedanken, ist mal sehr nah an den Figuren dran, mal klassisch allwissend. So kann der Text, so lustig oder satirisch er eben noch gewesen ist, schon auf der nächsten Seite einfühlend oder fanatisch sein.
Eine Hand voll überraschende Wendungen ihres schon vor der Geburt vorgezeichneten Schicksals hält Im Namen des Lexikons noch für Plectrude bereit, bevor sie schließlich der Autorin Amélie Nothomb selbst begegnet. In einer Art absurdem Höhepunkt analysieren die beiden Plectrudes Schicksal. Die implizite Autorin versucht ihre Figur so lange davon zu überzeugen, dass sie zur Mörderin geboren ist, bis sie tatsächlich zu einer wird, um dem Gerede ein Ende zu bereiten: Plectrude tötet Nothomb, ihre Erfinderin.
Natürlich muss man das nicht ganz ernst nehmen. Nothombs Bezug zur Realität ist oft verschachtelt, meist verspielt, selbst da, wo sie sozialkritisch wird. Vor allem aber ist die hochproduktive belgische Autorin, die seit 1992 jedes Jahr ein Buch veröffentlicht hat, eine Autorin im Dienste der Geschichten, die sie erzählen will. Das Vergnügen, unerhörte Begebenheiten zu erfinden, prägt ihr Leben wie ihre Romane.
Markus Kuhn
Amélie Nothomb: Im Namen des Lexikons. Aus dem Französischen von Wolfgang Krege. Diogenes 2003. 148 Seiten. 16,90