Was ein Chihuahua alles fressen kann oder Jäger machen keinen Urlaub
– „Den Verkommenen, Maßlosen und Abtrünningen“ ist „Krieg der Bastarde“ von Ana Paula Maia gewidmet. Gut, dass Brasilien dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, sonst hätten wir diesen kapitalen Roman womöglich verpasst. Auf dem WELTEMPFÄNGER N° 20 ist sie schon. Eine Besprechung von Christiane Quandt.
Nichts in diesem Roman scheint zufällig, jedes scheinbar noch so nebensächliche Detail wird wieder aufgegriffen und bekommt einen Sinn. Der Erzähler Dimitri hat eigentlich am wenigsten mit der ganzen Sache zu tun, er wollte doch nur mit seinem Stiefbruder Edgar Wilson zur Mutter fahren. Stattdessen landen die beiden in Ushuaia, in Feuerland. Durch eine Reihe absurder und dennoch plausibler Verwicklungen, Figuren und Begegnungen wird eine Tasche voll Kokain zu einer Tasche voll Geld und ein bisschen Kokain. Dabei spielt die Prothese einer Filmregisseurin eine maßgebliche Rolle, denn hier wird erst das Geld, dann das Kokain versteckt, das der Pornodarsteller Amadeu dringend für seine verschuldete Freundin Gina braucht. Gina ist Boxerin und hat sich dummerweise bei den falschen Leuten Geld geliehen; jetzt steckt sie in Schwierigkeiten. Amadeu wiederum kommt bei einem tragikomischen Autounfall ums Leben, kann aber seinem frischen Mitbewohner Horácio noch ein Feuerzeug mit einem Drachen drauf geben und ihm sagen, dass das (gemeint ist die Tasche mit dem Geld, aber das kann Horácio nicht wissen) für sie (gemeint ist Gina, aber das kann er ebenso wenig wissen) gedacht sei.
Die verlorene Tasche
Eine Weile scheint es, als wäre die Tasche in Amadeus Versteck unter den Dielen im Dachboden gegenüber Horácios Wohnung verschollen, denn weder der neugierige Horácio noch Dimitri, der dort einzieht, noch Gina, die etwas zu ahnen beginnt, finden das Versteck. Derweil sind Pablo und Edgar hinter Gina her, die einen bekannten Kämpfer aus der Oberschicht bei einem illegalen Hinterhofkampf ins Koma geboxt hat, doch durch die mehr oder minder gute Organisation des Boss-of-it-all Zeferino und seiner mehr willigen als fähigen Vollstrecker Pablo und Edgar finden sich zuletzt alle, die noch leben, auf dem morschen Dachboden ein, der in sich zusammenstürzt und sowohl den nervenden Vermieter Lozonni als auch den Chihuahua, den Pablo kurzerhand mitnimmt, als dieser sein Piercing verschluckt, werden mit Kokain und Geldscheinen überschüttet. Im Eifer des Gefechts stirbt Lozonni an der physikalischen Einwirkung eines Basketballs und natürlich stirbt blöderweise noch ein Polizist, weil er zur falschen Zeit an der falschen Tür geklingelt hat und sich zu sehr für die Bücher der Bibliothek interessiert. Kurz: Es gibt eine Menge Leichen, alltägliche Probleme von Gangstern, die sich in der Tür irren, einen Chihuahua mit Verstopfung, Drogen, Geld, Herzinfarkte, einen arroganten argentinischen Musiker und eine Menge komplexe Verwicklungen, die am Schluss nur etwa die Hälfte der Figuren am Leben lassen.
Wahnwitz im Sauseschritt
Ana Paula Maia ist in ihrem Heimatland Brasilien für ihre raffinierten Texte bekannt, die in einem Pulp-Milieu spielen. Ihre Figuren bleiben trotz der harten Gewalt nahezu alle menschlich und bieten Einfühlungsflächen, während sie die größten Grausamkeiten begehen. Das rasche Erzähltempo hält einen ebenso wach wie die immer wieder überraschenden und witzigen Wendungen und Details, die größtenteils auch in der deutschen Übersetzung funktionieren. In der Welt, in der „Der Krieg der Bastarde“ spielt, gibt es zwar keine guten Menschen, aber auch nicht wirklich schlechte. Alle sind getrieben von menschlichen Bedürfnisse, äußeren Umstände und dem Willen, irgendwann ein besseres Leben zu führen. Alle Figuren haben ihre funktionierende Logik und es gelingt der Autorin, alle, zum Teil wirklich absurden Entscheidungen nachvollziehbar darzustellen. Jeder noch so harte Verbrecher zeigt auch mal eine ‚weiche‘ Seite. Und der Zufall spielt allen irgendwann einen Streich.
Gesellschaftskritik?
Es fällt auf, dass eine international anerkannte Filmregisseurin diejenige Figur ist, die den Platz der ‚rechten Hand‘ Zeferinos einnimmt und nicht etwa irgendein schmieriger Gangster. Auch die meisten Polizisten, die auftauchen, sind so korrupt, dass zwei davon so weit gehen, sich für 27 000 Real gegenseitig zu bedrohen und, ja, sogar umzubringen. Sicherlich wird die Verquickung von kriminellem Milieu und Teilen der brasilianischen Oberschicht nicht zufällig thematisiert – man kommt aber wohl kaum darum herum, wenn man sich, wie Ana Paula Maia, in brasilianischen Gefilden der mehr oder weniger gut organisierten Kriminalität bewegt.
Intertextualität
Gewitzt und unaufdringlich finden kleine Zitate aus und Anspielungen auf Weltliteratur Eingang in den Roman. So kommt der Polizist, der dummerweise auch noch getötet werden muss, in den Salon, um die Bibliothek des toten Lozonni zu bewundern, der sich just hinter dem Regal befindet. Und während Leutnant Miranda noch über „Verbrechen und Strafe, vom Russen“ schwadroniert, hat er auch schon ein Hackebeilchen im Schädel stecken – wie die Schwester der alten Frau, die Raskolnikow töten muss, muss auch Miranda sterben. Auch der Vergleich zwischen dem Erzähler Dimitri, der auf dem schäbigen Dachboden voller Taubendreck lebt und dem altgriechischen Diogenes ist alles andere als weit hergeholt. Doch ist dies nicht das einzige Schmankerl für den Bildungsbürger, das dieser Text bereithält.
Schweizerische Kaminfeuer
Tatsächlich ist Abbas „Fernando“ der Soundtrack zum ersten Mord Edgar Wilsons, und es kommt bei einigen Gelegenheiten vor, dass ein (ebenso) geeigneter Soundtrack (mit oder ohne Erfolg) im Radio gesucht wird. Mittlerweile ist zumindest Edgar allerdings auf die Klänge schweizerischer Kaminfeuer umgestiegen, denn das entspannt ihn. Na, wenn es ihm hilft, wird es schon das Richtige sein!
Ein nicht zwingend schweizerisches Kaminfeuer wäre auch ein guter Ort, diesen wunderbar witzigen Roman zu lesen.
Christiane Quandt
Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde
(A guerra dos bastardos, 2007) Roman. Deutsch von Wanda Jakob. München: A1 Verlag 2013. 224 Seiten. 18,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und zur Autorin. Foto: Marcelo Correa, Verlagshomepage.