Geschrieben am 19. Januar 2011 von für Bücher, Litmag

Angelika Reitzer: unter uns

Bild mit Rehfamilie

– Mit ihrem zweiten Roman „unter uns“ trifft Angelika Reitzer mitten hinein ins Hier und Jetzt. Das Leben unserer Generation ist eine einzige fragile Angelegenheit; Zukunft demonstrieren ihre größte Herausforderung. Von Senta Wagner

Clarissa gehört zu einer überschaubar großen Familie, sie ist aber aus dem, sagen wir, Bild einer Familie herausgekippt. Es wird zu Beginn des Romans das Geburtstagsfest der Mutter gegeben, der die Eltern, die Geschwister und weitere Angehörige zusammenbringt. Gewöhnlich sind Feste zum Feiern da. Oder wie in diesem Fall zur raschen Verbreitung von Neuigkeiten. Vater und Mutter verabschieden sich, verkünden eine neue Lebensform: den Ausstieg aus dem eigenen Leben, den Verpflichtungen, der Familie: „… keine Arbeit mehr, keine Gäste mehr, vorbei mit den Sorgen.“ Weg mit der Verantwortung. Wobei mit der elterlichen Verantwortung war das sowieso so eine Sache. Die einzigen Aussteiger aus unserer Kommunikationsgesellschaft sind sie freilich nicht. Vielleicht geht es in unserer Gegenwart mehr denn je ums Innehalten? Echt erschüttert ist denn auch keiner der Gäste.

Das Fest beginnt, und Reitzer hat dafür einen hübschen Einfall. Sie verwandelt in der Beobachtung durch Clarissa die Gästeschar in einen Reigen aus Rehen, die nach einem Spaziergang aus dem Wald ins freie Feld treten. In diesem Moment stößt Clarissa hinzu, bleibt in der Ferne, den Programmpunkt „Wiederaufnahme der familiären Beziehungen“ hat sie versäumt. Es ergibt sich ein disparates Bild von einer Familie.

Alles so lose im Leben

Foto: (c) Lukas Beck

Der 39-jährigen in Wien lebenden Autorin ist ein kunstvoller Einstieg in ihren Erzähltext gelungen. Mit dem geschmeidigen Fluss ihrer Sprache werden wir schnell vertraut, sie ist unsentimental, klar und direkt auf der einen, leise, berührend poetisch auf der anderen Seite. Dass sie sich die Doppelpunktmanie von Friedericke Mayröcker abgeguckt haben soll: stört nicht. Stellen zum Innehalten sind das, siehe oben. Erzählerisch ist der glückliche Leser gefordert, manchmal berichtet Clarissa in der Ichform und lotst ihn durch die Geschichten, das ist entgegenkommend. Die Autorin spart nämlich weder mit Figuren noch werden Perspektiven- und Zeitebenen wesentlich gebändigt. Die Kapitel hängen eher lose zusammen, sie springen von Paaren, zu Expaaren und Familienmitgliedern, die alle um die vierzig rum und irgendwie miteinander verbandelt sind. Sie haben grob gesagt alle was Akademisches gelernt, haben einen Job oder keinen, und die Lebenslagen sind mehr oder weniger mickrig. Was sie sonst machen ist reden, denken, träumen, sich treffen, sich nicht treffen. Innere Welten sind darüber zu erahnen. Gesellschaftskritik macht sich am Rande breit mit Studentenprotesten und Globalisierungsdemonstrationen.

Abgemachter Fixpunkt in „unter uns“ ist Clarissa, ganz stark sind daher auch die Kapitel, in denen sie spricht, beobachtet, sich erinnert – da fließt alles in eins und fängt langsam an zu gären. Es geht in „unter uns“ um das Fragile, das Lose von Beziehungen in unserer hyperaktiven, störungsanfälligen Gesellschaft. Auch um das Fremde in der eigenen Familie, das besonders Clarissa geprägt hat: zum Beispiel das Gefühl Als-ob-man-zusammengehört.

Clarissa ist also aus dem Bild herausgekippt, und zwar nicht nur weil sie zu spät zum Fest gekommen ist, sondern auch weil sie sich als Versagerin im Job und in der Beziehung längst zurückgezogen hat. Zukunft, adieu? Sie führt ein merkwürdiges Dasein mit, natürlich, loser Familienanbindung. Sie behaust ein „kleines Zimmer im Halbstock, der doch ein Keller war“ im riesigen Haus ihrer Freunde Klara und Tobias, die erst ein, dann zwei Kinder haben. Clarissa ist quasi auf du und du mit den Tieren im Erdreich. Über ihr eine intakte, glückliche Familie, es ist zum Jubilieren. Der Wert der Familie noch ein Wert. Wenn da nicht Clarissa durch ihre schiere abwesende Anwesenheit am Fundament kratzen würde. In dem Versuch, Ordnung in ihr Leben zu bringen, verliert sich Clarissa. „Den Beginn suchen, darum ging es meistens, in den Anfang hineinfinden.“ Wir kennen das. Im Fall von Clarissa bleibt kein gutes Gefühl.

Senta Wagner

Angelika Reitzer: unter uns. St. Pölten, Salzburg: Residenz Verlag 2010. 279 Seiten. 21,90 Euro. Zur Leseprobe. Zur Homepage von Angelika Reitzer. Reitzer bei Wikipedia