Geschrieben am 7. Juli 2004 von für Bücher, Musikmag

Ashley Kahn: A Love Supreme

Durch Musik erzeugte Spiritualität und Transzendenz

Große Musik auf jeden Fall, so lernen wir auch dieses Mal wieder von Kahn, wird noch spannender, wenn man sich um ihre Bedingungen kümmert. Kontexte schmälern nicht die Bedeutung eines „Genies“, Kenntnisse bereichern die Freude am Kunstwerk, und auch Transzendenz steht auf ganz irdischen Füßen.

Was einmal erfolgreich war, darf durchaus auch ein zweites Mal funktionieren. Ashley Kahns wunderbare Studie über das making of Miles Davis` kapitalem Album „Kind of Blue“ hatte die Frage schlüssig beantwortet, ob ein ganzes Buch für eine einzige Schallplatte nicht ein unnötiger Aufwand sei. Natürlich nicht – als ob es nicht Millionen von Büchern über einzelne Bücher geben würde. Die nennt man dann kanonisiert, und alle fünfzig Jahre bricht ein Sturm im Wasserglas los, was denn zurecht in einen solchen Kanon hineingehört und was nicht. Bei Tonträgern mit improvisierter Musik – sozusagen der konservierte Widerspruch an sich – liegt der Fall ein bisschen komplizierter. Insofern hat Kahn schnell reagiert, und ein zweites Buch nachgeschoben, das sich ebenfalls mit einem Meilenstein der Jazz- ( und damit der Musik-) Geschichte beschäftigt, der ohne Diskussion in einen „Kanon“ gehört: John Coltranes „A Love Supreme“, aufgenommen am 9. Dezember 1964, veröffentlicht 1965. Nach diesen beiden Alben wird es vermutlich mit einem breiteren Konsens eng, weil dann, jazzhistorisch und geistesgeschichtlich gesehen, die Debatten um Distinktionen, Dogmen, Schismen und sonstige -ismen losgingen und das jeweilige „Buch zur Platte“ ersteinmal eine Begründungsdiskussion führen müsste. Das wäre per se nicht schlimm, ist aber nicht mehr für das berühmte „breite Publikum“ tauglich.

Dabei war auch „A Love Supreme“ zunächst einmal nicht unbedingt ein mainstream-Knaller.

Die Musik der vier Herren – John Coltrane, McCoy Tyner, Jimmy Garrisson und Elvin Jones – stand in mancherlei Hinsicht quer zu allen Strömungen der Zeit. Eine straffe vierteilige Struktur mit aufeinanderbezogenen Elementen und eine Binnenfreiheit innerhalb dieses Rahmens, die unerhört war, plus eine schier unglaubliche Energie des Vortrages machten das Album für die zeitgenössischen Ohren rundum sperrig. Coltranes wahnwitzige Idee, im ersten Satz einen einfachen Blueslick aus vier Tönen nonstop siebenundreißig Mal hintereinander von einer Tonart in die nächste zu transponieren, gab nicht nur dem Komponisten Steve Reich Rätsel auf („What is he doing?“), sondern erst recht dem musiktheoretischen unbedarften Hörer in uns allen. Der war eher von der ungeheuren Hingabe, der Inbrunst und der Intensität der Musik beeindruckt – und so galt „A Love Supreme“ bald als Prototyp von durch Musik erzeugter Spiritualität und Transzendenz, wie man sie seit den grossen Oratorien des 18. (und noch frühen 19.) Jahrhunderts Musik nicht mehr unterstellt hatte. Coltranes Persönlichkeit und ein Gedicht (oder Gebet oder wie immer), das man auf der vorderen Klappe des Originalalbums abgedruckt hatte, unterstrichen diesen metaphysischen Zug des Konzepts noch. Die Rezeptionsgeschichte von Coltranes Musik ab dieser Phase (dem ja noch die Kollektivorgie „Ascension“ folgen sollte), deren Gralshüterin seine zweite Frau Alice werden sollte, nahm diesen Aspekt freudig auf: „A Love Supreme“ begründete die religiös-transzendente Unterfütterung ehemals „populärer“ Musik und wurde zu einem der wichtigsten Bausteine ihrer Nobilitierung.

Ashley Kahn, nach eigenen Worten „an agnostic and diehard rationalist“, macht gar nicht erst den Versuch, diesen Aspekt des Werkes zu leugnen, aber er holt es mit seiner bewährten Methode aus den luftigen Höhen herunter: Durch seine minutiösen Kontextstudien, durch klares Benennen und Beschreiben des Artefakt-Charakters. Wie schon im „Kind of Blue“-Buch rekonstruiert er mit großer Kompetenz und begrüßenswerter Freude am signifikanten Detail das musikalische Umfeld der Zeit (was trieben Ornette Coleman, Miles Davis, Charlie Mingus und die anderen wichtigen Innovatoren?), die künstlerischen Biographien aller beiteiligten Musiker (mit wem haben sie gespielt, welche waren ihren Qualitäten, warum wollte Coltrane genau diesen Musiker und nicht einen anderen?), die Strategie der Plattenfirma (Prestige) und des Produzenten Bob Thiele und vor allem die Rolle des Toningenieurs. Der war in diesem Fall Rudy van Gelder. Eines der wichtigsten und schönsten Kapitel des Buches ist diesem Mann gewidmet, dessen Arbeit wir heute noch sofort erkennen und hören, obwohl wir nicht exakt beschreiben können, warum. Von van Gelder stammen ungezählte Blue Note-, Prestige- und Impulse-Alben, die alle seinen magischen Sound haben. Ein Denkmal für diesen großen Künstler hinter dem Mischpult war dringend fällig.

Große Musik auf jeden Fall, so lernen wir auch dieses Mal wieder von Kahn, wird noch spannender, wenn man sich um ihre Bedingungen kümmert. Kontexte schmälern nicht die Bedeutung eines „Genies“, Kenntnisse bereichern die Freude am Kunstwerk, und auch Transzendenz steht auf ganz irdischen Füßen.

Thomas Wörtche

ab Oktober auf deutsch:
Ashley Kahn: A Love Sureme – Die Geschichte eines legendären Jazzalbums
Rogner und Bernhard , ab Oktober 2004
Aus dem Amerikanischen von Michael Hein
ca. 260 Seiten, ca. 85 Abbildungen, geb.,
ca. Euro 19,-
ISBN 3-8077-0176-1

auf englisch:
Ashley Kahn: A Love Supreme – The Creation of John Coltrane’s Classic Album
Taschenbuch auf englisch – 288 Seiten –
Granta Books 2003
ISBN: 1862076022