Geschrieben am 25. März 2004 von für Bücher, Musikmag

Ashley Kahn: Kind of Blue

Erfolgreich und von höchster Qualität

Kahns Buch ist eine Kontextstudie, in deren Mittelpunkt das Kunstwerk steht.

Als ich vor zwei Jahren die Originalausgabe von Ashley Kahns grandiosem Buch über eine einzige Schallplatte, eben Miles Davis` „Kind of Blue“, auf den Schreibtisch bekam, durchzuckten mich zwei neidgrüne Blitze: Erstens – warum hast du das nicht selbst geschrieben? Zweitens – warum kannst du es nicht verlegen? Blitz zwei hat sich erledigt, denn die deutsche Ausgabe sieht angemessen schön aus und ist dito angemessen schön übersetzt. Blitz eins nagt auch nach nochmaliger Lektüre immer noch, weil „Kind of Blue“ nicht nur ein spannendes, unverkrampft kluges und lehrreiches Buch ist, sondern auch ein mustergültiges.

Kahns Buch ist eine Kontextstudie, in deren Mittelpunkt das Kunstwerk steht. Er dröselt nicht nur ganz genau auf, was an den beiden historischen Daten, dem 2. März und dem 22. April 1959 in der 30th Street 207 East, Manhattan, New York City passiert ist, sondern er beschreibt auch, wie es dazu kommen konnte: Musikalisch, personell, ökonomisch. Das hört sich so selbstverständlich an, ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass zur Zeit entweder die Kontexte das Kunstwerk überwölben, oder das Kunstwerk gegen seine Bedingungen absolut gesetzt wird. Insofern ist Kahns Studie im besten Sinn altmodisch, weil dialektisch. Selbst profanste technische Details (Anordnung und Typus der Mikrophone, Anzahl der Spuren, das verwendete Bandmaterial etc.) werden genau untersucht und in ihrer Bedeutung für eines der aufregendsten Jazzalben aller Zeiten gewürdigt. Das hört zwar kein Mensch, naja, vielleicht nur 0.1% aller Hörer und Hörerinnen einer der bestverkauften Jazzplatten ever, und es erklärt auch garantiert nicht die Magie der eingespielten Musik, aber solche Details sind nichtsdestotrotz konstitutiv wichtig.

Genauso wichtig wie Kahns Porträts der beteiligten Musiker (die da waren: Miles Davis, John Coltrane, Julian Adderley, Paul Chambers, James Cobb, Bill Evans und Wynton Kelly) und deren musikalischer Entwicklung, und seiner Skizze der Musikgeschichte, die im Jahre 1959 eben Miles Davis` Konzept der „Modalität“ auf dem Höhepunkt zeigt. Kahn beschreibt kompetent den Weg dahin, und dann auch weiter den Weg fort zu neuen Ufern, wieder für alle der beteiligten Musiker. Dazu kommen dann noch Details über das Marketing der Platte (denn was nützt das schönste Kunstwerk, wenn es nicht an die Leute kommt) und – ganz wichtig – über die Rezeption, ohne die auch das raffinierteste Stück Kunst irgendwann museal wird.
Wobei wir bei dem ganzen Daseinsgrund des Buches wären.

„Kind of Blue“, die Platte, ist offensichtlich trotz ihres stolzen Alters von 43 Jahren, kein bisschen museal. Ich habe ungefähr 10 Vinyl-Exemplare in meinem 48jährigen Leben zuschanden gespielt und höre immer noch neue Nuancen. Selbst Hohn und Spott hauptberuflicher Wadlbeißer prallen an dieser Musik ab, die ein ganz seltener Fall von gelungener Quadratur des Kreises ist: Erfolgreich und von höchster Qualität. Kurz, etwas, das man gerne als „zeitlos“ bezeichnet. Aber die Rede von der Zeitlosigkeit von Kunst suggeriert auch die Unwichtigkeit von Kontexten. Deren Wichtigkeit jedoch hat Ashley Kahn gerade brillant dokumentiert. Wenn sich Hunderttausende von Menschen immer noch an „Kind of Blue“ vermeintlich kontextlos erfreuen, dann spricht das für eine gewisse Normativität der Musik, die immer noch gültig ist. Sicher nicht ewig und sicher nicht mit dogmatischem Anspruch, aber als immer noch funktionierender Maßstab. Und auch die Produktionsbedingungen dafür sind dann noch erstrebenswert, auch wenn sie hoffnungslos veraltet scheinen mögen. Dass sie veraltet sind, ist, so gesehen, ein Verlust.

Aber da sehen Sie mal, wohin ein Buch über eine Schallplatte alles führt….

Von Thomas Wörtche

Ashley Kahn: Kind of Blue. Die Entstehung eines Meisterwerks. Dt. von Michael Hein. Hamburg 2002: Rogner & Bernard bei Zweitausendeins. 273 Seiten. 19 Euro.