Auf E-Tour (1)
– Neue digitale Originalausgaben, frisch durchgewischt von Sophie Sumburane.
Auf der Suche nach dem nächsten richtig guten Text – nach guter Literatur – durchforste ich regelmäßig die Feuilletons, Blogs und Bestenlisten. Auf so manche Perle bin ich so bereits gestoßen oder gestoßen worden, doch eines fällt mir auch immer wieder auf: Wo sind die E-Book-Originale?
Gibt es keine tollen literarischen E-Books, oder gibt es unter den Rezensenten schlicht keine E-Book-Leser?
Ich glaube der Grund dafür liegt nicht bei fehlender Qualität.
So manch ein Kritiker und Journalist würde sie gern sofort wieder einstampfen – erinnern wir uns nur an die Polemik des Buchgestalters Friedrich Forssmann im Suhrkamp Blog „Logbuch“ (mit dem im Rahmen der Electric Book Fair erschienenen E-Book der gesammelten Entgegnungen ist darauf bereits kenntnisreich geantwortet worden). Und für mich steht eh fest, der Träger, auf dem Literatur vermittelt wird, ist ziemlich Wurst. Es geht um den Text und seine Qualität. Ob nun ausgedruckt, von Herrn Forssmann sorgfältig gestaltet, als Liebhaberausgabe mit Schmuckeinband oder als Datei auf meinem Reader – dies ändert an dem geschriebenen Wort nichts. Und um das geht es mir bei meinen Leseerlebnissen.
Aboud Saeed: der klügste Mensch im Facebook
Ich durchsuche also das Netz nach digitalen Texten, Literatur für den Reader. Schon im letzten Jahr bin ich dabei als Erstes auf mikrotext gestoßen. Der von Nikola Richter Anfang 2013 gegründete Verlag publiziert ausschließlich E-Books. Alle drei Monate zwei Texte zu einem festgelegten Thema. Der bis heute wohl bekannteste Titel des Verlags ist Aboud Saeeds „Der klügste Mensch im Facebook“, mit dem Nikola Richter zusammen mit dem Essay von Alexander Kluge „Die Entsprechung einer Oase“ unter dem Thema „Freiheit im Netz“ an den digitalen Start ging.
Und bei Saeeds Text zeigt sich auch direkt sehr schön, warum ein E-Book nicht einfach nur eine elektronische Version eines Printbuches sein muss. Aboud Saeed ist in seiner Heimat Syrien durch seine Statusmeldungen bei Facebook zu so etwas wie einer Kultfigur geworden, und es ist ein Glück für die Leser, dass Nikola Richter ihn entdeckt und verlegt hat.
Die kurzen Meldungen sind jeweils mit Datum, Uhrzeit und der Anzahl der „Likes“ versehen, was es dem Leser ermöglicht, sie in das Zeitgeschehen des Syrischen Bürgerkriegs einzubetten. Mittendrin ist man mit Aboud Saeed. Dem Text wohnt eine ganz eigene Dynamik inne, die sich durch die reine Konzentration auf das Geschriebene entwickelt. Saeeds Meldungen sind Abbild der Gedanken eines jungen Mannes im Bürgerkrieg, lyrisch und robust zugleich, mitten im Spannungsfeld von Leben und Krieg: „Wie ist das Leben bei euch so, wie ist die Lage? – Naja, Freiheit und Luftangriffe.“ und: „Verfluchtes Leben, bei dem dein Tag beginnt mit: ‚Steh auf, steh auf, ein Kampfjet. Steh auf!‘“. Saeed hat durch diese Form einen neuen und dennoch literarischen Weg gefunden, die Atmosphäre des Bürgerkriegs einzufangen, ohne dazu einen 500 Seiten Roman vorlegen zu müssen. Ja es ist gerade die Kürze und Konzentration des Geschriebenen, das die einmalige Stimmung schafft.
Dabei bleibt Saeed immer auch ein normaler junger Mann. Der oft an Frauen denkt: „Am Telefon / genau, als sie beschloss, mir zu verraten, was sie anhat / warf das Flugzeug die Bombe ab.“, um diesen Eindruck von seiner Selbstsicherheit sofort zu konterkarieren: „Geständnis 41: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine Frau im Bikini gesehen.“
Der Text lebt und fühlt sich an, als kenne man Saeed seit Jahren. Er nimmt den Leser mit in seine Welt, die wir so nicht kennen und durch ihn dennoch erleben können. Wir bekommen einen tiefen Einblick in das Herz eines Menschen, der in einem Bürgerkrieg leben muss: „Geständnis Nr. 55: Ich bin einsam hier und alles um mich herum ist auch einsam / meine Mutter und ich, wir teilen die Einsamkeit gerecht unter uns auf.“, wobei Saeed seinem Text auch eine satirisch ironische Note verleiht: „Wie es scheint sind wir ein sehr gieriges Volk. Wir wollen Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, aber was noch viel ironischer ist: Wir wollen, dass das Töten aufhört!! Und das, wo doch alle Profile nur so vor Waffen strotzen!“. Das ist beinahe schon traurig, doch kommt der Autor völlig ohne erdrückende Gefühlsschwere aus.
„Der klügste Mensch im Facebook“ ist ein wertvolles Stück zeitgeschichtliche Literatur. Ehrlich, nah und lyrisch und in seiner Form gut geeignet für eine Veröffentlichung als E-Book-Original.
Jan Kuhlbrodt: Das Elster-Experiment: Sieben Tage Genesis
Auch der zweite Text, der mir im Programm des mikrotext Verlags auffiel, wäre wohl ohne Nikola Richter nicht verfügbar. Jan Kuhlbrodts „Das Elster-Experiment: Sieben Tage Genesis“ ist ein schönes Beispiel dafür, wie Literatur heute entstehen kann. Extra für das E-Book erstellte der Autor und Philosoph den Blog nachschoepfung um dort an sieben Tagen im März 2013 sieben Fragen und Thesen zur Genesis und zu Schöpfungsmythen zur Diskussion zu stellen. Aus den über 150 Kommentaren entstand schließlich Jan Kuhlbrodts siebenteiliger Essay. Das ist Literatur, aber interaktiv. Einige der Kommentare sind im E-Book mit veröffentlicht, so ist der Leser nahe dran am Denkprozess des Autors. Und so schafft es dieser auf ganz besondere Art, den Leser zum Denken anzuregen, vielleicht sogar zum Mitdenken, fast so, als könne er auch jetzt noch den Text beeinflussen.
Kuhlbrodt nutzt für seinen Essay auch sein breites Wissen aus Philosophie und Geschichte, zieht historische Beispiele zu seiner Argumentation heran und zitiert Philosophen und Lyriker. Seine Gedankengänge sind dabei klar und gut nachvollziehbar, auch dort, wo sie sich mit „großen Fragen“ beschäftigen: Gibt es einen Anfang des Universums? Ein Ende? Was war vor dem Urknall? Was ist Schöpfung?
Seine klugen, philosophischen Gedanken zum Mythos der Welterschaffung, ein Teil der zu Grunde liegenden Kommentare sowie die Ausgangsfragen des Autors sind in diesem schönen E-Book vereint und laden ein zum mit- und weiter diskutieren. Noch heute ist der Blog mit sämtlichen Kommentaren online verfügbar.
Jan Fischer: Irgendwas mit Schreiben
Kuhlbrodt, der in diesem Jahr den sächsischen Literaturpreis erhält, ist noch in einer weiteren Veröffentlichung des Verlags vertreten. In der von Jan Fischer herausgegebenen Anthologie „Irgendwas mit Schreiben“ kommen 13 Absolventen der bekannten Schreibschulen in Hildesheim und Leipzig zu Wort, die zwar an einem solchen Institut studiert haben, aber heute nicht allein vom „Schriftstellerdasein“ leben, sondern sich in teilweise sehr artfremden Berufen verdingen.
Humorvoll und selbstironisch schreiben die 13 Absolventen von ihren Lebensläufen, von Sinn und Unsinn des Studiums für ihren Broterwerb und entwickeln teilweise auch fiktive Lebensläufe.
Mit hypothetischen Werdegängen spickt Lino Wirag seinen ironischen Text, ganz so, als wäre sein Beitrag direkt dem Satiremagazin „Titanic“ entnommen, für das er seit Jahren schreibt. Wunderbar die Frage: „Und was macht man damit?“ ins Absurde ziehend treibt er mögliche Antworten auf die Spitze der Lächerlichkeit und scheint so abrechnen zu wollen, mit Allen, die ihm je diese Frage gestellt haben.
Gelungen ist auch der Einstiegstext von Stefan Mesch. Sein Countdown ist wohl der ehrlichste Text der Sammlung, wenn er schreibt: „089_Ich will nicht, dass mein altes Kinderzimmer mein Lebensmittelpunkt bleibt. Nächste Woche werde ich 31.“ und „081_Ich will glauben, dass mein Abschluss einen Unterschied macht – und, dass es richtig war, fünf Jahre lang um dieses Diplom zu zittern.“
Ganz deutlich wird in Meschs Text auch die scheinbare Bedingung für ein Leben als Autor und Journalist, soll es für das Überleben reichen: „076_Ich will niemals vor einem Kind stehen, das – zu Recht! – sagt: ‚Wenn DU Büchern weniger Zeit geschenkt und MIR mehr Zeit geopfert hättest, wären heute alle glücklicher.‘“
Ehrlich, knapp, direkt – das zeichnet Meschs Text aus. Erst gegen Ende des Countdowns lädt er ein: „… diese Liste von vorne zu lesen – statt ‚will‘ mit ‚kann‘ oder ‚habe‘ (…) Denn ich habe keine so große Wahl, wie das ‚Ich will‘ davor suggeriert.“
Sein ganz persönliches Lebensmodell ist ein gelungener Einstieg in die Anthologie, in der es auch noch Kinder geben wird. Aber auch das Sozialamt.
„Irgendwas mit Schreiben“ ist eine Textsammlung voller Witz und Denkanregungen. Die Bandbreite reicht vom selbstironischen Spiel mit den Eigen- und Fremderwartungen an eine Schriftstellerexistenz über kritische, reale Schilderungen eines Autorenlebens, das sich in den meisten Fällen zum Journalistenleben gekehrt hat oder dadurch ergänzt wird, bis zum Diskursanstoß: Florian Kesslers Essay „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“ werden Sie kennen – Er stieß im Frühjahr als Vorabdruck in DIE ZEIT eine „Literaturdebatte“ über die sozialen Hintergründe deutscher AutorInnen in den Feuilletons an.
E-Books können mehr, als nur digitale Versionen eines gedruckten Papierbuches zu sein. Verlage wie mikrotext, aber auch u.a. shelff, Frohmann und CulturBooks nutzen die Möglichkeiten des neuen Formats für neue Formen von Literatur, und die hängt eben nicht vom Medium ab. Neue Verlage und E-Book-Only-Reihen verlangen nach Aufmerksamkeit, und ich freue mich darauf, Ihnen daraus regelmäßig eine Auswahl interessanter, neuartiger, lustiger, schrecklicher oder überraschender Titel vorzustellen.
Sophie Sumburane
Das CulturMag geht auf E-Tour: In ihrer Kolumne zum digitalen Text präsentiert Ihnen die Autorin Sophie Sumburane jeden Monat neue digitale Originalausgaben.
Aboud Saeed: der klügste Mensch im Facebook. Mikrotext 2013. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl, mit Nachwort und Glossar. ca. 250 Seiten. 1,99 Euro.
Jan Kuhlbrodt: Das Elster-Experiment: Sieben Tage Genesis. Mikrotext 2013.220 Seiten. 1,99 Euro.
Jan Fischer (Hrsg): Irgendwas mit Schreiben. Mit Beiträgen von Jan Fischer, Florian Kessler, Thomas Klupp, Jan Kuhlbrodt, Stefan Mesch, Alexandra Müller, N.N., Sina Ness, Johannes Schneider, Martin Spieß, Tilman Strasser, Lino Wirag, Mirko Wenig. Mit einem Vorwort über die literarische Lebenskunst von der Hildesheimer Kulturwissenschaftlerin Jacqueline Moschkau. Mikrotext 2014. 350 Seiten. 1,99 Euro.