„Abu Scholls“ Autobiografie: Spannende Reportagen, unbequeme Einsichten, genaue Analysen
– Peter Scholl-Latours Reportagen aus Kriegs- und Krisenregionen waren auch klarsichtige Analysen, die mit historischen Exkursen garniert waren: Indochina, besonders Vietnam, übte immer die größte Faszination auf ihn aus, wie sein grandioser Band „Tod im Reisfeld“ von 1979 zeigte. Aber Scholl-Latour (1924-2014) war auch in Algerien und Kenia, in Ägypten, im Kongo, Angola und im Goldenen Dreieck als Reporter im Einsatz, wo er mit großem Scharfblick die mörderischen Auflösungserscheinungen des Kolonialismus sezierte. In „Mein Leben“ mischt er seine letzten Impressionen aus gefährlichen Krisenzonen mit Erinnerungen an die Anfangszeiten seiner Reporterzeit. Spannend und erhellend, aber streckenweise auch mit bemühter Bildungshuberei, liefert „Abu Scholl“ seine Ansichten von einer hohen Warte, die manche Kritiker ihm als Arroganz auslegten. Von Peter Münder
In die profanen Niederungen des investigativen Journalismus mit Enthüllungen aufsehenerregender Skandale wollte er sich nie begeben, stellt Scholl-Latour gleich am Anfang seiner Autobiographie fest. Er habe den Journalismus nie als hehre Berufung empfunden; stets überwogen die Zweifel an einem Metier, dass sich zusehends auf Effekthascherei kapriziert hätte, erklärt er. Doch besondere Genugtuung habe ihm immer die Gewissheit verschafft, mit sicherem Gespür und dem soliden Fundament eines umfassenden Studiums sich gegen die Schimäre einer Political Correctness zu behaupten und manche Brainwashing-Prozesse der im Mainstream dahinblubbernden Medien als Irrtümer oder Täuschungen entlarvt zu haben.
Keine Frage: „Abu Scholl“ war immer ein eigenwilliger und unabhängiger Beobachter, der sich nie von modisch-angesagten Meinungen beeindrucken oder sich von Politikern oder Vorgesetzten in öffentlichen Anstalten bei ARD oder ZDF – wo er ja lange im Einsatz war – als Erfüllungsgehilfe instrumentalisieren ließ. Aber was soll diese überzogene Distanzierung von einem Enthüllungsjournalismus, der zahlreiche Politik-, Rüstungs- und Korruptions-Skandale aufdeckte und der Arroganz der Macht ihre Grenzen zeigte? Was soll daran degoutant sein?
In Bochum wurde Scholl-Latour als Sohn elsässischer Eltern geboren, er absolvierte ein Jesuiten-Kolleg während der NS-Zeit in der Schweiz, was ihn stark prägte und sich in Anspielungen auf den klassischen Bildungskanon oder in Bibelzitaten widerspiegelt. In Graz wurde er von der Gestapo (wegen seiner jüdischen Mutter als „Mischling 1. Grades“ eingestuft) inhaftiert, sofort nach Kriegsende war er im Indochinakrieg als Fallschirmjäger bei der französischen Armee in Vietnam im Einsatz, danach studierte er Politikwissenschaften in Paris und startete seine Journalistenkarriere bei der Saarbrücker Zeitung, bevor er dann als Radio-und TV-Reporter und als Chef des Pariser ARD-Studios bekannt und populär wurde. Von seinen insgesamt dreißig veröffentlichten Büchern (Auflage ca. 10 Millionen) wurde „Der Tod im Reisfeld“ mit 1,3 Millionen verkauften Exemplaren das meistverkaufte deutsche Sachbuch nach 1945. Keine Frage, dass so ein schillernder, frankophiler biographischer Hintergrund auch für eine erweiterte, liberale Perspektive sorgt, der jede Form nationalistischer Engstirnigkeit zutiefst suspekt ist.
Indochine, mon amour
Er wollte unbedingt die Gelegenheit wahrnehmen, „zu fremden, exotisch verlockenden Horizonten“ aufzubrechen, um den tristen Zustand Europas und des besetzten Deutschlands gleich Ende 1945 hinter sich zu lassen – so begründete Scholl-Latour seine Fallschirmjäger-Episode in Indochina. Diesen exotischen Horizont fand er in Vietnam auf Anhieb; die Faszination, die er auch später zwischen Saigon und Hanoi mit extremer Hingabe auskostete, weitete sich zu einer intensiven Liebesaffäre aus: „Der einzigartige, fast schmerzliche Reiz Vietnams lag wohl in der widerspruchsvollen Kombination von spröder Unnahbarkeit und verführerischer, lasziver Exotik, in einer femininen Rätselhaftigkeit“, vermutete er, als er im April 1975 nach dem Fall Saigons mit dem letzten Linienflug nach Europa zurückkehrt. „Indochina, mon amour“ wurde zu Scholl-Latours Credo und lieferte auch die Erklärung für viele weitere Reportagen aus Saigon, Hanoi, Laos, Kambodscha und dem Goldenen Dreieck. Und es erklärt auch, weshalb die meisten seiner Afrika-Berichte so düster und distanziert eingefärbt sind: Es fehlte dort am Hauch der Exotik, am schwerelosen asiatischen Lebensstil, wie der risikofreudige Reporter selbst erkannte. „Ich war einst fünf Jahre lang Korrespondent in Afrika gewesen und hatte das Abenteuer der Entkolonialisierung am Kongo wie einen Schock erlebt. Aber den Schwarzen Erdteil habe ich mit einem Empfinden der Erleichterung und des Überdrusses verlassen“.
Kritisch-analytischer Kontrast
Seine aktuellen Impressionen aus Krisen- und Kriegsgebieten vergleicht Scholl-Latour gern mit den Erfahrungen während seiner ersten Aufenthalte. Nicht nur die Entwicklung in den afrikanischen Problemzonen Angola, Mozambique, Kongo, Kenya, Algerien wird dann kritisch überprüft. Auch wichtige Themen, wie etwa die „Erneuerung des Islam“, die er schon 1956-58 während seines Arabischkurses am CEPAM-Institut im Libanon mit den anderen Teilnehmern diskutierte, trieb ihn jahrelang um. In mehreren Büchern und Reportagen verurteilte er die hanebüchene eurozentrische Perspektive, die dazu tendierte, westliche Normen dem Orient zu oktroyieren oder gar – wie die USA – militärisch im Irak und in Afghanistan zu intervenieren – und ihn zur These provozierte „Hände weg vom Orient“. Den unbelehrbaren Schreibtischstrategen, die meinten, man könnte in Afghanistan intervenieren, um dort Ordnung zu schaffen, wollte er auch mit historischen Beispielen (desaströse sowjetische, britische, deutsche Militär-Aktionen am Hindukusch) demonstrieren, wie illusorisch und zum Scheitern verurteilt dieser Aktionismus war – schon aufgrund völlig unterschiedlicher kultureller und sozialpolitischer Traditionen. Doch die hochgerüsteten Bellizisten wussten es mal wieder besser und müssen nun sehen, wie man neue Strategien gegen den IS-Terror, Taliban und Al-Kaida entwickelt.
Wenn Schall-Latour über fünfzig Jahre später einen Blick zurück wirft auf diese Kriegsszenarios, dann trübt kein nostalgischer Schleier seinen kritischen Blick; von einer Verklärung dieser Ereignisse etwa während der französischen Kolonialzeit kann trotz seiner Affinität zu de Gaulle, grandioser Gloire und französischem Lebensstil keine Rede sein, auch wenn er brutale Folteraktivitäten im Partisanenkrieg gegen die Vietminh im neutralen Passiv formuliert: „Es war gefoltert worden…den Verdächtigen waren die Köpfe so lange in Wasserkübel getaucht worden, bis sie gestanden. Man nannte das „La bagnoire“-die Badewanne. Daß die Amerikaner fünfzig Jahre später eine ähnliche Methode, nunmehr „water boarding“ genannt, anwenden würden, lag damals außerhalb unserer Vorstellungskraft … Wehe übrigens dem Europäer, der den Partisanen lebend in die Hände fiel. Wir hatten mehrfach die Leichen von Franzosen in den Gewässern Cochinchinas treiben sehen, denen die Hoden in den Mund gestopft und die mit einem Bambusrohr gepfählt waren“.
Erlebte Weltgeschichte
Als Scholl-Latour zusammen mit seinem TV-Team während der Dreharbeiten in Vietnam im August 1973 von den Vietkong gefangen und für eine Woche festgehalten wurde, kamen er und seine Crew glimpflich davon – ohne Misshandlungen, allerdings erst nach langen Verhören und unter strapaziösen Umständen. „Gefangener des Vietkong“ ist nicht nur das spannendste Kapitel in „Tod im Reisfeld“, es zeigt den Reporter auch als verständnisvollen Chronisten, der den Freiheitskämpfern auch als Gefangener Sympathien entgegenbringt. Er spürt den Atem der Geschichte und sieht sich und sein Team dabei eher in einer beobachtenden Statistenrolle. Einfach großartig, bewegend und obendrein souverän die historische Umbruchphase auslotend.
Mit 85 Jahren hatte „Abu Scholl“ noch Ost-Timour bereist – eins der wenigen Gebiete, das er noch nicht kannte, dann fuhr er noch auf einem Eisbrecher durch die Antarktis. Der große Abenteurer war eben auch ein Forscher, der den Dingen immer auf den Grund gehen wollte. Ausführlich wollte er im ursprünglich geplanten zweiten Band seiner Autobiographie auf die US-Politik in Vietnam, auf seine Begegnungen mit dem Schah von Persien und dem Ayatollah Khomeini sowie auf Afghanistan eingehen. Doch diesen zweiten Teil konnte der Neunzigjährige, der im Sommer 2014 starb, nicht mehr beenden. Das letzte Kapitel in „Mein Leben“ beschreibt seine TV-Dokumentation aus Colombey und Domremy – darin ging es natürlich um de Gaulle. Für den bekennenden Gaullisten Scholl-Latour wirkte es zwar grotesk, ohne den standhaften General immer noch dieser einmaligen knorrigen Figur nachzutrauern – aber in einer „Welt in Auflösung“ (Buchtitel von 1993), so hat er es empfunden, gab es immer weniger authentische, glaubwürdige Persönlichkeiten, deren Überzeugungen noch einigermaßen akzeptabel waren.
In ihrem Epilog berichtet Cornelia Laqua, die seit 1980 mit Scholl-Latour zusammenarbeitete und ihn auf seinen Reisen begleitete, wie der Krisenreporter mit einer Bundeswehr-Patrouille im afghanischen Baghlan unterwegs war und sich selbstverständlich auch, wie sein TV-Team, im umkämpften Gebiet eine kugelsichere Weste sowie Schutzhelm, Splitterbrille und Schutzhandschuhe anlegte – da war er 87. Den entsetzten Bundeswehr-Verantwortlichen, die ihn nicht mitfahren lassen wollten, erklärte er nur: „Das habe ich immer so gemacht, daran ändere ich nichts“.
„Erlebte Weltgeschichte“ lautete der Untertitel seines 2007 veröffentlichten Buches „Zwischen den Fronten“. Und dieses risikofreudige Eintauchen in fremde Kulturen, die packenden Reportagen, die das Selbsterlebte in einer aus den Fugen geratenen Welt in einen kritisch-analytischen und historischen Rahmen stellten und seine Berichte so glaubwürdig machten – das war der Schlüssel zum großen Erfolg dieses klugen Abenteurers mit dem gigantischen Erkenntnisinteresse.
Peter Münder
Peter Scholl-Latour: Mein Leben. Autobiografie. Mit einem Epilog von Cornelia Laqua. C. Bertelsmann, München 2015. 444 Seiten. 24,99 Euro.
Ders.: Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient. Propyläen, Berlin 2014. 368 Seiten. 24,99 Euro.
Ders.: Der Tod im Reisfeld. Dreißig Jahre Krieg in Indochina. DVA, Frankfurt 1979. 384 Seiten.
Einen Film über Scholl-Latours Leben finden Sie hier.