Geschrieben am 27. November 2010 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

Bloody Chops

– Heute choppen fürs CrimeMag Tomás Borchte (ToBo), Joachim Feldmann (JF), Henrike Heiland (HH),  Friedemann Sprenger (Frip) und Thomas Wörtche (TW)

New York, New York …

(TW) New York – ein dickleibiger und kiloschwerer Fotoband, herausgegeben von Reuel Golden. Eine Stadtgeschichte in 5 Kapiteln, mit hunderten und aberhunderten von Fotos, die das Image der Stadt geprägt haben. Das New York von John Dos Passos, Thomas Adcock, Jerome Charyn, Reggie Nadelson, Caleb Carr, Bob Leuci und Chester Himes. Das New York von Lawrence Block, Carol O’Connell, Joe Huston und Will Eisner und vielen, vielen anderen mehr. Eine gebündelte Mythen-Galerie aus den Kameras professioneller Mythenmacher (auch wenn sie anderes im Sinn hatten: Kriminal- oder Sozialreportagen etwa). Sie sind alle da: Weegee, Berenice Abbott, Lee Friedlander, Jacob Riis, Steve Shapiro, Jessie Tarbox  Beals, Ellen von Unwerth, Andreas Feininger und … Dazu anständige Musik- und Filmtipps. Leider sind die Literaturtipps arg einfallslos & nicht so sehr informiert. Aber nu … nicht weiter schlimm, das feeling der Stadt ist auf jeder Seite präsent.

Man wundert sich hin und wieder sogar, dass viele wahrnehmungsprägende New-York-Bilder, die in allen Bereichen der Populären Kultur gespeichert und disponibel sind, schon so alt sind. Das letzte große ikonographische Bild zeigt die Twin Towers, in die gerade die Flugzeuge gerast sind. Deswegen schließt der Band auch nicht damit, sondern mit einem Foto von Janette Beckman: „How to survive in New York City.“ Es zeigt einen Zettel aus dem East Village, auf den jemand Verhaltensregeln gekrickelt hat, darunter: „Never make eye contact“. Gilt nicht für diesen Prachtband.

Reuel Golden: New York. Porträt einer Stadt (dreisprachig). Deutsch von Susanne Ochs.

Köln: Taschen Verlag 2010. 558 Seiten. 49,90 Euro.

Zum Taschen Verlag

Hoppla …

(Frisp) … und dann ist der Kopf ab. Darauf haben wir gewartet: auf eine Crime & Gourmet-Sammlung zum Thema „Henkersmahlzeiten“. Und voilà – da isse: „Letzte Mahlzeiten. Die Aufzeichnungen des königlich bayrischen Henkers Bartholomäus Ratzenhammer“, versammelt von Herbert Rosendorfer, mit alten Rezepten, neu interpretiert von Herbert Hintner. Hingerichtet (oder manchmal auch kurz vor der Hinrichtung begnadigt) wurden Täter zum Beispiel wegen „Fleischessens in der Fastenzeit“, wie der arme Gustav Willibald Schüttelgrütz, der doch eine prima Ausbildung zum Karnevalisten absolviert hatte.

Oder als „ansteckende Gemeingefahr“, wie es dem sein Leben lang emsig und unter Tobsuchtsanfällen gegen Unsittlichkeit und Nuditäten ankämpfenden Benedikt Armleuchter erging, der vor seiner Enthauptung noch einmal darum bat, zwecks finaler sittlicher Empörung ein illustriertes Exemplar des „Kamasutra“ durchblättern zu dürfen. 18 solcher erschütternden und auch sonst emotional ergreifenden Schicksale listet Rosendorfer aus den verschollenen Tagebüchern des Henkers Ratzenhammer auf und 18 ausgewählte Henkersmahlzeiten illustrieren dieses kulturgeschichtlich ungemein wertvolle Bändchen, das wir vor allem der reiferen Jugend als Lektüre mit Gewinn ans Herz legen möchten.

Herbert Rosendorfer: Letzte Mahlzeiten. Die Aufzeichnungen des königlich bayerischen Henkers Bartholomäus Ratzenhammer. Wien/Bozen: Folio Verlag 2010. 133 Seiten. 19,90 Euro.

Herbert Rosendorfer beim Folio Verlag

Genrespielchen …

(HH) – Ein verdächtig gelobtes Debüt, dieser Krimi von Harry Dolan, und tatsächlich liest er sich nicht schlecht. Auch der Einstieg ist nett: Held kauft Schaufel, um Chef beim Verbuddeln einer unabsichtlich verursachten Leiche zu helfen. Held macht mit, weil er zum einen ein undurchschaubarer Bursche ist, zum anderen ein schlechtes Gewissen wegen seines Verhältnisses mit der Chef-Ehefrau hat. Er mag ja seinen Chef. Der ist übrigens Verleger – Krimis! – im schönen Ann Arbor, und unser Held ist sein Lektor. Kurz nach dem netten Leicheverbuddelnabenteuer ist Chef tot, und Held ermittelt. Alleinerziehende Kommissarin ermittelt auch. Bald ermittelt es sich gemeinsam. Es folgt ein Bodycount, die anderen Krimiautoren sterben wie die Fliegen, nun. Dolan parodiert das klassische Mystery und spickt die Geschichte hier und da mit respektlosen literarischen Zitaten von Shakespeare bis Chandler – nett, manchmal ein bisschen lang(weilig/-atmig), wenn bis zum Erbrechen Theorien durchgekaut werden, aber insgesamt recht weglesegeeignet.

Harry Dolan: Böse Dinge geschehen (Bad Things Happen, 2009). Kriminalroman. Deutsch von Martin Ruben Becker. München: dtv 2010. 416 Seiten. 14,90 Euro.

Harry Dolans Homepage
Harry Dolan bei Facebook
Trailer

Bogotá …

(ToBo) Mit Südamerika ist das ein bisschen so wie mit Afrika. Wir haben halt so ein paar komische Vorstellungen. Afrika sieht man gerne irgendwie im Okkulten, Südamerika mehr so zwischen Salsa und Mojito. Was haben die armen Gastland-Argentinier während der Buchmesse alles über sich lernen und an welchen Kasperlveranstaltungen mit Tango teilnehmen müssen. Südamerika ist aber kompliziert – und so richtig kompliziert wird es in Kolumbien. Ach, dort kämpfen die USA gegen das Rauschgift – oder so … Muss aber nicht so sein: Eva Karnofsky unterhält Sie blendend mit einem hochauflösenden Thriller aus dem Land der tausend Komplikationen: „Bogotá Blues“. Neben Gewalt (viel Gewalt) gibt es nämlich noch ein paar andere wichtige Dimensionen im Leben von Menschen und von glaubwürdigen literarischen Figuren. Erotik, z. B., Komik sowieso.

Eva Karnofsky: Bogotá Blues. Roman. Trier: éditions trèves 2010. 181 Seiten. 11,50 Euro.

Mehr zu Eva Karnofsky

(Eva Karnofsky schreibt regelmäßig für CULTurMAG/CrimeMag)

Fatale Badewanne …

(TW) Beifall für den Lilienfeld Verlag – endlich hat man es gewagt, Solange Fasquelles  „Trio Infernal“ aus dem Jahr 1971 ins Deutsche zu übersetzen. Den Film von Francis Girod mit Romy Schneider, Mascha Gonska, Andréa Ferréol, Michel Piccoli und einer Badewanne in der Hauptrolle kennen wir vermutlich alle. Die Romanvorlage, die auf einem authentischen Fall basiert, läuft aber – keine Angst, die Badewanne spielt auch hier mit – ein bisschen anders und ist ein cooles, süffisantes, spöttisches und staubtrocken komisches Stück true noir. Besonders Philomene und Kathrin Schmidt, die beiden strammen deutschen Fräuleins, sind Solange Fasquelles herzlos charmant gelungen.

Solange Fasquelle: Trio Infernal (Le Trio Infernal, 1971) Roman. Deutsch von Irène Kuhn und Ralf Stamm. Düsseldorf: Lilienfeld Verlag 2010. 191 Seiten. 19,90 Euro.

Solange Fasquelle bei Lilienfeld

Betulich …

(JF) Guy ist tot. Ismay glaubt, ihre Schwester Heather habe ihn umgebracht. Doch das ist lange her. Jetzt ist Heather mit Edmund zusammen. Und Ismay mit Andrew, der sie mit Eva betrügt. Edmunds Mutter mag Marion lieber als Heather. Sie weiß nicht, dass Marion eine Erbschleicherin und Erpresserin ist. Marions Bruder Fowler lebt auf der Straße und findet allerlei in Mülltonnen. Auch Ivan ist ein Mann, der weiß, was er will. Pamela, die Tante von Heather und Ismay, bekommt das zu spüren. Nur Beatrix weiß nicht von alledem. Sie leidet seit Guys Tod unter Schizophrenie. In Ruth Rendells Roman „Die Unschuld des Wassers“ erfahren wir, wie all das zusammenhängt. Das könnte interessant sein, wäre es nicht so furchtbar betulich erzählt. Aber vielleicht ist das die ganze Kunst?

Ruth Rendell: Die Unschuld des Wassers (The Water’s Lovely, 2006). Roman. Deutsch von Eva L. Wahser. München: Blanvalet 2010. 381 Seiten. 19,95 Euro.

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Bon appétit …

(ToBo) Was für ein leises, ausgefuchstes, ganz und gar appetitliches und 100% bösartiges kleines Büchlein: „Feine Kost“ von Jo Kyung Ran. Ein maliziöser Roman aus Südkorea – Essen und Trinken als Weltmetapher, ein Schwelgen in Aromen, Konsistenzen und Geschmack. Gastrosophie auf wollüstigem Niveau, kluge Gedanken zu den Wonnen guten Essens. Und eine tödliche Liebesgeschichte, auch die ganz der kulinarischen Leitmotivik verbunden. Grausam, cool, final wohlschmeckend. Very sophisticated …

Jo Kyung Ran: Feine Kost (Hyeo, 2007). Roman. Deutsch von Kyong-Hae Flügel und Angelika Winkler. München: Luchterhand 2010. 287 Seiten. 9,00 Euro.

Jo Kyung Ran bei Randomhouse

Crash …

(TW) Am Ende werden wir’s immer noch nicht genau kapiert haben, wie „die Finanzkrise“ so genau (dys)funktioniert hat. Wir geben uns aber Mühe, das ganze makrokriminelle Treiben zu analysieren. Treffliche Instrumente dazu stellt der von Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin herausgegebene Band „Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt“ zur Verfügung. Neben extrem wertvollen und bei aller Komplexität auch für den interessierten Finanzlaien verständlichen Rekonstruktionen der Fakten und dem abermals geführten Nachweis, dass dergleichen Crashs natürlich NICHT quasi-naturgeschichtlich oder rein systemisch sind, sondern man made (by gierigen Schweinebacken, wenn auch die vornehme Wissenschaftsprosa nur sehr mühsam genau dieses Wort vermeidet: Schweinebacken). Und diese Leute schaut sich unsere Soziologengruppe genauer an – wer sind sie, die „Finanzlegionäre (…), die gegeneinander kämpften und gleichzeitig einen Feldzug führten gegen die Bankkunden, die börsennotierten Unternehmen, gegen ganze Volkswirtschaften und letztlich gegen die reale Welt“. Die O-Töne der einvernommenen Banker sind zu „soziologischen Porträts“ montiert (für Spezialisten – methodisch eine Mischung aus Bourdieu, Studs Terkel und Freud’scher Fallgeschichte) und mit einzelnen Essays kontrapunktiert. Ein Band aus dem belly of the beast, sozusagen, mit erstaunlich robusten Selbsteinschätzungen der Plünderer und Marodeure. Und für Feingeister gibt’s noch ein Häppchen Elfriede Jelinek (den Epilog aus ihrem Stück „Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie“). Richtig nützlich der Anhang & das Glossar mit Fakten, Fakten, Fakten. Ein perfekteres Beispiel als dieses Bändchen für true crime fällt mir nicht ein.

Claudia Honegger/Sighard Neckel/Chantal Magnin: Strukturierte Verantwortungslosigkeit.  Berichte aus der Bankenwelt. Mit einem Text von Elfriede Jelinek. Berlin: edition suhrkamp 2010. 399 Seiten. 16,00 Euro.

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