Geschrieben am 5. November 2011 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

Bloody Chops

– kurz und notfalls schmerzhaft, heute unter der beilführenden Verantwortung von Elfriede Müller (EM), Joachim Feldmann (JF) und Frank Rumpel (rum):

Bittere Pillen

(EM) [[Wolfgang Schorlau]] steht von allen deutschen Kriminalautoren dem politischen Geschehen am Nächsten und bezieht dabei immer eine eindeutige Position. Neben Kriminalfällen klärt er vor allem über politische Hintergründe auf. Seine bisherigen Themen waren: der bewaffnete Kampf, die bis heute unaufgeklärte Lynchjustiz am Ende des Nationalsozialismus, die Privatisierung des Wassers, der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr und das NPD-Verbot. Sein neuester Roman dreht sich um ein Thema, das wirklich alle angeht: das Gesundheitswesen. So eindeutig und unbarmherzig Schorlaus Erkenntnisse über die Methoden der Pharmaindustrie sind, so verquast liest sich der das ganze umspannende Plot.

Wolfgang Schorlau

Ein Forscher der Charité Berlin soll ein Kinderschänder- und mörder sein. Um das Gegenteil zu beweisen, wird der unvermeidliche Georg Dengler vom Anwalt des Beschuldigten mobilisiert. Neben dem aufrichtig an wissenschaftlichen Erkenntnissen interessierten Forscher, auf den zweiten Blick eine Lichtgestalt, die auch noch eine Sozialklausel in seiner Universitätsmedizin einführen will, gibt es den miesen Vertreter eines Pharmakonzerns, Dirk Assmus, der alle menschenverachtenden Eigenschaften aufweist, die in diesem Geschäft von Nöten sind. Allerdings schmort Assmus fast während des ganzen Romans in einem Kellerverlies, wo er von einem Mann mit Maske über die Hintergründe und Methoden seines Berufes interviewt wird. Dieses Interview wird alle Leser veranlassen, sich in Zukunft ihre behandelnden Ärzte genau auszusuchen. Die beiden Handlungsstränge treffen sich erst am Ende des Romans und sind die beiden Seiten einer Medaille, der zur Ware gewordenen Medizin, die schließlich auch die unabhängige Forschung zum Wohl der menschlichen Gesundheit zerstört. Dengler, seine Freundin Olga und eine toughe Berliner Polizeibeamtin, die aufgrund einer Erkrankung selbst Opfer des Medizinbetriebs wird, ermitteln zunächst gegen-, dann miteinander. Das Spannende ist die schrittweise Dekonstruktion der Krankenversorgung unter Verwertungsdruck, die darum begangenen Morde tun eigentlich wenig zur Sache und wirken gegen das große Verbrechen gegen die Allgemeinheit wie ein kleinlicher Familienzwist, was auch mit der Farblosigkeit der Protagonisten zu tun haben mag.

Wolfgang Schorlau: Die letzte Flucht. Denglers sechster Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011. KiWi 1239. 351 Seiten 8,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Homepage des Autors.

Alkohol & böse Männer

(JF) Ein Mann und ein zehnjähriges Mädchen unterwegs im Rentnerparadies Florida. Das Mädchen heißt Tianna und ist ein Opfer wiederholten sexuellen Missbrauchs. Der Mann, ein schottischer Polizist namens Lennox, versucht, sie in Sicherheit zu bringen.

Das ist die Grundkonstellation in [[Irvine Welsh]]s neuem Roman, der den schlichten (oder auch großspurigen) Titel „Crime“ trägt.

Lennox ist die Sorte Kriminalist, von der es im Scottish Noir nur so wimmelt: ein von Alkohol und Koks gezeichnetes psychisches Wrack. Gerade mal 35 und schon erledigt. Nach Florida ist er nur widerwillig gereist, seine Verlobte Trudi fand, dass ein wenig Erholungsurlaub vor der Hochzeit beiden gut tun würde. Doch Lennox ist in Gedanken bei seinem letzten Fall. Ein Mädchen wurde entführt, missbraucht und ermordet. Und die Konfrontation mit ihrem Peiniger hat den eh schon labilen Polizisten endgültig kollabieren lassen.

Miami erweist als der sprichwörtliche klimatisierte Alptraum. In einer Bar lässt Lennox sich volllaufen. Zwei Frauen schleppen ihn ab, eine davon ist Tiannas Mutter. In ihrer Wohnung soll die Party zu dritt steigen. Doch daraus wird nichts. Plötzlich tauchen zwei merkwürdige Typen auf. Und Lennox kann nur knapp verhindern, dass Tianna von einem der beiden vergewaltigt wird. Die Flucht beginnt. Aber wo ist das Mädchen vor seinen gut organisierten Verfolgern, unter ihnen ein Polizist, sicher?

Irvine Welsh

Irvine Welsh beschert seinem Anti-Helden ein Road Movie der besonders unerfreulichen Art. Von Alpträumen geplagt und in der ständigen Versuchung, zur Flasche zu greifen, muss sich Lennox auf seine Instinkte verlassen. Die funktionieren allerdings, wie in Romanen dieser Spielart üblich, immer noch tadellos, so dass er am Ende, das man dennoch nicht als glücklich bezeichnen möchte, die Bande zur Strecke gebracht hat.

„Crime“ ist ein Buch, das auf die Anteilnahme seiner Leser zielt. Auf wohlfeilen Sarkasmus, auf den man in diesem Genre gerne zugunsten der leichteren Konsumierbarkeit setzt, verzichtet der Autor. Was er uns leider nicht erspart, sind weitschweifige und gelegentlich ermüdende Exkurse in die Psyche seines Protagonisten, so dass wir uns mitunter wie Zeugen einer ziemlich langwierigen Therapiesitzung fühlen dürfen.

Irvine Welsh: Crime (Crime, 2008). Roman. Deutsch von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011. 480 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

Ungemütliche Provinz

(rum) Die Provinz als Summe falscher Versprechen zeichnet Tanja Weber in ihrem Debüt und bemüht damit einen Allgemeinplatz, der nicht selten herhalten muss: Vom Land aus betrachtet scheint das Verbrechen stets woanders daheim zu sein. Tanja Weber hat daraus einen leisen, auf weiten Strecken fein austarierten Kriminalroman gemacht, in dem sie dann aber doch manches Klischee zu sehr breit tritt und am Ende etwas zu viel will.

Ruhe und Abgeschiedenheit sucht ihr Protagonist Johannes Stifter und glaubt beides in einem brandenburgischen Weiler nahe Berlin gefunden zu haben. Dort wohnt er in einer Hütte am See, trägt tagsüber die Post aus und schreibt abends an seiner Promotion über Foucault. Als er im Wald eine übel zugerichtete Leiche findet, ist er zunächst der Hauptverdächtige. Denn bei dem Toten handelt es sich um den ehemaligen Lebensgefährten von Annika Strelski, einer völlig überforderten, allein erziehenden Mutter, in die sich Stifter beim Postaustragen verguckt hat. Deshalb stellt er selbst Nachforschungen an und lichtet dabei allmählich einige Kulissen. Es geht um Menschenhandel. Im Dorf wohnen gleichwohl Kunden, wie Leute, die dabei ihren Schnitt machten, oder eben wegschauten. Die eigentlichen Ermittlungen führt ein bayrischer Kommissar, der die sommerliche Hitze nicht verträgt und lieber daheim am Tegernsee ein Weißbier trinken würde.

Tanja Weber

Die Theaterdramaturgin und Drehbuchautorin Weber hat das alles gekonnt unspektakulär und mit viel Atmosphäre inszeniert. Nur der Plot wirkt  überfrachtet und aufgesetzt. Weber ist nah an ihren meist sehr genau und einfühlsam gezeichneten Figuren, nimmt sie ernst und lässt ihnen Raum. Immer wieder wechselt sie die Perspektive, öffnet Blicke in verschiedene Milieus und entwickelt so eine spannende Geschichte um eine Mördersuche, in der dann sogar ein neugieriger Briefträger und ein bayrischer Kommissar, beides Gestrandete, ihren Platz finden.

Tanja Weber: Sommersaat. Roman. Berlin: Aufbau-Verlag 2011. 350 Seiten. 16,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

Es zieht sich …

(JF) Der Unternehmensberater Michael Bellicher ist ein Schmerzensmann der Spannungsliteratur. Sein Erfinder, der niederländische Krimiautor Charles den Tex, spielt leidenschaftlich gerne mit den Grundlagen seiner Existenz, manipuliert seine Biografie oder lässt ihn unter Mordverdacht geraten. Eindringlich demonstriert den Tex auf diese Weise, welch ein fragiles Konstrukt unsere Identität im digitalen Zeitalter geworden ist. Dass er sich dabei traditioneller epischer Verfahren bedient, lässt manchen bei der Lektüre an Kafka, andere aber auch an den Romanfabrikanten Alexandre Dumas und seinen „Grafen von Monte Christo“ denken. Und das sind nicht die schlechtesten Vorbilder.

Nun liegt mit dem Thriller „Password“ Bellichers drittes Abenteuer vor. Guusje van Donee, die smarte Anwältin, deren trickreiche Machenschaften im Vorgängerroman „Die Zelle“ unbeabsichtigt dafür gesorgt hatten, dass unser unglücklicher Held plötzlich mit einer neuen Identität inklusive aller damit verbundenen Unannehmlichkeiten dastand, hat ihre zehnmonatige Gefängnisstrafe abgesessen. Doch als Bellicher, der inzwischen eine innige amouröse Beziehung zu ihr unterhält, sie abholen möchte, ist die Dame bereits verschwunden. Eine Spur führt zu ukrainischen Mafiosi, die sich darauf spezialisiert haben, junge Frauen in die Prostitution zu zwingen. Der Unternehmensberater, dessen wirtschaftliche Existenz aufgrund von Computermanipulationen wieder einmal vor dem Aus steht, macht sich, unterstützt von Guusjes esoterisch inspirierter Mutter Lies und der taffen Puffmutter Sylvia, auf die Suche. Schließlich gelingt es ihm, die Gangster in Odessa ausfindig zu machen. Mit fatalen Konsequenzen für seine persönliche Integrität. Denn dieses Mal durchschaut er das Spiel, in das er verwickelt wurde, erst, als es viel zu spät ist. Viel zu spät ist es da leider auch für den Leser.

Charles den Tex

Es ist das alte Lied. Hätte sich der Autor zu beherzten Kürzungen entschließen können, wäre dieser Roman vielleicht ein ebenso schlanker wie rasanter Thriller geworden. Doch Charles den Tex überlässt es seinem Helden, einer ausgesprochenen Plaudertasche, nicht nur, die ganze Geschichte selbst zu erzählen, sondern streut zwischen den Kapiteln auch immer wieder umfängliche Zitate aus Bellichers elektronischem Tagebuch ein, die seine Befindlichkeit protokollieren.

Kein Wunder also, dass dem Rezensenten die Lektüre mitunter arg lang wurde. Und dass er deshalb zumindest ein wenig von Bellichers bzw. den Tex’ Formulierungskünsten profitieren will, indem er diese Besprechung mit einem, allerdings nur teilweise passenden, Zitat aus dem Buch beschließt: „Endlich hatte ich mithilfe logischen Denkens erkannt, was die ganze Zeit an mir genagt hatte. Endlich ergab alles einen Sinn.“

Charles den Tex: Password (Wachtwoord, 2010). Roman. Deutsch von Stefanie Schäfer. Dortmund: Grafit: 2011. 440 Seiten, 19,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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