Bloody Chops – kurz und heute nur leicht schmerzhaft: zweimal Comics von Thomas Wörtche (TW) – Marc-Antoine Mathieus „3 Sekunden“ und Band 5 von Renaud/Dufaux’ „Jessica Blandy“. Einmal Krimi: Frank Rumpel (rum) über Mechthild Borrmann: Der Geiger
Genial
(TW) Drei Sekunden Echtzeit und ein komplexer Politthriller, der auf der Erde anfängt, im Weltall Zwischenstation macht und wieder auf den Boden unschöner Realitäten zurückkehrt. Die Geschichte eines Attentats und einer Verschwörung, gezeichnet in einem langen, langen Zoom – das heißt, in einer Kameraeinstellung ohne Schnitt. Eine verwirrend logisches Konzept, das von einem originellen Gebrauch von Spiegeln abhängt. Alles, was spiegelt, dient der Perspektive, ob’s ein Uhrglas ist, ein zahnärztliches Instrument, ein Uhrpendel oder ein Metallzahn, verschiedene Kameraaugen (vom Handy bis zum Satelliten) – alles spiegelt und leitet den Blick weiter, gibt ihm eine andere Richtung und kommt am Ende wieder beim Anfang an.
Ein typisches Marc-Antoine Mathieu-Projekt, ein Wahrnehmungsexperiment, eine Erforschung der Bedingungen von Sehen, Zeichnen, Verstehen eines Narrativs, das komplex und multikausal ist. Wer wen erschießt und warum, muss sich der Betrachter erschließen.

Marc-Antoine Mathieu
Wobei der erkenntnistheoretische Clou bei Mathieus stringenter Kameraführung eben nicht eine vieldeutige Auslegbarkeit der Welt ist, sondern eine strikte, wenn auch kontingente Vorgabe, denn nur wenn alle Perspektivenverschiebungen in den verschiedenen Spiegelmedien genau so laufen, wie Mathieu die ganze Angelegenheit definiert, kommt am Ende eine sinnvolle Geschichte zum Vorschein. Der Autor ist omnipotent, seinen Setzungen folgt die Kunst – egal, wie „offen“ er sie inszeniert. Das ist sehr intelligent gemacht, bleibt aber nicht nur auf der kunstreflexiven Ebene hängen, weil Mathieu auf 80 Seiten exzellente Zeichen- und Comic-Kunst abliefert. Geometrie und Proporz, Nahaufnahme und Totale als ästhetisch zwingende Prinzipien. Grandios!
PS: Wer den Comic besitzt, wird in seinem Exemplar einen Code finden, der ihm den Zugang zu der digitalen Version ermöglicht. Da flitzt die Kamera besonders anschaulich von einer Dimension in die andere.
Marc-Antoine Mathieu: 3 Sekunden (3´´, 2011). Comic. Deutsch von Martin Budde. Berlin: Reprodukt 2012. 80 Seiten. 18,00 Euro. Verlagsinformationen zum Comic. Porträtfoto Marc-Antoine Mathieu: Quelle Wikipedia/Thesupermat.
Spröde
(rum) „Der Geiger“ ist Mechthild Borrmanns fünfter Roman. Sie hat den Verlag gewechselt und den Schauplatz. Sonst aber ist alles wie gehabt, will heißen: Die Autorin liefert gewohnt hohe Qualität und verknüpft aufs Neue eine historische mit einer aktuellen Geschichte.
1948 rollt in der Sowjetunion die zweite große Säuberungswelle unter Stalin an. Ihr fällt auch der in ganz Europa gefeierte Geiger Ilja Grenko zum Opfer. Nach einem Konzert wird er verhaftet, gefoltert und zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt. Der Vorwurf: Er plane, sich mit seiner Familie ins Ausland abzusetzen. Seine Frau Galina aber weiß von nichts und glaubt lange das von den Behörden in Umlauf gesetzte Gerücht, Grenko sei aus dem Land geflohen. Sie wird samt ihrer beiden Kinder nach Kasachstan verbannt. Erst viele Jahre später bekommt sie Nachricht von ihrem Mann, einen Zettel, den ein ehemaliger Mithäftling überbringt. Da ist ihr Mann längst tot, und indem sie ihr altes Leben einholt, bricht ihr neues in sich zusammen.
Grenko hatte bei seiner Verhaftung seine Stradivari bei sich, ein Erbstück, die sein Urgroßvater 1862 von Zar Alexander II geschenkt bekam. Galina beginnt nachzuforschen, doch die Geige bleibt unauffindbar. Die Suche danach beschäftigt auch noch die folgenden Generationen, wobei jeder, der sich dem Thema widmet, tödlich verunglückt. Schließlich macht sich Ilja Grenkos Enkel Sascha von Düsseldorf nach Kasachstan auf, um seiner Familiengeschichte auf den Grund zu gehen.
Die 52-jährige Mechthild Borrmann, die für ihren im Vorjahr veröffentlichten, großartigen Roman „Wer das Schweigen bricht“ den Deutschen Krimipreis bekam, fächert ihre Geschichte in drei Erzählstränge auf, schildert die Schicksale des Geigers Ilja Grenko und seiner Frau Galina und führt alles in einem dritten Strang zusammen, der im Hier und Heute spielt. Eindringlich und präzise beschreibt sie das harte Leben im Lager und in der Verbannung, erzählt aber auch von den perfiden Mechanismen eines von Gewalt und Propaganda geprägten und von Spitzeln durchdrungenen Systems, in dem keiner weiß, wem er trauen kann. Dieses Gefühl von Paranoia und steter Unsicherheit überträgt Borrmann dann auch geschickt in die Gegenwart, sticht doch Ilja Grenkos Enkel bei seinen Nachforschungen in dasselbe Wespennest, wie all seine Verwandten zuvor.
Borrmann hat ihren Stoff sorgfältig recherchiert und erzählt ihn so geschmeidig wie kompakt. Allein die in der Gegenwart spielende Kriminalgeschichte ist diesmal zu konstruiert und zu spröde geraten, um sich glaubhaft zwischen die gut gearbeiteten, historischen Teile zu schieben. Dennoch versteht es Borrmann, nah und packend an den Figuren entlang zu erzählen, sodass am Ende immer noch eine spannende Familiengeschichte steht.
Mechthild Borrmann: Der Geiger. Roman. München:Droemer-Verlag 2012. 299 Seiten. 19,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Sexy
(TW) Ein neuer Band der „Jessica Blandy“-Edition, der fünfte mittlerweile, mit Episoden aus den Jahren 1995 bis 2000. Wie immer nicht chronologisch geordnet, aber das muss bei dieser Serie, die von 1987 bis 2006 lief, auch nicht sein, weil sie keinen Soap-Faktor, höchstens ein paar hin und wieder auftauchende Standardfiguren hat. Ansonsten gilt für die Abenteuer von Jessica Blandy – Schriftstellerin, Journalistin, selbstermächtigte Ermittlerin und autonome Frau –, dass die Szenarien von Jean Dufaux ausgekocht, komplex, rätselhaft und nie ganz und ganz aufgehend angelegt sind.
Mit ungelösten Resten, chronologisch manchmal raffiniert geschnitten und vor allem wenig erklärend. Erzählen pur, sozusagen. Wobei die Plots sehr variabel sind – Psychothriller, Polit-Thriller, klassischer Abenteuer oder PI-Stoff, aber genauso wenig starr definiert wie die sexuellen Präferenzen der Heldin. Renaud Denauw alias Renaud erfreut mit wunderbar kalten, brillanten Farben, intelligenten Panels – frankobelgisch für Puristen – und einem ausnehmend ästhetisch-eleganten production design, das sicher die wesentliche Faszination des Projekts ausmacht. Vergessen wir das Wichtigste nicht: Jessica Blandy ist sehr sexy.
Jean Dufaux/Renaud: Jessica Blandy. Bd. 5 (Cuba!; Ginny d’avant; Buzzard Blues; Je suis un tueur. 1995 – 2000). Comic. Deutsch von Resel Rebiersch. München: Schreiber & Leser 2012. 200 Seiten. 29,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.