Bloody Chops – kurz, roh & auf den Punkt.
Heute choppen Thomas Wörtche (TW) Arnold Odermatts Fotoband „Karambolage“, Joachim Feldmann (JF) Peter Mays „Beim Leben deines Bruders“ und Alf Mayer (AM) Marge Piercys „Menschen im Krieg“.
Zerfetzt, zerschunden, verwüstet
(TW) Zwischen den 1950er und 1980er Jahren hat der Schweizer Fotograf Arnold Odermatt im Kanton Nidwalden, also die Gegend um Stans, südlich des Vierwaldstättersees, manisch die täglichen Katastrophen fotografiert: Autounfälle, Karambolagen, Zusammenstöße. Zerschrötetes, verbogenes, zerfetztes Metall, ineinander verhakte und verklammerte Fahrzeuge, überrollte, mitgeschleifte, um Bäume gewickelte Autos, in Bäche, Seen und Flüsse gestürzte Wagen, in Schaufenster gekrachte, außer Kontrolle und außer Spur geschlingerte PKWs und LKWs, Motorräder und ein paar halb untergegangene Motorboote auch.
Odermatt fotografiert formal streng. In der aufgeräumten, ordentlich vermessenen, von klaren Strukturen beherrschten oder eine unantastbare solide Bodenständigkeit ausstrahlenden Schweiz wirken die abgebildeten Katastrophen noch grotesker. Im Grunde inszeniert Odermatt James Graham Ballards „Crash“ ohne Körperteile, ohne zerfetzte Leiber, aber – betrachtet man die penible fotografische Beschreibung sich gegenseitig penetrierender, ineinander verkrallter Metallkörper, den Voyeurismus der Zuschauer, den Odermatt oft beiläufig, aber sehr pointiert mitdokumentiert, so bekommen die alltäglichen Desaster viele überraschende Dimensionen. Die Narrative von Tod, Elend und Verstümmelung, die durch die völlig unanekdotischen Fotos entstehen, müssen herbei imaginiert werden. Je einlässlicher, desto grusliger und brutaler. Die Fitzeks dieser Welt sind im Grunde die weichgespülten Märchenonkel.
Arnold Odermatt: Karambolage. Fotoband. Hg. von Urs Odermatt. 2. Auflage. Göttingen: Steidl 2013. 408 Seiten. 58,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
In Berlin gibt es ab dem 30. Mai (Vernissage, der Künstler, inzwischen 89 Jahre alt, wird anwesend sein) eine Odermatt-Ausstellung, die bis zum 19. Juli laufen wird:
http://us7.campaign-archive1.com/?u=1a07ed7ed2ce83b4ef5266bd4&id=b36d2c4d50
(JF) Wie gut, dass es die Online-Enzyklopädie Wikipedia gibt. Waren die Autoren von Kriminalromanen früher gezwungen, umfassend gebildete Detektive mit einer entsprechenden Bibliothek zum Einsatz zu bringen, hat heute dank des weltweiten Netzes selbst ein Provinzpolizist blitzschnell Zugang zu wissenschaftlichen Informationen aller Art. Also kann auch George Gunn, der auf der Hebrideninsel Lewis Dienst tut, vom Computerbildschirm ablesen, was es über das Phänomen der Moorleiche zu sagen gibt. Nicht, dass ihm dieses Wissen sehr viel nützen würde. Denn der Tote, den man aus einem Hochmoor der Insel geborgen hat, ist nicht alt genug, um von archäologischem Interesse zu sein. Schließlich zeigt die Tätowierung auf seinem Unterarm ein Porträt Elvis Presleys. Und alle Anzeichen deuten auf ein gewaltsames Ende.
Aber Gunn muss die Ermittlungen nicht allein aufnehmen. Fin MacLeod, der den Polizeidienst in Edinburgh quittiert hat, ist auf seine Heimatinsel zurückgekehrt und entwickelt rasch ein ganz eigenes Interesse an dem Fall, denn ein DNA-Test zeigt, dass der einzige Mensch, der etwas über die Identität der Moorleiche wissen könnte, der demente Vater seiner Jugendliebe ist.
In „Beim Leben deines Bruders“ lässt der schottische Autor Peter May seinen Helden zum zweiten Mal ermitteln. Wieder führt die Spur in die Vergangenheit. Mühsam gelingt es Macleod, die dramatischen Ereignisse zu rekonstruieren, die vor 65 Jahren zum grausamen Tod eines unschuldigen Menschen geführt haben. Wir Leser allerdings wissen immer ein wenig mehr als der Protagonist, denn May konfrontiert uns mit den Erinnerungen eines alten Mannes, der in der Gegenwart nicht mehr zuhause sein kann. Es ist eine grausame Geschichte von Gewalt und Missbrauch, die sich hier stückweise erschließt. Und sie ist noch nicht zu Ende. Im zweitletzten Kapitel nimmt die Vergangenheit auf drastische, dem Roman als ganzen wenig zuträgliche Weise Gestalt an. „Sein Mund“, heißt es da, „verzog sich zu einer unbeherrschten Fratze, hässlich und drohend.“ Dass gegen solche Typen nur ein beherzter Schuss aus der Schrotflinte hilft, versteht sich von selbst.
Peter May wird wissen, warum er seinen Roman mit einer Pointe aus dem reichen Fundus kriminalistischer Kolportage enden lässt. Nachvollziehbar ist es nur sehr bedingt.
Peter May: Beim Leben deines Bruders (The Lewis Man. 2011). Roman. Deutsch von Silvia Morawetz. Wien: Zsolnay 2014. 335 Seiten. 17,90 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.
Der deutsche Titel trifft es
(AM) „Gone to Soldiers – Menschen im Krieg“ von Marge Piercy ist und war eines jener Wunder, mit denen ein kleiner Verlag all die Branchenriesen beschämt und uns Leser reich beschenkt. Welch eine Kraftanstrengung, welch eine verlegerische Vorbildtat war und ist jener tausend Seiten starke Meilenstein der Literatur vom Krieg, der 1995 im Argument Verlag erschien und nun gerade in der Argumente-Ariadne-Literaturbibliothek wieder aufgelegt wird.
Elf Jahre recherchierte und schrieb die 1936 in Detroit geborene Feministin und ehemalige SDS-Aktivistin an diesem Roman, las ungeheure Mengen an Primärliteratur gegen den Strich, durchforstete Memoiren, Biografien und Berichte von Regierungsmitgliedern, Angehörigen von Geheimdienst- und Spezialeinheiten (OSS und SOE), KZ-Überlebenden, amerikanischen Generalen und Möchtegerngeneralen, von Marineinfanterie und ihren Einsätzen, dem Krieg im Pazifik und an der Westfront, forschte über die Résistance, die Rassenunruhen in Detroit, die Dechiffrierdienste in Washington, auf Hawaii und in England, über wagemutige Pilotinnen und Frauen im Widerstand. Eigentlich sollte auch Russland eine Rolle spielen, angesichts der sich abzeichnenden Monumentalität ihres Werks entschied sich die Autorin letztlich dagegen. Seit 1962 mit einem Computerwissenschaftler verheiratet, setzte sie das noch neue Arbeitsmittel Computer ein und legte eine Datenbank an, die dann achtmal umfangreicher wurde als das Buch. Marge Piercy dazu: „Dieser Roman ist ein Werk der Phantasie, aber es war mein Bestreben, dass darin nichts geschieht, was zu der Zeit und an dem Ort nicht wirklich geschehen ist.“
So sind es keine Kunstfiguren, keine nur vage skizzierten Orte, Ereignisse und Konflikte, zu denen Marge Piercy uns in ihrem immer wieder atemberaubenden Panorama führt. Der Krieg aus der Sicht der Frauen – nein, der Menschen, wie der deutsche Titel zu Fug behauptet. Alltag und Sexualität, die kleinen und die großen Ängste und Hoffnungen, das ganze Humanum einer die Menschlichkeit bedrohenden Zeit haben Platz in diesem großen Buch. Ja, es hat viele Seiten (703 im 1987 erschienenen Original, 1000 in der Übersetzung von Heidi Zerning), aber so hat man noch nicht über Krieg und Widerstand gelesen.
Marge Piercy: Menschen im Krieg (Gone to Soldiers, 1987). Roman. Deutsch von Heidi Zerning. Hamburg Argumente-Ariadne-Literaturbibliothek, Argument Verlag 2014. 1000 Seiten.37,00 Euro. Leseprobe und Kritiken. Verlagsinfos zum Buch. Zur Homepage von Marge Piercy.