Geschrieben am 15. März 2017 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops – März 2017

bloody chops

Bloody Chops im März 2017

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Zerteilt und serviert von: Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW)

Über: Jerome Charyn, Daniel Cole, Steve Hamilton, Antonio Ortuño, Fabio Paretta, Thomas Schweres.

51UysDOrB4L._SX319_BO1,204,203,200_Ein Mammut-Werk auf 247 Seiten

(TW) Madrid, Mexiko von Antonio Ortuño ist ein Buch, das mit einem Mord anfängt und mit einem Mord aufhört und in dem die Gewalt nie aufzuhören scheint. Das liegt unter anderem an den Zeiten und Orten, in denen dieser kapitale Roman spielt. Seine Handlung mäandert von Madrid 1922 bis nach Guadalajara 2014. Der Spanische Bürgerkrieg ist zentral und die Erfahrungen, die die exilierten Spanier in ihrer neuen Heimat Mexiko machen. Und Mexiko selbst hat seine autochthonen Gewaltszenarien, die in diesem Fall weniger mit den Drogenkriegen zu tun haben, sondern mit der harschen Klassengesellschaft, mit Ausbeutung und Verarmung.

Auch Santo Domingo und das Frankreich des 2. Weltkriegs sind in Ortuños Roman wahrlich keine gewaltfreien Zonen. Recht eigentlich geht es um die Geschichte der Familie Almansa aus Madrid, die den Anarcho-Syndikalisten angehört und nach dem verlorenen Bürgerkrieg versucht, in Mexiko Fuß zu fassen. Von Widersachern verfolgt, denen sich die Almansas robust entledigen, gerät in der Gegenwart ein Nachfahre, Omar Almansa, in eine ganz eigene Mordgeschichte, die das Kontinuum von Gewalt auf einer privaten Ebenen fortschreibt, als ob es aus dieser Klammer von Blut- und Mordtaten keinen anderen Ausweg gebe, als diesen Weg auch zu gehen.

Ortuño erzählt eine Familiensaga, eine Exil-Geschichte, die immer wieder eine Kriminalgeschichte ist und eine Kriminalgeschichte, deren Wurzeln in jener Exilgeschichte stecken. Gespickt mit Dutzenden von Nebenstories, die allesamt je einen eigenen Abenteuer-Roman verdient hätten, wie zum Beispiel die vom Raub der Goldreserven der katalonischen Anarchisten, entsteht so ein Panorama der europäisch-mexikanischen Beziehungen, in dem Mexiko für einmal nicht als Emigrations-, sondern als Immigrationsland sichtbar wird.

In seinem Erstling, Die Verbrannten war Ortuños Erzählhaltung noch Wut und Empörung über die Behandlung zentralamerikanischer Migranten durch den Staat Mexiko, hier, im geschichtlichen Riesenpanorama, erzählt er cool, mit sarkastischen Kommentaren und angesichts der Fülle der Handlungsebenen bewundernswert ökonomisch und glasklar. Seine spanisch-mexikanischen Wurzeln und seine Thematik gleichen denen seines Kollegen Paco Ignacio Taibo II, aber wo Taibo barock ausschweift und die jeweiligen populären Mythen in seine Erzählungen miteinbezieht, konzentriert sich Ortuño streng auf seine Storys.

Glasklar, auf den Punkt, konzentriert, auf die Realien reduziert. Eine Art neue „Neue Sachlichkeit“ (unterstrichen von dem wunderbaren Cover) und ganz klar ein großer Roman.

Antonio Ortuño: Madrid, Mexiko. Roman. Aus dem mexikanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein. Verlag Antje Kunstmann, München 2017. 224 S., 20,00 Euro.

charyn 29633908Annäherung an einen rätselhaften Autor

(AM) Er ist der Autor von mehr als 50 Büchern, er hat unter anderem Emily Dickinson, Abraham Lincoln, Isaac Babel, George Washington und Joe DiMaggio schon seine Stimme gegeben. Es ist nicht das erste Buch, in dem er sich einer Person der Zeitgeschichte in seiner Triangulations- und Mosaiktechnik mit realen und imaginierten Stimmen annähert – auch wenn wir ihn hierzulande vor allem als Autor von Kriminalliteratur kennen (siehe CrimeMag-Texte hier, hier und hier).

Jetzt hat Jerome Charyn sich Jerzy Nikodem Kosiński vorgenommen, den US-amerikanischen Schriftsteller polnisch-jüdischer Herkunft, der 1965 mit Der bemalte Vogel (The Painted Bird) weltberühmt wurde, einem der eindringlichsten Kriegsbücher, das von einem Jungen handelte, der während des Krieges durch Polen irrt und sich versteckt hält. Dann war da der Roman Willkommen Mr. Chance (Being There, 1971, dt. 1978), verfilmt mit seinem Freund, dem Schauspieler Peter Sellers, als tumbem Gärtner, der zum Ratgeber des amerikanischen Präsidenten wird. (Warum nur muss ich in diesen Wochen immer wieder daran denken, doch diese Fabel wieder zu lesen?)

charyn A-LOADED-GUN-by-Jerome-Charyn-9781934137987Charyn zeichnet uns in Jerzy – einem Buch, das er viele Jahre machen wollte – den hoch widersprüchlichen und enigmatischen Kosinski (1933-1991), indem er dessen Lebensgeschichte vom Ende her in fünf Kapiteln aufrollt und als Erzähler eine Domina, einen mordlustigen Schauspieler, den Chauffeur von Peter Sellers, Kosinski selbst und die Tochter Josef Stalins auftreten lässt, die in Princeton dessen (reale) Nachbarin war. Die seltsame Ehe mit einer alkohol- und sexsüchtigen Millionärstochter ist ebenso Thema wie die heimliche Suche nach einem Lektor und die Schatten von Plagiatsvorwürfen. Einfache Antworten gibt es nicht. Für Charyn ist Kosinski vor allem ein Überlebender des Holocaust, „ein Geist“ und „ein Schatten im Schatten eines Schattens“.

Bevor man über ihn richte als rücksichtlosen Aufsteiger, sexuellen Freigeist oder pathologischen Lügner „sollten wir doch selbst durch den Holocaust leben und dann sehen, ob wir noch authentisch sind oder ein Geist“, sagt Charyn. Sein nächstes Objekt, schon in Arbeit, ist Teddy Roosevelt, der „Cowboy King“. Ich mochte auch Charyns beide Bücher über Emily Dickinson (The Secret Life of E.D. und A Loaded Gun).

Jerome Charyn: Jerzy. Bellevue Literary Press, New York 2017. Trade Paper, 238 pages, US $16.99.

Die Kraft des Boesen von Fabio ParettaNeapel sehen und …

(TW) 1925 gingen Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno zusammen auf eine Italienreise. Eine Station war Neapel und der dort vorherrschende Tuffstein, den die beiden Masterminds bewunderten, bescherte der auch heute noch avancierten philosophisch-soziologischen Theoriebildung den Begriff der „Porosität“. Es ist ein netter ironischer Reflex, wenn Fabio Paretta in seinem Erstling Die Kraft des Bösen seinen Helden, den Commissario Franco de Santis in Neapel beinahe im porösen, tuffsteinigen Untergrund der Stadt krepieren lässt. Paretta ist übrigens das Pseudonym eines deutschen Autors, der mit diesem Buch eine neapolitanische Serie startet.

Bei aller Skepsis gegenüber solchen Konstruktionen (man denke mit Schaudern an Herrn Bannalec und seine Fake-Bretagne) – hier geht es gut: Man merkt, dass der Autor sein Neapel wirklich gut kennt und mag. Deswegen vermeidet er auch alle üblichen Camorra-Klischees, alle schaurigen Höllenvisionen, die die medialen Narrative der Stadt am Golf prägen, ohne sie jedoch zur Idylle auszurufen. »Die Kraft des Bösen« ist ein erfreulich solider, gut gemachter Kriminalroman um den Tod eines Priesters, der in einer ausgefuchst theologischen Begründung für Mord und Totschlag endet.

Bevölkert von plausiblen Figuren, mit wunderbaren Schilderungen des oft problematischen Stadtlebens, gespickt mit realen Sauereien des italienischen „Systems“ und vor allem mit einem sehr wachen Blick für Nuancen und Differenzierungen. Man kann, vor allem auch weil das Buch glücklicherweise nicht vor literarischer Ambitionitis bebt, das Ganze für leicht altmodisch halten, aber das ist egal: Es ist einfach ein sehr guter Kriminalroman.

Fabio Paretta: Die Kraft des Bösen. Kriminalroman. Penguin Verlag, München 2017. 412 S., 10,00 Euro.

51ua8Iw5lkL._SX329_BO1,204,203,200_Much ado …

(TW) Zumindest interessant ist, wie viele gute Ideen, gute Figuren und gute Einfälle man verballern kann, wenn man die x-te „Irre-Serial-Killer“ erzählen möchte, aber im Grunde eine riesige Albernheit zum Roman aufplustert. So geschehen bei Ragdoll von Daniel Cole. Die wirre Mär vom Rächer, der aus Gründen, die wir hier nicht erörtern wollen, verschiedene Leichenteile verschiedener Leute zu einer Art Gesamtleiche zusammen tackert, Bürgermeister entflammt und andere Gräueltaten am Fließband begeht, ist dramaturgisch blendend gemacht. Spannend gar. Polizei-Arbeit im Irrsinnsmodus, nette Medienschelte, böse Aperçus zu homo sapiens, der alten Schweinebacken, alles fein. Aber eben auch sowas von an den Haaren herbeigeschleift und albern. Wird sicher als Mini-Serie ein großer Erfolg.

Daniel Cole: Ragdoll – Dein letzter Tag. Thriller. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 480 Seiten, 14.99 Euro.

51qypmhfeYL._SX319_BO1,204,203,200_Cool und sentimental zugleich

(JF) Als er mit dreißig beschließt, mit ehrlicher Arbeit sein Geld zu verdienen, hat Nick Mason eine beachtliche Karriere als Berufsverbrecher hinter sich. Zusammen mit seinen Kumpeln aus Canaryville, einem Arbeitsviertel im Süden Chicagos, hat er Autos geklaut, Drogendealer ausgenommen und Einbrüche begangen. Erwischt worden ist er nie. Doch der Traum vom soliden Leben mit Frau und Kind währt nicht lange. Es ist die alte Geschichte. Wie immer soll ein letzter Coup das große Geld bringen: „Eine halbe Million Dollar für einen Tag Arbeit“, sagt sein Freund Finn. Und wie immer geht die Sache gehörig schief. Finn ist tot, ebenso ein Polizist, die beiden anderen Beteiligten entkommen. Nick landet im Knast. 25 Jahre soll er absitzen für einen Mord, den er nicht begangen hat. Doch er sagt nichts.

Fünf Jahre später ist Nick Mason wieder draußen, wo ein Luxusleben auf ihn wartet. Das verdankt er Darius Cole, der vom Gefängnis aus ein ganzes Verbrechensimperium kontrolliert und nicht aus Uneigennützigkeit handelt. Mason soll sein Mann fürs Grobe werden, Auftragsmord inclusive.

Der amerikanische Schriftsteller Steve Hamilton hat für diesen Auftaktband zu einer neuen Serie bekannte Handlungsmuster des Gangsterromans neu arrangiert. Natürlich ist Mason kein kaltblütiger Killer, auch wenn er als solcher handeln muss, sondern eigentlich ein guter Kerl. Was man von seinen Opfern, es handelt sich um Gangster und korrupte Polizisten, nicht unbedingt sagen kann. Außerdem ist der Kampf gegen das organisierte Verbrechen schon längst verloren, auch wenn die Zeitungen eine andere Geschichte erzählen. Nick Mason muss sich arrangieren.

„Das zweite Leben des Nick Mason“ ist ein routiniert erzähltes Stück Spannungsliteratur, cool und sentimental zugleich. Das zeugt von Traditionsbewusstsein, aber nicht von Risikofreude. Doch das kann sich ja noch ändern. Steve Hamilton hat in einem Interview mit der „Huffington Post“ erzählt, dass er es kaum abwarten könne, herauszufinden, wie die Serie weitergeht. So schlimm steht es um uns nicht, aber gespannt sind wir auch.

Steve Hamilton: Das zweite Leben des Nick Mason (The Second Life of Nick Mason, 2015). Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling. Droemer Verlag, München 2017. 335 Seiten, 14,99 Euro.

51XgkdMs0nL._SX301_BO1,204,203,200_Alles „komplett ausgedacht“, aber wie

(JF) Klaus-Werner Lippermann ist 42 Jahre alt und wohnt noch bei Muttern. Seine Arbeit als Buchhalter im Rechnungswesen von Thyssen-Krupp verrichtet er zuverlässig und gewissenhaft. Die Freizeit verbringt der Junggeselle am liebsten in der Kleingartenanlage Emscherglück. Dort nämlich sind seine Stallhasen Whitey und Molly zuhause. Gerne würde er ihnen noch mehr Zeit widmen, doch leider führt sein Weg ins Büro über die meistbefahrenen Autobahnen des Ruhrgebiets. „Vom 2. Juli 2012 bis zum 6. Juni 2016“, weiß der Buchhalter, hat er „352 Stunden im Stau gestanden.“ 209 davon „völlig sinn- und eigentlich grundlos“. Das sind „acht komplette Tage und neun volle Stunden“ auf der A40. Lippermann ist ein guter Rechner. Und eine tickende Zeitbombe. Es braucht nur den richtigen Auslöser.

Der lässt nicht lange auf sich warten. Als der Tierliebhaber eines Tages die grausam zugerichteten Leichen seiner Kaninchen im Kleingarten findet, ist es soweit. Sich an dem vermutlich psychisch derangierten Tierquäler, der Whitey und Molly die Kehlen durchtrennt hat, zu rächen, scheint unmöglich. Also muss derjenige dran glauben, dessen berufliche Unfähigkeit dafür verantwortlich ist, dass Lippermann ganze Tage, die er mit den Kaninchen hätte verbringen können, auf der A40 festsaß. Und das ist Dr. Rainer Weissfeldt, Chef von Straßen.NRW, der für die Autobahnen zuständigen Landesbehörde.

So wird ein harmloser Buchhalter zum Verbrecher, sogar zu einem, dessen Tat zwei Menschen das Leben kosten wird. Gemeinsam mit seinem Komplizen, dem Frührentner Alfred „Freddy“ Kruppel, entführt der traumatisierte Amateurkriminelle den Behördenleiter und sperrt ihn in einen Kaninchenstall. Heraus darf er nur, um gemeinsam mit Lippermann täglich von Dortmund nach Duisburg und zurück zu fahren. Damit er am eigenen Leibe erfährt, so die Idee, was seine Behörde alles anrichtet.

Diese didaktisch motivierten Touren gehören zu den lehrreichen Kapiteln in Thomas Schweres Krimisatire „Die Abbieger“. Wir erfahren, warum auf manchen Baustellen wochenlang nicht gearbeitet wird, erhalten detaillierte Informationen über unsinnige „Betongleitwände“ und bekommen bestätigt, was wir schon immer über plötzlich auftauchende Tempo 80-Schilder auf weitgehend gerader Strecke geahnt haben. Das macht Freude. Erschöpft ist die Handlung dieser ruhrpöttischen Kohlhaas-Variante damit aber noch lange nicht. Der wortgewandte Schweres ist ein großer Freund des mehrfädigen Plots. Wir lesen von den seltsamen Energiegewinnungsmethoden der Betreiber einer Cannabisplantage, staunen über einen Zufallsmord im Treppenhaus und erleben die aufreibende Arbeit fleißiger Sensationsreporter mit. Letztere kennen wir, wie auch das Polizeipersonal, bereits aus den vorhergehenden Romanen des hauptberuflichen Journalisten.

Schweres weiß also, wovon er schreibt, auch wenn er in der Nachbemerkung betont, sich alles „komplett ausgedacht“ zu haben. So gehört sich das auch. Trotzdem werden wir, wenn wir das nächste Mal Stoßstange an Stoßstange auf der A 40 verweilen, an Klaus-Werner Lippermann denken, den Gründer des leider fiktiven TuS-V: Tierfreunde und Staugegner – Vereinigt.

Thomas Schweres: Die Abbieger. Kriminalroman. Grafit, Dortmund 2017. 285 Seiten, 11,00 Euro.

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